Ein Bebauungsplan für die Gesundheitsstadt Berlin
http://doi.org/10.24945/MVF.06.19.1866-0533.2189
>> Das „Regionalforum Demographie und Versorgung Berlin – Brandenburg“ wurde vor mehr als sieben Jahren gegründet, um für die besondere Versorgungssituation – einerseits die der Hauptstadt, andererseits die des Umlands von Brandenburg – zum einen Denkansätze zu liefern, zum anderen Gesprächs-
brücken zu bauen, um langfristig zu einer besseren Verteilung von Versorgungsangeboten und Versorgungsbedarfen zu kommen. Ziel ist es dabei auch, unkonventionelle Konzepte vorzustellen oder zu entwickeln, mit denen möglicherweise auf selektivvertraglicher Basis und auch über die bestehenden Grenzen hinweg Versorgungskapazitäten aus Berlin für die Patientenbetreuung in Brandenburg herangezogen werden können.
Oder, wie beim letzten Forum Anfang November (sowie beim BMC-Hintergrundgespräch „Herausforderungen & Trends in der Krankenhausversorgung“ Ende November), auf den Endbericht der Zukunftskommission „Gesundheitsstadt Berlin 2030“ einzugehen. Dieser kann als eine Art Bebauungsplan für die in Berlin (wie in anderen Städten auch) bisher historisch und damit eher unkoordiniert gewachsenen Strukturen im Bereich Ge-
sundheitsversorgung und medizinischer Forschung verstanden werden.
Zu diesem hoch komplexen, weil sowohl politik- als auch versorgungsnah angesiedeltem Thema, referierte Staatssekretär a.D. Boris Velter, Leiter der Geschäftsstelle „Gesundheitsstadt Berlin 2030“.
Bei der Einsetzung von Velter hatte Müller in seiner Doppelfunktion als Regierender Bürgermeister von Berlin und Senator für Wissenschaft und Forschung erklärt: „Mit der Einrichtung der Geschäftsstelle erfolgt der nächste wichtige Schritt zur Umsetzung der Vorschläge, die uns die Zukunftskommission für die Weiterentwicklung Berlins als Gesundheitsstadt in ihrem Abschlussbericht vorgelegt hat.“ Darin hätten die Sachverständigen auch empfohlen, eine kompetente Person mit der Begleitung des anstehenden Prozesses zu betrauen. Müller weiter: „Mit Boris Velter konnte nun für diese Aufgabe ein ausgewiesener Gesundheitsexperte gewonnen werden, der über die notwendige langjährige Erfahrung verfügt, bundesweit vernetzt ist und den Gesundheitssektor in Berlin bestens kennt.“ Jetzt werde es darum gehen, die Empfehlungen der Kommission in einen abgestimmten Maßnahmenplan zu überführen und diesen konsequent umzusetzen.
Was alles andere als leicht ist, wenn man die gesundheitspolitischen Strukturen Berlins
samt ihren über Jahre gewachsenen Befindlichkeiten etwas näher kennt. Zudem ist es ein durchaus herausforderndes Aufgabenspektrum, das der Endbericht der Zukunftskommission vorgibt.
Vorschlag 1: Bessere Kooperation
Zu allererst regen die Experten der Kommission eine engere Kooperation der beiden großen Berliner Klinikkonzerne mit zusammen fast 10.000 Betten und über 34.000 Mitarbeitern an (16.700 bei Vivantes, 17.500 bei der Charité). Dafür sollte die Errichtung einer kooperativen Struktur als Dachgesellschaft als hundertprozentige Tochtergesellschaft des Landes Berlins geprüft werden.
Als wäre das nicht schon eine Mammut-aufgabe, kommt noch eine weitere, seit
Jahren gewachsene Struktur dazu: die des Deutschen Herzzentrums Berlin (DHZB) mit seinen noch einmal rund 1.300 Mitarbeitern.Wobei sich bereits im Januar 2018 Charité und DHZB darauf verständigt hatten, ihre jeweiligen Herz-Kreislaufeinrichtungen zu einer neuen wissenschaftlichen, klinischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Einheit – dem Universitären Herzzentrum Berlin (UHZB) – zu fusionieren. „Ich freue mich, dass wir die Verhandlungen über die Etablierung des Universitären Herzzentrums zu
einem erfolgreichen Abschluss bringen konnten“, hatte Müller Anfang letzten Jahres anlässlich der Bekanntgabe des Verhandlungsergebnisses erklärt. Im November 2019, damit annähernd fast zwei Jahre später, hat der Bundestag beschlossen, 100 zu den 390 Millionen Euro für den Bau des UHZB-Gebäudes beizusteuern. Doch wurde der Start des Vorhabens auf 2021 vertagt.
Auf diesen Umstand konnte der bereits im März vorgelegte Ergebnisbericht der Zukunftskommission „Gesundheitsstadt Berlin 2030“ naturgemäß nicht eingehen, erklärte aber: „Die Präsentation der Verantwortlichen vor der Kommission zeigte die Bedeutung des DHZB in der klinischen Versorgung. Es wurde insbesondere Wert auf die fortgeschrittene Kooperation zwischen Charité und DHZB gelegt, die durch einen kompletten Neubau eines Herzzentrums infrastrukturell unterlegt werden soll.“ Doch sollte nach Meinung der Experten in die bereits angedachte engere Kooperation
zwischen DHZB und Charité im Rahmen des UHZB mittelfristig auch Vivantes eingebunden werden. Damit würde es nach Meinung der Kommission gelingen, „eine Institution in einem wesentlichen Zukunftsfeld stationärer Medizin zu schaffen, die international wettbewerbsfähig ist“. Ausdrücklich begrüßt wird von der Kommission dabei auch die Tatsache, dass neben der gemeinsamen Governance auch
eine ambitionierte Neubaumaßnahme für das Herzzentrum geplant ist, die zu einem Aushängeschild für die nationale Herzmedizin führen würde. Die Kombination von organi-
satorischer Reorganisation mit baulicher Ent-
wicklungsplanung könnte nach Ansicht der Kommissionsexperten beispielgebend für die zukünftige Entwicklung sein. Doch, wir sind in Berlin: Der Neubau im Campus Virchow Klinikum befindet sich immer noch eher im Planungs- denn Fertigstellungsstadium.
Vorschlag 2: Translationale
Forschungsstruktur
Das ist jedoch beileibe nicht die einzige Baustelle, die Berlin im Gesundheitsbereich hat. Ebenso wäre nach Ansicht der Kommission die Rolle des Berlin Institute of Health (BIH) beziehungsweise – auf deutsch – des Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIG) zu klären. Zwar werde die Etablierung des BIH/BIG – gegründet von der Charité und dem Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) in der Helmholtz-Gemeinschaft – als Exzellenzsäule innerhalb der Charité von der Kommission begrüßt, doch solle der inhaltliche Fokus „auf translationaler Forschung liegen und weitere Kooperationen und Partnerschaften gewährleisten“.
Inhaltlich, wird angeregt, sollte die translationale Forschung vorangetrieben werden – zum einen basierend auf aktuellen Forschungsergebnissen, zum anderen und unter Zuhilfenahme der Möglichkeiten der Charité. Die Kommission schreibt dazu: „Falls diese Verwaltungsvereinbarung vom Land Berlin und dem Bund unterzeichnet würde, wäre zum ersten Mal mit Mitteln der Bundesrepublik die Translation von Forschungsergebnissen in die klinische Praxis strukturell in einer deutschen Universitätsmedizin etabliert.“
Das MDC mit seinen wiederum 1.660 Mitarbeitern ist eine Forschungseinrichtung der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren und wird damit gemeinsam durch den Bund und das Land Berlin finanziert. Auf dem Campus Berlin-Buch angesiedelt, erforscht das MDC insbesondere die molekularen Grundlagen von Gesundheit und Krankheit, um Prävention, Diagnostik und Therapie zu verbessern. Weil sich nun das BIH/BIG der Systemmedizin für bessere Vorhersagen und neue Therapien widmet, sieht die Kommission die – durch eine auch hier engere Kooperation – noch auszubauende Möglichkeit, Ergebnisse aus den Labors des MDC in die Krankenversorgung zu übertragen.
Vorschlag 3: Infrastruktur für den internationalen Wettbewerb
Als die wesentliche Herausforderung der kommenden Jahre bezeichnet die Expertenkommission jenseits aller noch aufzubauen-
den Kooperationsstrukturen den in den kommenden Jahren intensiver werdenden Wettbewerb in der Biomedizin. In dem Bereich ist laut Kommissionsbericht bereits das Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie und auch die Charité aktiv. Nach Meinung des Expertenrats werde sich der Wettbewerb insbesondere um die Rekrutierung exzellenter Wissenschaftler drehen. Um in diesem Bereich erfolgreich zu sein, sei es unabdingbar, eine international kompetitive Infrastruktur anzubieten. Zu dieser Infrastruktur zählten neben Gebäuden auch Geräte und technische Ausstattung sowie eine leistungsfähige Informationstechnologie, welche die Verarbeitung großer Datenmengen erlaubt.
Im Bereich der Biomedizin werde dabei insbesondere die Translation von Ergebnissen der Grundlagenforschung in die klinische Anwendung eine ganz wesentliche Rolle spielen. Um diesen Prozess bewerkstelligen zu können, sind nach Ansicht der Experten entsprechende Strukturen unabdingbar. Auch hier empfiehlt die Kommission eine enge Kooperation zwischen allen beteiligten Partnern. Dabei sei es aber nicht problematisch, dass die einzelnen Partner einer solchen Gemeinschaft jeweils individuelle Forschungsschwerpunkte hätten, doch sollte es eine gemeinsame Forschungsstrategie geben. So schreibt die Kommission in ihrem Bericht: „Um aus der gemeinsamen Forschungsstrategie verbesserte medizinische Ansätze ableiten zu können, ist es wichtig, dass etwa die Charité ihre Forschungsstrategie weiterentwickelt, indem diese über eine Definition der Aktivitätsfelder hinausgeht und sich damit beschäftigt, wie Synergien geschaffen und genutzt werden können und wie für die ins Auge gefassten Forschungsrichtungen eine entsprechende In-
frastruktur gewährleistet werden kann.“ Dies solle auch für Einrichtungen wie etwa Vivantes gelten, damit Forschungsaktivitäten verknüpft und Überlegungen im Bereich der Versorgungsforschung oder über die Einbindung in klinische Studien angestellt werden können.
Auch wäre zu empfehlen, dass mit den übrigen Forschungseinrichtungen an Universitäten und außer-universitären Einrichtungen „in stärkerem Maße als bisher eine langfristige strategische Forschungskooperation“ ver-
einbart werde. So würde, ohne die Freiheit der individuellen Forschung einzuschränken, auf diesem Weg die „unbedingt notwendige Infrastruktur gewährleistet, die keine einzelne Institution ihren Forschern zur Verfügung stellen kann“.
Die Expertenkommission geht jedoch noch
einen Schritt weiter, in dem sie dazu rät,
dass es doch möglich sein sollte, im Großraum Berlin fundamentale Probleme der
Biomedizin in einer engen Kooperation verschiedener Partner angehen zu können. Dabei würden inhaltlich „Biomedical Hotspots“ entstehen, die sich nach Meinung der Experten schwerpunktmäßig mit bestimmten Krankheitsbildern beschäftigen und dabei die „einmalige Forschungslandschaft in Berlin gezielt nutzen“ könnten. Durch die Definition
solcher „Biomedical Hotspots“ und einer strategischen Zusammenarbeit der öffentlichen Institutionen der stationären Versorgung sollte es zudem möglich sein, die in Berlin im Bereich der Biomedizin immer stärker vertretene Industrie zu integrieren.
Als Zielvorstellung formuliert die Exper-tenkommission eine Vision, die gleichzeitig Velters Maxime und Handlungsbeschreibung ist: „Ziel muss sein, dass der Standort Charité und Vivantes zu den 30 er-
folgreichsten medizinischen Hochschulen
der Welt aufschließt.“ Das ist ehrgeizig formu-
liert, wenn man bedenkt, dass derzeit kein einziger deutscher Hochschulstandort unter den Top 30 zu finden ist. Doch habe Berlin bei „ausreichender Kooperation und Investition“ das Potenzial, diese Lücke zu schließen. <<
von:
MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier
Der Hintergrund zu Boris Velter
Boris Velter ist seit über 25 Jahren in gesundheitspolitischen Bereichen beschäftigt und hat als Chef von „Gesundheitsstadt Berlin 2030“ weder eine leichte Aufgabe, noch eine einfache Stellung. Das liegt darin begründet, dass der SPD-Politiker und Staatssekretär Ende 2018 ohne Angaben von Gründen in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden war. Dem Vernehmen nach, so ein Bericht auf aerzteblatt.de, hätte es inhaltlichen Dissens mit Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) gegeben. Im August dieses Jahres hat der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) jedoch Velter – zu diesem Zeitpunkt Staatssekretär a.D. – zum Gründungs-Leiter der eingesetzten Geschäftsstelle „Gesundheitsstadt Berlin 2030“ gemacht, die auch zu diesem Zeitpunkt ihre Arbeit aufgenommen hat. Die Geschäftsstelle, auf Wunsch von Müller gemeinsam von der Charité und Vivantes eingerichtet und finanziert, soll die Umsetzung der Empfehlungen der Zukunftskommission unterstützen, den Umsetzungsprozess begleiten und zudem eine Scharnierfunktion zum Berliner Senat erfüllen. Damit hat Velter vor allem mit zwei wichtigen Geschäftsbereichen des Berliner Senats zu tun: zum einen mit dem Haus von Gesundheitssenatorin Kalayci, zum anderen mit dem Senat für Wissenschaft und Forschung, praktischerweise in Personalunion von Müller geleitet.
Zitationshinweis:
Stegmaier, P.: „Ein Bebauungsplan für die Gesundheitsstadt Berlin“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (06/19), S. 40-41, doi: 10.24945/MVF.06.19.1866-0533.2189