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Vom Einzelwert zur Therapie-Managementkultur

24.02.2012 17:55
Dass die Therapie von Diabetes eine der schwierigsten aller Erkankungen ist, ist seit langem bekannt. Das liegt zum einen daran, dass der von Diabetes betroffene Mensch sehr lange Zeit nichts spürt, was sich nicht unbedingt positiv auf die Compliance auswirkt. Dabei gilt bei Diabetes wie bei vielen anderen Indikationen: Je früher die Erkrankung diagnostiziert wird, je eher eine adäquate Therapie – einhergehend mit Lebensstiländerungen - einsetzt, desto höher sind die Erfolgschancen, ein möglichst langes beschwerdefreies Leben zu führen. Dazu braucht es zum einen die Einsicht, den Lebensstil zu ändern, zum zweiten eine adäquate Medikation und drittens die Möglichkeit, überhaupt sowohl frühzeitig, als auch schnell und zeitnah Einfluss nehmen zu können. Die bietet einzig und allein die Blutzuckerselbstkontrolle, mit deren Ergebnissen ein Diabetiker seinen Diabetes steuern kann. Dieses individuelle Selbstmanagement muss jedoch ergänzt werden durch ein sektorenübergreifendes Diabetes Management, wie es im Fokus des „Diabetes Mediendialogs“ stand, den einmal mehr das Unternehmen Roche Diagnostics veranstaltet hat, das sich selbst auf den Weg von einem Diagnostic-Anbieter zum Diabetesmanagement-Provider begeben hat.

>> Die seit 1965 mögliche Blutzuckerselbstbestimmung gilt einerseits nicht nur als der wichtigste Meilenstein in der Diabetes-Therapie, sondern ist andererseits auch Grundlage der modernen Therapiestrategien und auch Disease-Management-Programme für Diabetes. Sie ist aber andererseits seit 2009 mit einem negativen Abschlussbericht des IQWiG zu Harn- und Blutzuckermessstreifen und einem im März 2011 ebenso negativen Beschluss des G-BA behaftet, der einen seit 1. Oktober 2011 mit der Veröffentlichung im Bundesanzeiger aktiven Erstattungsausschluss nach sich zog.
Dass es in der Medizin nichts ungewöhnliches ist, wenn Innovationen von der Erfindung bis zur Anerkennung einen langen Weg gehen müssen, beschrieb Prof. Dr. Florian Steger, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin in Halle, an den Beispielen der Anatomiegeschichte des 16. Jahrhunderts, der Bakteriologiehistorie der zweiten Hälfte des 19. bzw. ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie der Prionhypothese eines nukleinsäurefreien infektiösen Agens aus dem Jahre 1982 und der Entdeckung des Helicobacter pylori als Ursache des gastroduo-denalen Ulcus durch Marshall und Warren im Jahre 1983.
Obwohl diese Beispiele nun überhaupt nichts mit Diabetes zu tun haben, zeigen sie nach Steger indes medizinhistorisch sehr prägnant auf, warum auch gehaltvolle und innovative Ideen lange, mit zahlreichen Irrungen und Wirrungen versehene Wege von der Idee bis zur Umsetzung in die Praxis vor sich haben. Seine rhetorische Frage, ob „das Selbstbild der immer innovationsfreudigen, dem wissenschaftlichen Fortschritt verpflichteten und streng objektiven Medizin - besonders der praktizierten Medizin - der medizinhistorischen Realität standhalten“ kann, beantwortet Steger ziemlich eindeutig mit zwei Statements: „Fortschritt hat es bei der Umsetzung in die medizinische Praxis schwer“ und „Innovation und Qualität von Ideen sind keine Garanten für eine rasche Umsetzung in der medizinischen Handlungspraxis“. Steger weiter: „Alle vier Beispiele können zeigen, wie schwierig es gute, richtige und später zum Teil als außerordentlich wegweisend erachtete Ideen auf dem Weg zur Umsetzung in der Praxis hatten. Insofern kann die These, Fortschritt habe es in der Medizin leicht, vor allem dann, wenn innovative Ideen in der praktizierten Medizin zur Anwendung gebracht werden sollen, nicht aufrechterhalten werden.“ Innovation habe es vielmehr recht schwer, wenn innovative Ideen in der Medizin zur Anwendung kommen sollen - unabhängig von Qualität und Innovationskraft einer Idee.
Welche Innovationshemmnisse sind es nun, die der Umsetzung eines auf vom Patienten generierten Daten basierenden Dia-betes Managements entgegenstehen? Das sind sicher die in den Beispielen Stegers formulierten mentalen Beharrungsvermögen von Autoritäten und Strukturen. Das ist aber auch die Art und Weise, welche Erfahrungen und Anwendungen in der Praxis Anklang finden und welche nicht. „Hier haben wir eine Möglichkeit, Innovationen zu fördern oder zu bremsen“, führte Moderator Prof. Dr. Oliver Schnell, Geschäftsführender Vorstand der Forschergruppe Diabetes am Helmholtz-Zentrum München, in der anschließenden Diskussion aus. Seine Meinung: „Innovationen kommen häufig aus der Praxis.“
Eine solcher Innovationsschritt ist das Dia-betes Management. Es ist entstanden aus der Erkenntnis, dass einerseits die Therapieziele von Diabetespatienten immer noch zu selten erreicht werden und die alleinige Fokussierung auf neue Behandlungsoptionen und den HbA1c-Wert nur selten zum gewünschten Erfolg führt, wie Schnell in seinem Vortrag zum Diabetes Management erklärte, dem er die Unterzeile „elektronische Spielerei oder ganz neue Prozesskultur“ verlieh. Seine feste Überzeugung: „Die individuelle Bandbreite der Glukoseprofile bei Diabetespatienten offenbart sich erst durch die Blutzuckerselbstkontrolle.“ Sie decke auch auf, was - Stichwort glykämische Variabilität - durch den HbA1c nicht sichtbar werde: Hypoglykämien und postprandiale Blutglukoseexkursionen.
Studien wie „INCA“, „STeP“, „DECIDE“ (s. MVF 03/11) oder die neue „ROSSO-in-Praxi“ verdeutlichten, wie ein innovatives Management von Blutglukosewerten das Outcome von Diabetespatienten verbessern kann. Aber nicht nur therapeutische Parameter wie HbA1c und Körpergewicht würden laut Schnell signifikant verbessert. Es steige auch die Lebensqualität nachhaltig an; ein Faktor, der ebenso wie allgemeines Wohlbefinden im Ausland eine weitaus größerer Rolle spiele als hierzulande.
All diese Studien zeigen nach Worten Schnells, wie strukturierter Einsatz der Blutglukoseselbstmessung inklusive Visualisierung, Präsentation und Trendanalyse der Ergebnisse den Weg für ein optimiertes Diabetes Management bereiten. Die Studien seien aber auch Beispiel und Motor für Schrittinnovationen, die den erfolgreichen Einsatz einer elektronisch basierten Diabetes-Management-Software ermöglichen. Doch die könnte nur dann, wenn sie gut in Schulungs- und Teamstrukturen der Diabetesbetreuung eingebettet sei, ihr Potenzial voll entfalten. Wenn dies aber gelänge, sei die Basis für eine erfolgreiche Weiterentwicklung des Diabetes Managements „auf dem Weg zu einer personalisierten Medizin in großer Effizienz und bei hoher Zufriedenheit der Patienten“ geschaffen. Schnells Conclusio: „Diabetes Management lässt sich somit auffassen als Beispiel einer neuen Prozesskultur, die deutlich über rein elektronische Lösungen hinausreicht.“

Vorteile eines IT-gestützten Diabetes-Datenmanagements
Dass Diabetes Management aber auch eine ganz elementare elektronische Lösung darstellt, beschrieb Dr. Wolfgang Hauth, niedergelassener Arzt in einer Diabetologischen Schwerpunktpraxis in Alzey, in seinem Vortrag „Diabetesdatenmanagement und Prozesse - Anforderungen an ein Informations- und Wissensmanagement in einer Praxis“. Seiner Erfahrung nach könne die medizinische Versorgung von Menschen mit Diabetes als einer sehr heterogenen Patientengruppe mit ihren höchst unterschiedlichen Diabetesproblemen nur erfolgreich sein, wenn die Expertise zahlreicher Professionen in einem einrichtungsübergreifenden Behandlungspfad organisiert  sei. Doch ebenso müsste gewährleistet sein, dass entlang des Behandlungspfades die relevanten Informationen über den Patienten auch zeitgleich mit dem Patienten am Ort des Geschehens seien, wozu nach Hauth einrichtungsintern einige Herausforderungen bewältigt werden müssten.
Dazu gehörten eine einrichtungsinterne Prozesslandschaft, aber ebenso die Entwicklung von Kooperationen sowie die Steuerung von Informationen und die gemeinsame Wissensentwicklung. Hauths Plädoyer für eine durchgängige IT-Infrastruktur: „Im täglichen Ablauf brauchen Ärzte und Diabetesberaterinnen in einer Praxis Unterstützungsinstrumente, um die auf sie einprasselnde Flut an Informationen richtig zu kanalisieren und zu verwenden.“
Ein wichtiger Teil ist für Hauth das elektronische Diabetes-Datenmanagement, das seiner Ansicht nach mit dafür sorgt, eine valide Datenbasis für die therapeutischen Entscheidungen in der Beratung von Menschen mit Diabetes zu bekommen. Es beschleunige die Aufbereitung der Daten, schaffe die Zeitressourcen, um sich mit dem Patienten zu beschäftigen, erhöhe aber auch edukativ die Bedeutung der Stoffwechselkontrolle. Darum hat er in seiner Praxis einen festen Prozess beschrieben, wie Diabetesdaten aufzubereiten sind, welche Funktionen die Diabetesberaterinnen haben, wann welche Daten erhoben und wann dem behandelnden Arzt vorzulegen sind.
Ein mikroskopisch kleines Beispiel dieser Prozesskette beginnt bereits dann, wenn ein Patient, die Praxis betritt:
1. Das Tagebuch wird entgegengenommen
2. Das Blutzuckermessgerät wird inspiziert (z.B. Sauberkeit)
3. Ggf. wird eine Gerätekontrolle vorgenommen
4. Die gepeicherten Daten werden ausgelesen
5. Die Daten werden bewertet
6. Ein Korrekturvorschlag wird in die elektronische Patientenakte (EPA) eingetragen
7. Ggf. wird ein Beratungstermin vereinbart

Schon dieser erste Schritt-Prozess führt nach Hauth nicht nur zu einer besseren Datenqualität, sondern auch zu einer Zeitersparnis, weil die Daten, die eine schnelle Übersicht über die Stoffwechselqualität garantieren, nicht mehr händisch übertragen werden müssen. Doch ebenso würden die Blutzuckermessgeräte, die durch den Prozess zwingend mitgebracht würden, durch den Patienten auch besser gepflegt.
Alles in allem stellt für Hauth ein IT-gestütztes Diabetes-Datenmanagement einen „kritischen Erfolgsfaktor“ dar, der sich vor allem in folgenden Punkten manifestiert:
• Information und Wissen (Strategie)
• Prozessorientierung (Effektivität)
• Ressourcenorientierung (Effizienz)
• Qualität der Teamarbeit (shared view)
• Berufszufriedenheit

Das, was in der Diabetes am Anfang steht,  ist beispielsweise im Therapiemanagement in der Indikation Epilepsie schon gang und gäbe, wie Dr. rer. nat. Thomas Peckmann, Manager Healthcare von Desitin in Hamburg, vortrug.


IT-gestütztes Therapiemanagement ist keine Vision
Um die Diagnosestellung und Therapieentscheidung bei dieser schwierigen Indikation mit ihren rund 30 verschiedenen Syndromen und Unterarten zu erleichtern, hat Desitin in Zusammenarbeit mit der Klinik für Epileptologie der Universität Bonn (Prof. Dr. med. C. E. J. Elger - siehe MVF 06/11) und einer Arbeitsgruppe aus niedergelassenen Neurologen und Nervenärzten des BVDN den „EPI-Scout“ entwickelt. Das Programm, das von medomus Technologien & Services GmbH entwickelt wurde, gibt anhand der Eigen- und Fremdanamnese des Patienten Hinweise auf die Anfallsart und - bei einem epileptischen Anfall - das zugrundeliegende Syndrom an und macht dann, entsprechend der Leitlinie, Vorschläge für eine mögliche Pharmakotherapie. Zusätzlich bietet die Software auch noch Hinweise für die korrekte ICD-10-Kodierung sowie umfangreiche Dokumentationsmöglichkeiten. Darüber hinaus können alle Informationen  über standardisierte Schnittstellen in das jeweilige Arztinformationssystem übertragen werden.
Und für das Therapiemanagement stellt das Hamburger Unternehmen kostenlos den elektronischen Anfallskalender „EPI-Vista“ online zur Verfügung. Darin kann der Patient  neben seinen Anfällen die Medikation und viele weitere Informationen dokumentieren. Herzstück der von der dr.heydenreich GmbH in Greifswald entwickelten Software ist eine Übersichtsgrafik, in der alle Informationen in einen zeitlichen Zusammenhang gesetzt werden, was eine unmittelbare Beurteilung des Krankheitsverlaufs auch über lange Zeiträume ermöglicht. Ebenso hat der Patient die Möglichkeit, seinem Arzt oder einer Klinik Einblick in seinen Anfallskalender zu gewähren: Doch auch der Arzt kann seinerseits Einträge hinzufügen, so dass eine vollständige Dokumentation im Sinne einer Krankenakte entsteht.
EPI-Vista ist zudem Bestandteil des ersten Vertrags der Integrierten Versorgung (IV) nach §140a-e SGB V für Kinder und Jugendliche mit einer Epilepsie in Schleswig-Holstein. Dessen Vertragspartner sind die Knappschaft, die Deutsche Gesundheitssystemberatung und die Desitin als erstes Pharmaunternehmen in der IV überhaupt.
Und was ist bei Diabetes? Hier werden erste Gespräche geführt, wie Ralf Kai Decker, Leiter Marketing & Sales, Roche Diagnostics Deutschland, im folgenden Interview (siehe Seite 17 ff.) beschreibt. <<

Autoren

 

Ausgabe 02 / 2012

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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