Warnung vor institutioneller Eigendynamik
>> Herr Prof. Schrappe, schon im Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 17. März 2016 über die Beauftragung des IQTIG zu planungsrelevanten Qualitätsindikatoren gemäß § 136c Abs. 1 SGB V steht, dass der G-BA „von einer Neuentwicklung planungsrelevanter Qualitätsindikatoren“ absehe und stattdessen „auf die Auswahl geeigneter Qualitätsindikatoren aus dem vorhandenen, im Rahmen der externen stationären Qualitätssicherung gemäß QSKH-RL bereits erhobenen Pool von Qualitätsindikatoren“ fokussiere. Ist denn diese Aufgabe dem IQTIG in dem kürzlich vorgelegten Vorbericht zu „Planungsrelevanten Qualitätsindikatoren“ gelungen?
Der Gesetzgeber hat als Ziel der Krankenhausversorgung zunächst einmal in §1 Abs. 1 KHG die „bedarfsgerechte Versorgung“ durch die Begriffe „qualitativ hochwertige, patienten- und bedarfsgerechte Versorgung“ ersetzt und den Krankenhäusern neben der Leistungsfähigkeit als Attribut „qualitativ hochwertig“ mit auf den Weg gegeben. Der Gesetzgeber hat weiterhin im neuen Abs. 1a des §6 KHG als Regelfall vorgeschrieben, dass „planungsrelevante Qualitätsindikatoren“ Bestandteil der Krankenhauspläne sind (es sei denn, auf Landesebene würden Ausnahmeregelungen geschaffen). In §136c Abs. 1 SGB V wird dann der G-BA damit beauftragt, solche planungsrelevanten Qualitätsindikatoren zu entwickeln – vom Verzicht auf eine Neuentwicklung steht nirgendwo etwas. Lediglich in der Gesetzesbegründung wird, angesichts des engen Zeitplanes verständlich, der Hinweis gegeben, dass für den ersten Aufschlag (Start 1.1.2017) eine Neuentwicklung nicht sinnvoll sei. Der G-BA leitet daher in seiner Beauftragung des IQTIG ab, dass „diese erste Beauftragung“ sich auf die bisherigen Qualitätssicherungsdaten beziehen solle. Entsprechend hat das IQTIG gehandelt. Aber es steht in der Beauftragung natürlich nicht, dass diese Beauftragung mit einer Auswahl von Parametern enden soll, die in ihrer Mehrzahl für Planungszwecke völlig irrelevant sind (z.B. Herzchirurgie).
Von März bis Mitte Juli, als der Vorbericht des IQTIG veröffentlicht wurde, sind gerade einmal vier Monate vergangen. War die Zeitvorgabe einfach zu eng? Hätte die Politik und/oder der G-BA diese Aufgabe nicht mit mehr Ruhe und einem höheren Willen zu mehr Qualität angehen sollen?
Ich denke, die Politik muss das Tempo vorgeben, der G-BA muss dies umsetzen – und dass angesichts eines solch „heißen“ Themas wie der Umgestaltung der Krankenhausplanung auf politischer Seite aufs Tempo gedrückt wird, damit keine Zeit bleibt, das Thema zu zerreden, liegt im Bereich des Verständlichen. Man darf ja nicht aus den Augen verlieren: Mit der Einführung von Qualitätsindikatoren in die Krankenhausplanung öffnen wir endlich den Weg in eine Versorgungsplanung, die über die reine Bettenplanung und auch über die Krankenhausversorgung hinausweist, um regional adäquate Konzepte zu entwickeln, die gleichermaßen Bedarf und Qualität berücksichtigen.
Es werden doch seit vielen Jahren Qualitätsindikatoren entwickelt und fleissigst gesammelt.
Sicher. Wir sammeln im Krankenhaus Qualitätsdaten seit über 20 Jahren, da darf man auch von den Fachleuten erwarten, dass sie schon mal vorausgeschaut haben, denn die Entwicklung war ja vorhersehbar.
Spätestens seit dem Koalitionsvertrag 2013 und dem Eckpunktepapier der Bund-Länder-Kommission von Dezember 2014.
Exakt. Das DNVF ist auf jeden Fall der Meinung, dass es z.B. mit einem „Indikatoren-Set Patientensicherheit“ auch auf der Basis der bisherigen Indikatoren gute Möglichkeiten gegeben hätte, sinnvolle Instrumente vorzuschlagen – und hält dies immer noch für möglich.
Das DNVF identifiziert in seiner Stellungnahme zum vorgelegten Bericht und dem vom IQTIG gewählten Ansatz vier schwerwiegende Mängel, die aus Perspektive der Versorgungsforschung einer dringenden Korrektur bedürften. Was ist denn der schwerwiegendste Mangel?
Am schwerwiegensten sind die beiden Bereiche „Auswahl der Leistungsbereiche“ und das sogenannte „Konzept Patientengefährdung“. Bei letzterem handelt es sich um eine Neuentwicklung durch das IQTIG, das leider diametral zu dem Fehlerverständnis steht, das wir in den letzten 10 bis 15 Jahren in Deutschland und in den letzten 20 Jahren weltweit mit großer Kraftanstrengung implementiert haben.
Wo liegt das Kardinalproblem?
Das moderne Fehlerverständnis bezieht sich nicht auf Gefahr oder „schwerwiegende Gefährdung“, denn das sind Begriffe, die in der nationalen und internationalen Patientensicherheitsdiskussion überhaupt nicht vorkommen, sondern auf die Analyse von Fehlerketten, um zu verstehen, warum etwas passiert und wie man es in Zukunft verhindern kann. Denn die Medizin ist ein Hochrisikobereich: Wir haben keine andere Wahl als zu versuchen, Fehlerketten und Risiken früh zu erkennen und präventiv tätig zu werden. Dafür brauchen wir in erster Linie die Kooperation von Mitarbeitern, Patienten und Institutionen, und wir brauchen den Einsatz von Patientensicherheitsindikatoren, so wie sie der Sachverständigenrat bereits vor zehn Jahren beschrieben hat. Wenn Krankenhäuser jetzt plötzlich wieder als „Gefährder“ bezeichnet werden (denn das wird ja die Folge sein), dann ist das eine völlig Verkehrung der bisherigen Strategie. Dies darf auf keinen Fall Wirklichkeit werden.
Einer der vom DNVF genannten Mängel, der in der Stellungnahme als „zentrales Missverständnis“ und „fehlerhafte Annahme“ gekennzeichnet wird, ist das sogenannte „Repräsentationsprinzip, das besagt, dass nur dann, wenn ein Fachgebiet durch die verwendeten Parameter möglichst umfassend abgebildet wird, eine Aussage zu Qualität (und Sicherheit, wenn man dem Konzept folgt) möglich sei und zu Planungszwecken Verwendung finden könne. Wie kann es denn überhaupt zu einem derart „zentralen Missverständnis“ kommen?
Das fragen wir uns auch. Die Selektivität von Indikatoren ist eine der wichtigsten Eigenschaften, denn wir wollen (und können!) ja nicht alles messen, sondern möchten mittels ausgewählter Indikatoren oder Kennzahlen ein kräftesparendes Monitoring durchführen, damit man im Fall der Fälle genauer hinschauen kann. Wenn man dem „Repräsentationsprinzip“, das nirgendwo in der internationalen Literatur und Praxis bislang aufgetaucht ist, folgt, würde das heißen, dass gerade die vielgestaltige Versorgung der „Patienten vor Ort“ mit ihren chronischen und Mehrfacherkrankungen niemals mit einbezogen werden würden, genauso wenig jedoch die operativen Fächer wie z.B. die Unfallchirurgie, denn die Vielzahl der Eingriffe, die im Stadtteilkrankenhaus durchgeführt werden, können wir nie und nimmer umfassend abbilden.
Wo sehen Sie die größte Gefahr?
Das „Repräsentationsprinzip“ würde dazu führen, dass ausgerechnet die Herzchirurgie und die Leistungsbereiche Mamma-Chirurgie sowie Perinatalmedizin aus der Frauenheilkunde ausgewählt werden. Im ersten Fall handelt es sich um einen Leistungsbereich aus der Schwerpunkt- und Maximalversorgung, die nun ganz und gar nicht im Mittelpunkt des Planungsinteresses steht, im zweiten Fall interferiert die Auswahl mit den laufenden Strukturänderungen mit Brust- und Perinalalzentren, ohne dass klar ist, ob dies nun wirklich die Bereiche mit dem größen Handlungsbedarf sind. Erkrankungsbilder wie die ambulant erworbene Pneumonie (Lungenentzündung), die gut untersucht ist, bei Krankenhausaufnahme eine Mortalität um die zehn Prozent aufweist und vor allem das Tagesgeschäft der Krankenhausversorgung in der Fläche darstellt, werden hingegen außen vor gelassen.
Wie stellt sich aus Ihrer Sicht die vom IQTIG vorgesehene Auswahl der Indikatoren dar?
Natürlich sind Ergebnisindikatoren der Goldstandard, aber jede Medaille hat eine Rückseite. Diese Rückseite besteht darin, dass sie Ergebnisindikatoren im Gegensatz zu Prozessindikatoren risikoadjustieren muss, wodurch kleine statistische Gruppengrößen entstehen. Da nun gerade kleine und mittelgroße Krankenhäuser (in Ballungsgebieten) im Mittelpunkt der Diskussion stehen, die sowieso schon eher kleine Fallzahlen aufweisen, ist natürlich fraglich, ob man mit risikoadjustierten Ergebnisindikatoren je eine Planungsrelevanz des ganzen Unterfangens hinbekommen kann.
Es klingt doch ganz gut, nach Ergebnisindikatoren zu rufen.
Auf den ersten Blick sicher. Doch in der Konsequenz erreicht man genau dadurch, dass sich gar nichts tut. Für den Bereich Herzchirurgie geben dies die Verfasser des IQTIG-Berichtes auch unumwunden zu: „keine statistische Aussagekraft zu erwarten“. Das DNVF empfiehlt daher ein Umdenken und den Einsatz von Struktur- und Prozessindikatoren, vor allem, weil diese auch viel eher dem präventiven Charakter eines Qualitätsverbesserungsansatzes entsprechen.
Im letzten Kapitel der Stellungnahme, der mit „Schritte bis zum Regelbetrieb“ überschrieben ist, empfiehlt das DNVF vor der Einführung in den Regelbetrieb eine Testphase durchzuführen. Verbirgt sich hier nicht auch die Warnung vor politisch motivierten bundesweiten Feldversuchen mit nicht absehbaren Folgen für die Versorgungsqualität?
Dieser Aspekt steht weniger im Vordergrund, aber es ist natürlich sinnvoll, bei dem komplexen Vorgehen, das das IQTIG vorschlägt (z.B. erst eine „Verifzierung“, dann eine Datenvalidierung) vorher mal auszuprobieren, ob das eigentlich klappen kann.
Sie haben als Koordinator der vom DNVF gebildeten Ad-hoc-Kommission „Qualitätskriterien“ rund 50 Wissenschaftler koordiniert, deren Wissen und Erfahrungen in die DNVF-Stellungnahme eingeflossen sind. Könnte man nicht annehmen, dass das IQTIG schon vorher auf diese Expertise hätte zurückgreifen können und sollen, sogar müssen?
Das IQTIG hat ja einen kleinen Expertenbeirat gebildet. Aus dem Bereich Patientensicherheit ist jedoch niemand hinzugebeten worden – was angesichts der Bedeutung des Themas „Patientengefährdung“ erstaunlich ist –, aber dies liegt einzig und alleine im Verantwortungsbereichs des Instituts.
Wann kam das DNVF ins Spiel?
Das DNVF ist nach §137a Abs. 7 bei der Arbeit des IQTIG „zu beteiligen“. Nach Veröffentlichung des Vorberichts hat man uns 14 Tage Zeit für die Stellungnahme gegeben. Obwohl das angesichts der komplexen Thematik viel zu wenig Zeit war, haben wir reagiert und damit sicher auch gezeigt, was das DNVF zu leisten im Stande ist. Und auch künftig leisten kann und wird, darum bietet das DNVF hiermit allen Akteuren – und so auch dem IQTIG – seine Kooperation an.
Was wäre dem IQTiG nach den Erfahrungen mit dem vorgelegten Vorbericht für weitere derartige Aktivitäten anzuraten?
Neu nachdenken, sich Rat holen und den Mut haben, konzeptionelle Eigenentwicklungen auf den Prüfstand zu stellen. Trotz allem öffentlichen und politischen Drucks, unter dem das IQTIG steht, sollte vor institutioneller Eigendynamik gewarnt werden. Denn man muss nun einmal nicht jedes Rad neu erfinden, was uns doch frappant an die ersten Jahre des Schwesterinstitutes IQWiG erinnern mag.
Herr Prof. Schrappe, danke für das Gespräch. <<
Das Interview führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier....
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