Validität von Arzneimitteldaten in GKV-Routinedaten
http://doi.org/10.24945/MVF.03.17.1866-0533.2019
Ziel der Studie: GKV-Routinedaten sind Daten, die primär zur Leistungsabrechnung erhoben werden. Da diese zunehmend für Fragestellungen der Versorgungsforschung genutzt werden, können diese nur als Sekundärdaten für wissenschaftliche Evaluationen herangezogen werden. Hierbei stellt sich die Frage, wie valide eine derartige Datengrundlage ist.
Methodik: Anhand von Daten zur Inanspruchnahme von Arzneimitteln wird untersucht, wie valide die bei Krankenkassen vorhandenen Daten ihrer Versicherten im Vergleich zu Primärdatenangaben sind. Als Primärdaten werden von Patienten und Ärzten dokumentierte Angaben aus Follow-up-Fragebögen im Rahmen eines Modellvorhabens der Techniker Krankenkasse (TK) herangezogen
(n = 363 Patienten mit Koronarstenose) und mit den dazugehörigen Krankenkassen-Abrechnungsdaten verglichen.
Ergebnisse: Beim Vergleich einzelner Medikamente stimmt die bei den Ärzten dokumentierte Einnahme von Clopidogrel mit den Kassendaten und den Patientenangaben in hohem Ausmaß (> 90%) überein. Für Acetylsalicylsäure liegt die Übereinstimmung in den Patientenangaben bei 90%, in den Kassendaten bei 50%. Über den Gesamtzeitraum hinweg (0-12 Monate) beträgt der Patientenanteil mit einer 100%-Übereinstimmung der Gesamtmedikation aus Kassenperspektive gemittelt 28,8%, aus Patientenperspektive 52,1%.
Schlussfolgerung: Sowohl Kassendaten als auch Patientenangaben haben spezifische Besonderheiten. Von daher ist auch keine der beiden Datenquellen per se valide. Deshalb sollten beide Datenquellen möglichst miteinander kombiniert werden, um Outcome-Messungen im Rahmen der Versorgungsforschung so valide wie möglich zu gestalten.
Validity of medication data in secondary data of the Statutory Health Insurance
Aim of the study: Scientific analyses in healthcare research increasingly base on secondary data of the Statutory Health Insurance (SHI). These data are primarily collected for billing of medical benefits and can therefore only be used as secondary data for possible other issues. The question here is how valid such a data basis can be.
Methods: Using data regarding claims of medication it is examined how valid routine data of a SHI fund for insured persons are in comparison to information from primary data. Primary data from 363 patients with coronary stenosis are derived from follow-up questionnaires filled in by patients and doctors within a pilot project of one health insurance fund, the Techniker Krankenkasse (TK). These data are compared to the corresponding secondary data.
Results: Comparisons for Clopidogrel show a high level of agreement between the medication documented by doctors and that indicated within SHI fund and patients’ data (>90%). For acetylsalicylic acid, the agreement was 90% in the patients‘ data and 50% in the SHI fund data. For the whole observation period (0-12 months), the rate of patients with a compliance of 100% regarding the entire medication was 28.8% from perspective of the SHI fund and 52.1% from perspective of the patients.
Conclusion: SHI data as well as information from patients suffer from special peculiarities. Therefore, none of these data sources is valid per se. Both data sources should be combined in order to design outcome measurements in the context of healthcare research as valid as possible.
Keywords
SHI routine data, external validity, quality of data, drugs, secondary data, primary data
Dr. med. Dirk Horenkamp-Sonntag, M.Sc. , Prof. Dr. med. habil. Bernd Brüggenjürgen, MPH , Ulrike Stasun, Medizinische Dokumentarin, PD Dr. med. Anne Berghöfer, Prof. Dr. med. Stefan N. Willich, MPH, MBA
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Zitationshinweis: Horenkamp-Sonntag et al.: „Validität von Arzneimitteldaten in GKV-Routinedaten“, in: „Monitor Versorgungsforschung 03/17, S. 53-59, doi: 10.24945/MVF.03.17.1866-0533.2019
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Plain-Text:
Validität von Arzneimitteldaten in GKV-Routinedaten
In der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erfolgt die Leistungsabrechnung fast ausschließlich elektronisch, indem Leistungserbringer (z.B. Ärzte) die Behandlung ihrer Patienten nach genau definierten Regeln umfangreich dokumentieren und diese Daten dann für Abrechnungszwecke den Krankenkassen zur Verfügung stellen. Für die gesamte GKV wird auf Grundlage dieser Routinedaten jährlich ein Volumen von mehr als 200 Milliarden Euro abgerechnet [1]. Die Zweckbestimmung von GKV-Routinedaten dient der Abrechnung von GKV-Leistungen [2]. Jedoch lassen sich diese Daten auch als Sekundärdaten für viele weitere Zwecke nutzen wie beispielsweise im Rahmen der Versorgungsforschung. Da Abrechnungsdaten meistens ohne zeitlichen und finanziellen Aufwand verfügbar sind, gibt es aufgrund der letzten Gesundheitsreformen [3-6] sowie durch die Gutachten des Sachverständigenrats im Gesundheitswesen [7-10] ein zunehmendes Interesse an der Nutzung von GKV-Routinedaten. Um GKV-Routinedaten für wissenschaftliche Analysen nutzen zu können, muss geklärt werden, wie valide eine derartige Sekundärdatenbasis ist. In dieser Studie wurde daher der Frage nachgegangen, inwiefern die bei den Krankenkassen vorhandenen Abrechnungsdaten zur Arzneimittel-Inanspruchnahme ihrer Versicherten mit der tatsächlichen Medikamenteneinnahme übereinstimmt, die aus Primärdaten einer bereits durchgeführten klinischen Studie bekannt war.
Um die Übereinstimmung zwischen den unterschiedlichen Datenquellen messen zu können, wurden Quotienten gebildet. Zähler ist die Anzahl der Patienten, bei denen in beiden Datenquellen das untersuchte Ereignis (entweder Arzneimittel eingenommen oder nicht) übereinstimmend auf ATC-Ebene dokumentiert ist. Als Nenner wurden alle Patienten berücksichtigt, die in der Datenquelle enthalten sind und für die die Dokumentation eines Ereignisses möglich wäre. Bei der Messung der Übereinstimmung erfolgte der Vergleich sowohl aus Perspektive der Krankenkasse als auch aus Patientenperspektive.
Das Ausgangskollektiv von 363 Patienten wurde in einem dreistufigen Vorgehen auf n = 241 reduziert. Zum einem wurden 14 Patienten, die im Kassen-Arzneimitteldatensatz nicht identifiziert werden konnten, ausgeschlossen. Weiterhin wurden sowohl 21 Patienten, bei denen keine Arzneimittelangaben in den Kassendaten vorhanden waren, als auch 87 Patienten, zu denen keine Arztfragebogen-Ergebnisse vorlagen, ausgeschlossen.
Von 241 Patienten haben nach Dokumentation der Ärzte 229 (95%) Acetylsalicylsäure (ASS) und 236 (97,9%) Clopidogrel im postoperativen Verlauf nach Stent-Implantation eingenommen (siehe Abbildung 1 und 2). Der idealtypische Wert einer 100% Einnahme von ASS und Clopidogrel wurde somit nicht ganz erreicht: Bei den Patienten, die nach der Arztdokumentation kein ASS bzw. kein Clopidogrel genommen haben, fanden sich in den Patienten- und Kassendaten folgende Angaben:
• Clopidogrel (n = 5): bei vier Patienten (80%) ist in den Patientenangaben und bei zwei Patienten (40%) in den Kassendaten eine Clopidogrel-Einnahme dokumentiert.
• ASS (n = 12): bei fünf Patienten (41,7%) ist in den Patientenangaben und bei drei Patienten (25%) in den Kassendaten eine ASS-Einnahme dokumentiert.
Vergleicht man die bei den Ärzten dokumentierte Einnahme von Clopidogrel im postoperativen Verlauf nach Stent-Implantation mit den Daten der Krankenkasse und den Angaben der Patienten, so stellt man eine hohe Übereinstimmung (> 90%) fest (siehe Abbildung 3). Dabei ist die Übereinstimmung mit den Kassendaten etwas geringer ausgeprägt als bei den Patientenangaben. Die Angaben der Patienten zur ASS-Einnahme stimmen mit den Arztangaben zu 90,4% überein, in den Kassendaten beträgt die Übereinstimmung 50,2% (siehe Abb. 3).
Vergleich der Gesamtmedikation (zweiarmig)
Das Untersuchungskollektiv variiert je nach Follow-Up-Phase zwischen n = 332 und n = 265, da jeweils Patienten ohne Arzneimitteldokumentation in den Kassen- bzw. in den Patientenangaben ausgeschlossen wurden (siehe Tabelle 1). Innerhalb der ersten drei Monate des Beobachtungszeitraums hat laut Patientenangaben jeder Patient im Mittel 6,3 unterschiedliche Medikamente ± 2,2 SD „regelmäßig“ eingenommen. Demgegenüber sind in den Kassendaten im Mittel 9,4 unterschiedliche Medikamente ± 5,8 SD pro Patient dokumentiert.
Aus Patienten-Perspektive besteht in FU1 bei 198 von 328 Patienten (60,4%) eine 100%-Übereinstimmung der Gesamtmedikation im Untersuchungszeitraum FU1 auf Basis eines ATC-Abgleichs zwischen Patienten- und Kassendaten (FU2 41,3%, FU3 54,7%). Dies bedeutet, dass sich für jeden einzelnen dieser 198 Patienten alle seine in den Patientenangaben dokumentierten Medikamente (entsprechend seiner Gesamtmedikation) 1:1 über den ATC-Code in den patientenindividuellen Kassendaten wiederfinden lassen. Bei den übrigen Patienten liegt entweder eine teilweise Übereinstimmung (n = 126) oder überhaupt keine Übereinstimmung (n = 4) vor (siehe Abbildung 4). Aus Patienten-Perspektive liegt die mittlere Medikamenten-Übereinstimmung pro Patient in FU1 bei 84,7% ± 23,5 SD.
Aus Kassen-Perspektive liegt in FU1 bei 85 von 328 Patienten (25,9%) eine 100%-Übereinstimmung der Gesamtmedikation zwischen Patienten- und Kassendaten vor (FU2 31,3%, FU3 29,1%). Bei 239 Patienten (72,9%) liegt eine teilweise Übereinstimmung vor, d.h. es gibt bei einzelnen Medikamenten Übereinstimmungen, wobei aber gleichzeitig bei anderen Medikamenten auch Abweichungen hinsichtlich eines einheitlichen ATC-Codes in den jeweiligen Kassen- bzw. Patientenangaben zu beobachten sind (siehe Abbildung 5). Für vier Patienten (1,2%) lässt sich kein in den Kassendaten dokumentiertes Medikament in den entsprechenden Patientenangaben wiederfinden. Die mittlere Medikamenten-Übereinstimmung pro Patient beträgt in FU1 aus Kassen-Perspektive 74,8% ± 22,2 SD.
Diskussion
Die bei den Ärzten dokumentierte Einnahme von Clopidogrel im postoperativen Verlauf nach Stent-Implantation stimmt mit den Kassendaten und Patientenangaben in hohem Ausmaß (> 90%) überein. Dabei ist die Übereinstimmung mit den Kassendaten etwas geringer (92,8%) ausgeprägt als bei den Patientenangaben (97,9%). Für ASS liegt die Übereinstimmung der Patientenangaben mit den Arztangaben bei 90%, während in den Kassendaten die Übereinstimmung lediglich 50% beträgt.
Ursache für die festgestellte Unterdokumentation von ASS in den Kassendaten ist vermutlich, dass seit 2004 ein Ausschluss der Erstattungsfähigkeit von rezeptfreien Arzneimitteln (OTC-Artikel) im Bereich der GKV eingeführt worden ist [13]. Da für ASS in der hier untersuchten Anwendungsindikation (Patienten mit Koronarstenose im postinterventionellen Verlauf) der Ausnahmebestand des Gemeinsamen Bundesausschuss [14] vorliegt, ist auch grundsätzlich eine GKV-Erstattung möglich. Dennoch ist davon auszugehen, dass ASS vermehrt als OTC-Präparat ohne ärztliches Rezept gekauft wurde, so dass bei fehlender Abrechnung über ein Rezept eine Dokumentation in den Kassendaten zwangsläufig ausgeblieben ist. Die Motivation für den Patienten, ASS bevorzugt selbst zu bezahlen anstatt eine Abrechnung über ein ärztliches Rezept in Verbindung mit einer Patienten-Zuzahlung (Eigenbeteiligung) vorzunehmen, könnte finanziell bedingt sein. Es ist möglich, dass ein Patient je nach Packungsgröße und Höhe der Zuzahlung bei Abrechnung als OTC-Präparat insgesamt weniger Ausgaben hat, als wenn er die Patienten-Eigenleistung (zu)zahlen muss.
Ein weiterer Grund für die Diskrepanz bei ASS könnte bei den Ärzten liegen, wenn diese den Patienten unter Umständen (Schonung des Arzneimittelbudgets, Unkenntnis von zutreffenden Ausnahmeregelungen, Problem der Zuständigkeit zwischen Fach- und Hausarzt bei der Verordnung) für ASS kein GKV-Rezept ausstellen bzw. bei der Verordnung mittels GKV-Rezept insgesamt eher zurückhaltend sind.
Da die Patienten in der Regel schon lange vor Stent-Implantation ASS regelmäßig eingenommen haben, könnte es sein, dass das Medikament ggf. in größerem Umfang vor der Stent-Implantation zu Hause bevorratet wurde und somit „Restbestände“ vorhanden sind. Da es sich bei dem ausgewerteten Zeitraum mit drei Monaten um ein sehr kurzes Zeitfenster handelt, könnte ggf. für die Patienten im analysierten Zeitraum noch keine Notwendigkeit vorgelegen haben, mittels GKV-Rezept in der Apotheke ASS „nachzuordern“. Somit würde eine arzneimittelspezifische Dokumentation in den Kassendaten im unmittelbar postinterventionellen Verlauf (FU1) unterbleiben, da keine (neuen) GKV-Rezepte abgerechnet werden. Dieser Sachverhalt wäre auch kompatibel mit den Angaben zu Clopidogrel, wenn man davon ausgeht, dass die Patienten vor Stent-Implantation nur ASS seit längerem regelmäßig eingenommen haben und erst im Rahmen der dualen Thrombozytenaggregationshemmung erstmalig Clopidogrel nach erfolgter Stent-Implantation erhalten. Von daher liegt bei Clopidogrel ein echte „Sonderkonstellation“ vor: ein Arzneimittel das erstmalig nach einem konkret operationalisierbaren Ereignis (Krankenhausentlassung nach Stent-Implantation) erstmalig verordnet wird und wodurch die Erst-Inanspruchnahme im Leistungsverlauf treffsicher dem Zeitraum der wirklichen (Erst-) Einnahme beim Patienten zugeordnet werden kann. Anders hingegen bei Analysen zur Compliance- bzw. Adherence-Forschung auf Basis von GKV-Routinedaten, wo man immer vor dem Problem steht, bei Dauermedikationen (z.B. Insulin bei Typ-1-Diabetikern) aufgrund von DDD-Angaben eine (grobe) zeitliche „Reichweite“ einer Verordnung aufgrund des Apothekenabgabedatums schätzen zu müssen.
Gesamtmedikation (zweiarmiger Vergleich)
Über den Gesamtzeitraum hinweg (0-12 Monate) beträgt der Patientenanteil, bei dem eine 100%-Übereinstimmung der Gesamtmedikation zwischen den beiden Datenquellen Patient und Kasse vorliegt, aus Kassen-Perspektive im Mittel 28,8%, aus Patientenperspektive 52,1%.
Hierbei sind jedoch methodische Limitationen zu berücksichtigen. Zum einen liegt den unterschiedlichen Datenquellen durch formale Vorgaben eine unterschiedliche Anzahl von Medikamenten zu Grunde. Bei den Patienten war in den Fragebögen eine vorgegebene Anzahl von Zeilen für die Medikamente vorgesehen, so dass die maximale Medikamentenanzahl durch formale Vorgaben indirekt vorgegeben war. Die höchste Anzahl der von den Patienten genannten Medikamente innerhalb eines Follow-up´s beträgt bei einem Patienten 16 Medikamente im ersten Follow-up. Bei den Kassendaten liegt eine derartige Limitation hinsichtlich einer maximal möglichen Anzahl von Medikamenten pro Versichertem nicht vor. Hier sind im dritten Follow-up beispielsweise bei einem Patienten 71 verschiedene Medikamente dokumentiert. Hieraus ergibt sich eine Unschärfe, die aber eingrenzbar ist: aus Kassen-Perspektive beträgt bei 294 Patienten (89,6%) im ersten Untersuchungszeitraum die maximale Anzahl der dokumentierten Medikamente 16, lediglich bei 34 Patienten (10,4%) sind mehr Medikamente (in einer Anzahl von 17 bis 46) dokumentiert.
Als weitere methodische Limitation ist zu berücksichtigen, dass verschiedene Schwerpunkte bei der Erhebung der Medikamenten-Daten zu Grunde gelegt worden sind: Patienten wurden anhand der verwendeten Fragebögen nur zu „regelmäßig“ in den letzten drei Monaten eingenommenen Medikamenten befragt, wobei eine Präzisierung fehlt, was innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten als „regelmäßig“ zu bewerten ist. So unterliegt es der individuellen Interpretation eines Patienten, ob für ihn eine kurzzeitige Anti-biotika-Einnahme über fünf Tage innerhalb eines Gesamt-Zeitraums von 90 Tagen das Kriterium der „Regelmäßigkeit“ erfüllt und entsprechend im Patientenfragebogen dokumentiert wird oder nicht. Wird aber beispielsweise eine medikamentöse Schmerztherapie über einen Zeitraum von 4 Wochen durchgeführt, ist der individuelle Interpretationsspielraum für das Kriterium der Regelmäßigkeit schon wesentlich geringer. Die Kassendaten lassen sich nicht hinsichtlich des Kriteriums „regelmäßig“ differenzieren, da Medikamenten-Daten in Abhängigkeit vom Zeitpunkt des Arzneimittelbezugs durch den Patienten in der Apotheke mit der Kasse ausgetauscht werden und sich daraus nicht per se eine regelmäßig oder unregelmäßige Medikamenten-Einnahme ableiten lässt.
Auf der anderen Seite ist beim Kriterium „regelmäßig“ zu berücksichtigen, dass ein Patient, der zu seiner gesamten Medikamenteneinnahme in einem zurückliegenden Zeitraum (drei bzw. sechs Monate) befragt wird, sich auf Basis seiner Erinnerung mit Sicherheit nur sehr eingeschränkt an einzelne Arzneimittel-Einnahmen (z.B. dreitägige Antibiotika-Einnahme bei Harnwegsinfekt) erinnern kann. Selbst wenn er sich genau an die Einnahme erinnert, kann man nicht davon ausgehen, dass der Patient sich auf Basis seiner Erinnerung exakt an die jeweilige Handelsbezeichnung des Präparats (z.B. umgangssprachlich und unter Nicht-Medizinern wenig geläufige Bezeichnungen verschiedener Antibiotika) oder dazugehörige Details wie beispielsweise die Dosierung (z.B. 40 oder 120 mg) oder die Packungsgröße (N1 oder N2) erinnert. Bei einer derartigen Informationskomplexheit kann man eigentlich davon ausgehen, dass ein Patient nur dann valide Angaben zu seiner Medikation machen kann, wenn er die Möglichkeit hat, auf seinen Arzneimittel-Verpackungen, auf denen sämtlich relevante Informationen aufgedruckt sind, nachzuschauen. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus sinnvoll, Fragen der Arzneimittel-Einnahme im Rahmen von Patientenfragebögen auf „regelmäßig“ eingenommene zu beschränken.
Eine weitere methodische Limitation ist der 2004 eingeführte Ausschluss der Erstattungsfähigkeit von OTC-Präparaten im Bereich der GKV [13]. Da abgesehen von Ausnahmen des Gemeinsamen Bundesausschuss [14] OTC-Präparate in der Regel nicht mehr von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden, liegt der Schwerpunkt der Arzneimittelerstattung im Bereich der GKV bei rezeptpflichtigen Arzneimitteln. Bei den Patienten ist die Differenzierung zwischen OTC und rezeptpflichtigen Arzneimitteln lediglich vor dem Hintergrund der Kostenübernahme relevant, da entweder durch die GKV oder durch den Patienten selbst die Kosten für die jeweiligen Arzneimittel zu übernehmen sind. Es ist somit davon auszugehen, dass eine Unschärfe in der zu Grunde gelegten Medikamentendatenbasis vorhanden ist, da in den Kassendaten nur der OTC-Anteil (regelmäßig und unregelmäßig) nach der Ausnahmeregelung des Gemeinsamen Bundesausschusses enthalten ist, v.a. wenn es sich um hochpreisige Arzneimittel handelt (im Gegensatz zu ASS). Hingegen können bei den Patientenangaben auch „regelmäßig“ eingenommene OTC-Präparate dokumentiert sein, die nicht unter die Ausnahmeregelung des Gemeinsamen Bundesausschusses fallen.
Ein Grund, warum verschreibungspflichtige Arzneimittel von Patienten angegeben werden, die nicht in den Kassendaten dokumentiert sind, könnte die Verwendung von Ärztemustern anstelle einer Verschreibung sein. Eine ähnliche Konstellation ist gegeben, wenn ein Patient während eines stationären Aufenthalts Arzneimittel erhält. Da diese in der Regel nicht separat durch Krankenkassen vergütet werden, sondern im Rahmen der DRG-Fallpauschalen mit eingepreist sind, erfolgt auch keine separate (abrechnungsrelevante) Dokumentation, die der Krankenkasse mitgeteilt wird. Ausgenommen hiervon sind lediglich besonders teure Arzneimittel, für die in besonderen Behandlungskonstellationen separate Kostenerstattungsmöglichkeiten existieren.
Ein grundsätzliche Unschärfe könnte bei der zeitlichen Zuordnung der Arzneimittel-Einnahme vorhanden sein: die beiden Gruppen Ärzte und Patienten haben zu einem Zeitpunkt retrospektiv für einen definierten zurückliegenden Zeitraum Angaben zur Einnahme von Medikamenten gemacht. Hingegen stammen bei der Krankenkasse die hinterlegten Medikamentendaten aus Rezeptangaben, die über Apothekenrechenzentren die erbrachten Leistungen der Apotheken mit den Krankenkassen abrechnen. Hier wird als zeitlicher Bezugspunkt entweder das Verordnungsdatum oder alternativ das Abgabedatum aus dem Rezept herangezogen. Beide Datumsangaben müssen aber nicht zwangsläufig mit der tatsächlichen Medikamenteneinnahme beim Patienten übereinstimmen. Hierfür gibt es viele denkbare Konstellationen, die zu Abweichungen führen können: wenn z.B. Patienten regelmäßig Medikamente einnehmen und Großpackungen zur Reduktion der Zuzahlung verwenden. Oder wenn beispielsweise Ambulanzen oder Polikliniken zunächst Privatrezepte ausstellen (v.a. am Wochenende) und der Patient hierbei zunächst mittels Barzahlung in Vorleistung geht, um dann zu einem späteren Zeitpunkt über seinen Hausarzt ein GKV-Rezept mit anders lautendem Verschreibungsdatum nachzureichen. Wenn größere „Restbestände“ aus retrospektiven Verordnungen vorhanden sind oder sich Versicherte prospektiv Arzneimittelvorräte zulegen (z.B. für geplante Auslandsreisen).
Übertragbarkeit der Ergebnisse
Limitierend für die Übertragbarkeit der Ergebnisse ist, dass Daten einer einzelnen Krankenkasse ausgewertet wurden. Zwischen den Versicherten verschiedener Krankenkassen existieren jedoch Unterschiede in der Alters- und Geschlechts- sowie der Morbiditätsstruktur [15], was sich auch unmittelbar auf Art und Umfang der Beteiligung im Rahmen der Primärdatenerhebung (Antwortverhalten) auswirken kann.
Weiterhin ist relevant, dass Patientenangaben selbst nur eingeschränkt valide sind [16-22] und somit nicht per se als Goldstandard verwendet werden können. Neben dem Erinnerungsbias auf Patientenseite ist hinsichtlich der Einnahme von Arzneimitteln insbesondere zu berücksichtigen, dass „ärztlich verordnet“ weder gleichzusetzen ist mit „in der Apotheke abgeholt“ noch mit „regelmäßig eingenommen“. Wenn ein Arzt bei seinem Patienten ein Arzneimittel mittels Rezept verordnet, kann der Patient das Rezept in der Apotheke gegen ein Arzneimittel eintauschen oder er setzt sich über die Empfehlung des Arztes hinweg und löst das Rezept erst gar nicht in der Apotheke ein. Hat der Patient das Arzneimittel in der Apotheke bezogen, kann es sein, dass er es entweder gar nicht, sporadisch oder unregelmäßig (z.B. in Abhängigkeit von Nebenwirkungen) oder exakt nach der Vorgabe des Arztes regelmäßig einnimmt.
Deshalb sind bei der Beurteilung der Validität von GKV-Routinedaten unbedingt die kontextuellen Rahmenbedingungen bei der Interpretation von Abweichungen zwischen Primär- und Sekundärdaten zu berücksichtigen. Differierende Übereinstimmungen bei der Indikation Schlaganfall [23] können genauso wenig wie die hier festgestellten Abweichungen bei der Gesamtmedikation als „Qualitätsproblem“ der GKV-Routinedaten interpretiert werden. Um das Potenzial von GKV-Routinedaten für verschiedene wissenschaftliche Fragestellungen [24-36] adäquat nutzen zu können, sollten bei jeder wissenschaftlichen Analyse auf Basis von Sekundärdaten die Datengrundlage kritisch geprüft werden. Neben Vollständigkeits- und Vollzähligkeitsprüfungen, Konsistenzprüfungen und technischen Plausibilitätsprüfungen sollten auch Validierungsschritte durchgeführt werden [37-39].
Fazit für die Praxis
Sobald bei der Evaluation eines Versorgungsprojekts die Einnahme von (bestimmten) OTC-Präparaten im Vordergrund steht oder auch bei einzelnen verschreibungspflichtigen Arzneimitteln die (lückenlose) Compliance besonders wichtig ist, bieten sich Primärdatenbefragungen an. Diese sollten dann möglichst gezielt (als Auswahlfrage) nach der Einnahme der für das Projekt relevanten Arzneimittel fragen.
Anders hingegen bei psychiatrischen Indikationen, bei denen die Patienten-Compliance aufgrund der Grunderkrankung ggf. beeinträchtigt ist, oder bei internistischen Indikationen, bei denen z.B. im Rahmen von Polypharmazie die Interaktion verschiedener Arzneimittel im Fokus steht, bieten sich Sekundärdatenanalysen an. Diese haben dann das Potenzial unabhängig von der Compliance und dem Erinnerungsvermögen der Patienten ein umfassendes Spektrum der Arzneimitteleinnahme auch über einen länger zurückliegenden Zeitraum darzustellen. <<