Listen zur Arzneimitteltherapieoptimierung bei älteren Patienten: Positiv oder negativ?
http://doi.org/10.24945/MVF.03.17.1866-0533.2018
Ältere Patienten sind häufig multimorbid und erhalten deshalb zahlreiche Arzneimittel, obwohl für viele dieser Therapien keine Evidenzgrundlage existiert. Die hieraus resultierende Polypharmazie führt leider oft zu Vergiftungsfällen und nutzt die Möglichkeiten der modernen Arzneitherapie nicht optimal aus. Ansätze zur Unterstützung der Arzneitherapieoptimierung bestehen seit längerer Zeit in Listen, auf denen Arzneimittel hinsichtlich ihrer Alterstauglichkeit zusammengefasst sind. Die älteren Negativlisten (z.B. Beers oder PRISCUS) sind als explizite Listen allerdings auch ohne genaue Patientenkenntnis anwendbar und daher in der klinischen Wirksamkeit eher enttäuschend. Die FORTA-Liste ist die erste Positiv/Negativarzneimittelliste, die in einer einfachen Kategorisierung von A (sehr positiv bewertet) bis D (bei Älteren nicht geben) die Altersbeurteilung von Arzneimitteln im Hinblick auf altersrelevante Diagnosen darstellt. Die Anwendung dieser Liste hat in der VALFORTA-Studie an über 400 Patienten in einer Interventionsgruppe, die nach FORTA-Prinzipien behandelt wurde, im Vergleich zur Kontrollgruppe (normale geriatrische Behandlung) zu einer deutlichen Reduktion von Über- und Untertherapiefehlern geführt. Weiter wurde eine hochsignifikante Reduktion von Arzneimittelnebenwirkungen (Number Needed to Treat 5!) und Verbesserung des Barthel-Index als Indikator für die Lebensqualität beobachtet. Grundsätzlich sind daher implizite Ansätze, die also eine genaue Kenntnis des Patienten erfordern hinsichtlich der Diagnosen, des Schweregrades und der Patientenpräferenzen, auch auf klinischer Endpunktebene den expliziten Negativlisten überlegen. Die Anwendung in der ärztlichen Praxis bedarf hinsichtlich der Nachhaltigkeit weiterer Forschungen.
Drug lists to optimize drug therapy in the elderly: positive or negative?
Older people are often multimorbid and, therefore, receive multiple drugs though in most cases no evidence base for these treatments exists. This polypharmacy may frequently result in drug poisoning, but also does not take advantage of current treatment opportunities. Approaches to help optimizing drug treatment in older people utilize drug lists that contain drug assessments regarding their suitability in older people. Older lists are negative lists (e.g. Beers or PRISCUS lists) that may be applied without detailed knowledge on the patient (explicit lists), but have largely disappointed in respect to beneficial clinical effects. The FORTA list is the first positive/negative drug list categorizing drugs from A (highly beneficial) to D (avoid in older people) in relation to diagnoses relevant for older people. This approach has been validated in a randomized, controlled clinical trial (VALFORTA) in over 400 older patients who were either treated according to the FORTA list, or to standard geriatric care. The intervention lead to a highly significant optimization of medications in that both over- and undertreatment cases were reduced, but also the number of adverse drug reactions at a number needed to treat of only 5. The Barthel index was significantly improved. Implicit approaches that require intricate knowledge on the patient regarding diagnoses, severity and patients‘ preferences seem to be superior to explicit approaches regarding their clinical efficacy. Their application in clinical practice requires further research in respect to implementability and sustainability.
Keywords
multimorbidity, polypharmacy, drug lists, FORTA list, VALFORTA study
Prof. Dr. Martin Wehling
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Zitationshinweis: Wehling, M.: „Listen zur Arzneimitteltherapieoptimierung bei älteren Patienten: Positiv oder negativ?“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ 03/17, S. 49-52, doi: 10.24945/MVF.03.17.1866-0533.2018
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Listen zur Arzneimitteltherapieoptimierung bei älteren Patienten: Positiv oder negativ?
Die Alterung unserer Bevölkerung ist inzwischen auf politischer – vor allem gesundheitspolitischer – Ebene als wesentliches Thema akzeptiert. Die große Belastung der Sozialsysteme liegt unter anderem auch daran, dass ältere Patienten bekanntermaßen kränker sind als jüngere [ein 80-jähriger hat im Schnitt etwas über drei relevante Diagnosen (van den Akker et al. 1998)], die jeweils nach den gültigen Leitlinien behandelt werden. Dies resultiert in einer sogenannten Polypharmazie (mindestens fünf Arzneimittel): In den USA nehmen über 65-jährige Männer in 44%, Frauen in 57% der Fälle fünf und mehr Arzneimittel ein, 12% sogar zehn und mehr Arzneimittel (Kaufman et al. 2001). In Deutschland erhält ein Drittel der Patienten über 62 mehr als fünf Arzneimittel täglich (Barmer GEK Arzneimittelverordnungsreport 2013). Arzneimittelnebenwirkungen – insbesondere natürlich bei diesen Polypharmaziepatienten – machen inzwischen in den Vereinigten Staaten die vierthäufigste Todesursache aus (Light 2010).
Wie kann geholfen werden?
Diese Negativlisten sind allerdings hinsichtlich ihrer klinischen Endpunktwirksamkeit sehr umstritten (Page/Ruscin 2006). Eine kürzlich zu PRISCUS durchgeführte Interventionsstudie im hausärztlichen Bereich, die RIME-Studie, war klinisch ebenfalls wirkungslos (Junius-Walker 2016). Der Nachteil der reinen Negativlisten liegt in dem Umstand, dass Patienten selten zum Arzt kommen um zu fragen, was sie für die Behandlung einer bestimmten Problematik nicht nehmen sollen. Denn nur hierüber geben diese Negativlisten Auskunft. Ihr Reiz liegt andererseits darin, dass man außer dem Alter des Patienten nichts wissen muss, um eine Negativliste anzuwenden, d.h., ist in der Medikation ein entsprechendes Arzneimittel enthalten, dann muss es weg – egal welche Leiden und andere Probleme der Patient hat (sogenannte explizite Liste).
Typischerweise kommt der Patient aber zum Arzt und fragt bezüglich der Behandlung eines Problems, was er nehmen soll. Hierzu geben Negativlisten keine fundierte Auskunft, sie empfehlen alle allenfalls Alternativen zu vorhandenen Arzneimitteln, gehen daher also von der Arzneimitteliste primär aus, ohne zu hinterfragen, ob eine Indikation für ein zu ersetzendes Arzneimittel überhaupt besteht.
Eine fortschrittlichere Alternative stellen daher Positiv/Negativ-Bewertungen von Arzneimitteln dar. Hier sind insbesondere zwei Systeme zu erwähnen: Die STOPP/START-Kriterien (O’Mahony et al. 2015) und die FORTA-Klassifikation mit der dazugehörigen FORTA-Liste (Wehling 2008, Pazan et al. 2016). Während das STOPP/START-System Handlungspakete bei Vorliegen bestimmter Indikationen empfiehlt und hierbei nur ausnahmsweise konkrete Arzneimittelgruppen benennt, hat das FORTA-Prinzip in der FORTA-Liste zur ersten und einzigen Positiv/Negativ-Arzneimittelliste zur Behandlung älterer Patienten geführt (FORTA Liste 2015). In beiden Fällen ist jedoch eindeutig eine positive, von der Patientensituation ausgehende, also auf die Indikation bezogene Empfehlung von Arzneimitteln, die zu bevorzugen sind oder Handlungsanweisungen vorgegeben. Die FORTA-Liste umfasst in ihrer gegenwärtigen Fassung 273 Bewertungen in 29 altersrelevanten Indikationen; die Bewertungen reichen von A (positiv bewertet) über B (eingeschränkt positiv bewertet), C (kritisch, nur ausnahmsweise bei genauer Überwachung anwendbar) bis D (im Alter nicht geben). Diese Liste ist in einer randomisierten, kontrollierten Studie [VALFORTA-Studie (Wehling et al. 2016)] hinsichtlich ihrer Wirksamkeit als erster Listenansatz klinisch validiert worden. In dieser Studie wurden zweimal mehr als 200 Patienten entweder einer FORTA-gesteuerten Intervention oder der normalen geriatrischen Versorgung in zwei geriatrischen Kliniken (Mannheim und Essen) randomisiert unterzogen. Der primäre Endpunkt war der FORTA-Score, die Summe aus Über- und Untertherapiefehlern. Während Negativlisten auch Übertherapiefehler erkennen lassen (also Arzneimittel, die nicht mehr gegeben werden sollen), lassen nur Positiv/Negativ-Ansätze auch die Identifizierung einer Untertherapie, also ausgelassene oder nicht gegebene, aber günstige Arzneimittel zu. Diese Summe aus Über- und Untertherapiefehlern betrug im Durchschnitt beim etwas über 80-jährigen Patienten bei stationärer Aufnahme 3,5! Diese Fehlerzahl besserte sich auf 1 unter FORTA Bedingungen, die Änderung war damit 2,7-mal so groß wie in der geriatrischen Standardversorgung. Für den Nachweis einer Signifikanz dieses Therapieoptimierungseffektes wären vermutlich nur etwa 2x20 Patienten notwendig gewesen. Da die Studie aber deutlich mehr Patienten enthielt, ließen sich auch klinische Endpunkteffekte nachweisen: Die Zahl der Arzneimittelnebenwirkungen nahm unter FORTA Bedingungen im Vergleich zur Kontrollgruppe signifikant ab; der Effekt war so groß, dass nur fünf Patienten nach FORTA behandelt werden mussten, um eine Nebenwirkung zu verhindern. Dies entspricht also einer sogenannten Number Needed to Treat (NNT) von nur fünf! Dies wäre in einer z.B. kardiovaskulären Studie ein traumhaftes Ergebnis, denn dort werden auch NNTs von 30 oder 80 noch als therapieunterstützend angesehen.
Weiter besserte sich der Barthel Index als Summenmaß für die Funktionalität und Lebensqualität des Patienten signifikant besser als in der Kontrollgruppe. Ähnliche Effekte hat inzwischen auch eine ähnliche Studie zu den STOPP/START Kriterien nachweisen können (O’Connor et al. 2016).
Es ist allerdings anzumerken, dass nur mit der detaillierten Einzelbewertung von Arzneimitteln und Arzneimittelgruppen eine transtherapeutische Priorisierung von Arzneimitteln möglich ist, also eine Priorisierung von Arzneimitteln über Therapiegrenzen hinweg. So sind nach den FORTA-Vorgaben höchstens ein, maximal zwei C-Medikamente insgesamt zu tolerieren, da sonst die Überwachungsverpflichtung nicht mehr erfüllt werden kann. D.h., das FORTA-Prinzip zwingt dazu, „kritische“ Arzneimittel ungeachtet der Zahl und Art der Diagnosen so zu priorisieren, dass höchstens ein bis zwei dieser kritischen Medikamente gemäß der Bedeutung der symptomatischen Therapie und der Erfahrung mit der Therapie im Einzelfall übrigbleiben. Die START-Kriterien, die ja Handlungspaketen entsprechen, würden bei der Erfüllung von mehreren Kriterien wieder zu einer Additivpolypragmasie führen.
Grundsätzlich unterscheiden sich die letzten beiden Ansätze von den Negativlisten dadurch, dass sie nur in genauer Kenntnis des Patienten, seiner Diagnosen, der Schweregrade der Diagnosen und der Präferenz des Patienten, also implizit, anwendbar sind. Sie können also nicht vom niedergelassenen Apotheker, der den Patienten hinsichtlich dieser Eigenschaften ja nicht kennt, angewandt werden. Hier ist also in jedem Fall vor allem der Hausarzt derjenige, der die Optimierung durchführen kann und sollte, andererseits können anhand dieser Listen auch Fachärzte die in ihren Bereich fallenden Arzneimittel gegenüber dem Hintergrund der schon bestehenden Medikation prüfen und so die Optimierung der eigenen Therapie vor diesem Hintergrund durchführen. Die Negativlisten sind explizit, erfordern also keine genauen Patientenkenntnisse, können daher auch vom niedergelassenen Apotheker angewandt werden und sind in der epidemiologischen Forschung, z.B. anhand von relativ ungenauen Kassendaten, hilfreich. Sie eignen sich aber nicht für die Optimierung der Arzneimitteltherapie als Ganzem im Einzelfall (Wehling 2016). Daher ist für die Optimierung der Arzneitherapie im höheren Lebensalter die Anwendung von Positiv/Negativ-Kriterien oder -Listen sicher einer rein expliziten Negativlistenanwendung vorzuziehen, dies unterstreichen ja auch die positiven klinischen Endpunkteffekte dieser Ansätze, die sich im Bereich der expliziten Negativlisten bislang nicht eindeutig nachweisen ließen (siehe Abb. 1).
Die hoffnungsvollen Effekte der Intervention in VALFORTA beschreiben natürlich nur eine akute Intervention: Weitere Forschung muss sich dringend der Problematik der Persistenz der krankenhausbasierten Empfehlungen widmen, bzw. der Umsetzung der Erkenntnisse auch primär im hausärztlichen Bereich. Die zu erwartenden Mortalitäts- und Morbiditätseffekte durch die Reduktion von vergessenen, also guten Arzneimitteln, werden sich erst realisieren lassen, wenn eine längerfristige Anwendung dieser Prinzipien, also auch über Sektorengrenzen zwischen ambulanter und stationärer Medizin hinweg, aufrechterhalten lassen. In einer kürzlich erschienenen Arbeit wurde gezeigt, dass vor allem die unternutzten, also vergessenen Arzneimittel, z.B. zur Behandlung des hohen Blutdrucks oder des Vorhofflimmerns, sich besser mit Mortalität und Krankenhauseinweisungen korrelieren lassen als die Reduktion der Übertherapie (Wouters et al. 2016). Dies ist andererseits nicht verwunderlich, weil die Reduktion von vergessenen Arzneimitteln, also die Hinzufügung einer anhand von einigen ja auch für ältere Patienten schon vorliegenden Studien bekanntermaßen effektiven Therapie, ja nur die Teilnahme dieser älteren Patienten an den studienentsprechenden Medikationen beschreibt und damit die Ergebnisse dieser Studien bestätigen sollte.
Wir können heute durch Listenansätze eindeutig zu einer Optimierung der komplexen Arzneimitteltherapie im höheren Lebensalter beitragen und zwar sowohl durch die Reduktion schädlicher Therapien als auch durch die Ausschöpfung des großen therapeutischen Potenzials moderner Arzneitherapien, die genauso oft im hohen Alter nicht utilisiert werden wie überflüssige oder gefährliche Therapien. In der VALFORTA-Studie hat sich die mittlere Zahl der Arzneimittel trotz des klinischen Erfolges und der Optimierung der Arzneitherapie kaum verändert. Daher ist das in diesem Zusammenhang häufig verwendete Schlagwort („Catchword“) „de-prescribing“, also das vorwiegende Absetzen unter dem Eindruck dann schnell auftretender Entgiftungen, nicht mehr zu rechtfertigen: Die moderne Arzneimitteltherapie ist heute auch im Bereich älterer Patienten so erfolgreich, dass ihre Teilhabe an diesen Erfolgen sehr wünschenswert ist und sich auf längere Sicht nur so eine Ausschöpfung der therapeutischen Möglichkeiten erzielen lässt. Daher sollte „de-prescribing durch „re-prescribing“, also den Austausch schlechter durch gute Arzneimittel, ersetzt werden. <<