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Mühlbacher: „RCT alleine reichen nicht aus“

24.07.2017 14:00
Die Neuordnung der Nutzenbewertung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (NUB) mit Medizinprodukten hoher Risikoklassen, invasivem Charakter und neuem theoretisch-wissenschaftlichen Konzept ist seit gut einem Jahr in Kraft, erste Verfahren nach Paragraph 137h SGB V hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bereits abgeschlossen. Nach wie vor sind Fragen offen, u. a. ob der Patient oder die Expertise des Anwenders ausreichend abgebildet sind und für Innovationen genügend Transparenz und Vorhersagbarkeit besteht. Kürzlich kamen in Berlin Vertreter aus Wissenschaft, Klinik, Industrie, Ministerium, des G-BA, IQWiG und IQTIG zum Plenum der B. Braun-Stiftung und der Hochschule Neubrandenburg mit dem Titel „Transparent, patientennah, zeitkritisch – Die Nutzenbewertung von Medizinprodukten“ zusammen.

>> Die Experten legten ihre Sicht zum aktuellen Stand der Medizinproduktebewertung und zu zukünftigen Entwicklungen dar. Weitestgehend einig waren sie sich darin, dass innovative Methoden sicher und wirtschaftlich sein, vor allem aber möglichst rasch den Patienten zur Verfügung stehen sollen. Vor allem zu Methoden der Nutzenbewertung und der Evidenzgewinnung wurden unterschiedliche Standpunkte vertreten. Eine Herangehensweise, den Anforderungen von Medizinprodukten möglicherweise besser entsprechen zu können, wurde von Prof. Dr. Axel Mühlbacher von der Hochschule Neubrandenburg vertreten: die adaptive Nutzenbewertung. Hierbei wird über die Zeit in einem adaptiven Prozess die notwendige klinische Evidenz aufgebaut. Eine bedingte Zulassung ermöglicht den schnellen Zugang für kleine Patientengruppen mit hohem Handlungsdruck. Mit zunehmender Evidenzgenerierung kann schließlich eine Vollzulassung erreicht werden.
Eine der wesentlichen, noch nicht abschliessend geklärten Fragen lautet: Wie kann die systematische Nutzenbewertung von Medizintechnik erfolgen und welche Parameter und Zielkriterien sollen darin einfließen? Bei der Berücksichtigung von mehreren patientenrelevanten Endpunkten handelt es sich um multikriterielle Entscheidungsprobleme mit unterschiedlichen Zielkriterien. Mühlbacher argumentierte, dass die alleinige Berücksichtigung traditioneller klinischer Studiendesigns mit dem Referenzstandard der randomisierten kontrollierten Studien (RCT) nicht ausreichen, die Komplexität heutiger Versorgungsentscheidungen mit mehreren klinischen Endpunkten abzubilden. Zwar seien Messungen klinischer und nichtklinischer Effekte notwendig für die Entscheidung über den Einsatz und die Erstattungsfähigkeit von Medizinprodukten, aber nicht hinreichend, erklärte der Gesundheitsökonom. Im Rahmen der klinischen Entscheidungsfindung stellt sich die Frage, wie Patienteninteressen in die Nutzen-Risiko-Abwägung integriert werden. Werturteile im Rahmen der Nutzenbewertung sollten auf der Grundlage von Patientenpräferenzen formuliert werden. Eine adaptive Nutzenbewertung böte die Möglichkeit, auf dringende klinische Handlungsbedarfe schnell zu reagieren, dabei aber die kontinuierliche Reduktion der Unsicherheit zu garantieren. Dies kann auch unterstützt werden, indem NUBs in spezialisierten Zentren und flexiblen Stufen erprobt werden können.
Auch Prof. Dr. Dirk Stengel vom Unfallkrankenhaus Berlin beobachtet in der internationalen Biostatistik ein allmähliches Abrücken vom „Mantra“ der RCT. „Wir haben mittlerweile ein großes Methodenportfolio, was komplementär und synergistisch zu RCT ist“, berichtete der Leiter des Zentrums für klinische Studien. So ginge es beispielsweise der FDA nicht primär um das Studiendesign, sondern um die Datenqualität und die Festlegung im Vorhinein, welche Daten generiert und wie sie statistisch analysiert werden sollen. Hierbei rückt die Propensity Score Matching-Methode in den Fokus, mit der Verzerrungen von Studienergebnissen reduzierbar und Quasi-Randomisierungen möglich sind. Für ihn besteht da ein Defizit in Deutschland bzw. Europa, wo das methodische Beratungsangebot seitens der zuständigen Institutionen eingeschränkt sei. Das führe bei Herstellern häufig zu Unklarheit darüber, welche klinischen Daten mittels welcher Designs erhoben werden sollten oder müssen, um die Leistungsfähigkeit, die Effektivität und in der Endstrecke den Nutzen eines Medizinproduktes zu definieren, wie Stengel ausführte.
Unterschiedliche Sicht, was
evident ist und was nicht
Das sieht der G-BA anders. „Nur bei seltenen Erkrankungen oder Versorgungslücken kann der G-BA vom Standard der höchsten Evidenz (RCT oder systematische Übersichtsarbeit von RCT) abweichen“, erklärte Dr. Edith Pfenning, im G-BA für Methodenbewertung und veranlasste Leistungen zuständig. Methoden, über die der G-BA im Rahmen der Nutzenbewertung entscheidet, sollen mindestens der existierenden Standardbehandlung nicht unterlegen sein. Im Hinblick auf Invasivität, Nebenwirkungen und Behandlungsoptimierung werden von den Methoden Verbesserungen erwartet. „Und natürlich soll die Methode sicher sein“, betonte Pfenning. Für eine positive Entscheidung sei es erforderlich, den mehr als marginalen Nutzen einer Methode anhand patientenrelevanter Endpunkte nachzuweisen. Bei positiver Bewertung haben Krankenhäuser Anspruch auf Abschluss einer Vergütungsvereinbarung in drei Monaten, rückwirkend zum Zeitpunkt der Antragstellung. Ist das Ergebnis negativ, besteht aber „das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative“, folgt eine Erprobung, an der das Krankenhaus teilnehmen muss. In diesem Zusammenhang wies Pfenning auf das Beratungsverfahren für Krankenhäuser und Medizinproduktehersteller als wichtigen Verfahrensschritt hin, der Planungssicherheit für die Beteiligten bedeute.
Für Dr. Ulrich Orlowski, Leiter Gesundheitsversorgung – Krankenversicherung beim Bundesministerium für Gesundheit, stehen zwei Aspekte in Vordergrund: Jeder Versicherte bzw. Patient hat Anspruch auf eine qualitativ hochwertige und gleichermaßen wirtschaftliche Versorgung. „Damit besteht ein Anspruch auf Teilhabe an medizinischen Innovationen“, erklärte Orlowski. Der Anspruch des Versicherten auf eine qualitativ hochwertige und wirtschaftliche Versorgung beinhalte nach dem neuen NUB-Verfahren aber nur stationäre Methoden mit nachgewiesenem Nutzen bzw. Potenzial. Von den vom G-BA nach Paragraph 137h SGB V bisher beurteilten acht Methoden hätten nur zwei das Potenzial einer „erforderlichen Behandlungsalternative“, bei sechs konnten weder ein Nutzen noch ein Potenzial festgestellt werden. „Steht die jetzige Risikoabwägung – das ‚Besorgnispotenzial‘ – dem Innovationspotenzial entgegen und wird dadurch dem Patienten die Teilhabe an Innovation verwehrt?“, fragte deshalb Orlowski provokant. Denn mit dem Verfahren nach Paragraph 137 h sollte ein Weg zur Schaffung von Evidenz eröffnet werden: Gibt es aufgrund von Studien, die der höchsten Evidenzstufe entsprechen und Ergebnisse zu Mortalität, Morbidität und Lebensqualität liefern, keinen Nutzen, hat die Methode aber das Potenzial bestehende Untersuchungen oder Therapien zu verbessern, soll sie erprobt werden – um dadurch mehr Erkenntnisse für die weitere Bewertung zu gewinnen. Nach dem nun nur für zwei von acht Verfahren ein Potenzial erkannt wurde, stellte Orlowskis in Frage, ob der Paragraph 137h bzw. der Potenzialbegriff und die Verfahrensordnung die Grundlage für eine ausreichende Evidenzgewinnung biete.
Auch der BVMed fordert aufgrund der Vielfalt der Medizintechnologien variable Studiendesigns. Dr. Manfred W. Elff, Mitglied des BVMed-Vorstands, berichtete, dass elf Prozent der Medizinprodukte den Risikoklassen IIb und III entsprechen, bei denen das NUB-Verfahren greift. Elff hob hervor, dass bei der Nutzenbewertung die pauschale Übertragung der bei Arzneimitteln etablierten Methoden auf Medizinprodukte nicht möglich ist. Darüberhinaus müsse berücksichtigt werden, dass die Wirkungsweise eines Medizinprodukts nicht isoliert, sondern stets in Zusammenhang mit der spezifischen Anwendung durch den Arzt zu betrachten sei.
Ein spezielles Problem bei der Bewertung von Methoden z.B. der Diagnostik, von bildgebenden Verfahren oder von Gefäßstützen besteht für Prof. Dr. Windeler, Leiter des Instituts für Qualitätssicherung und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), darin, dass solchen Methoden eine hohe eigene Plausibilität zuzukommen scheine, wodurch die kritische Betrachtung leide. Hinzu kämen dann oft die besonderen Bedingungen von Medizintechnik, „die im Vergleich zu Arzneimitteln vor Markteintritt nur eine begrenzte technik-
orientierte Prüfung durchlaufen“, wie Windeler erklärte. In Bezug auf das Verfahren der CE-Kennzeichnung kritisierte Windeler, dass Unterlagen nicht eingesehen werden können. Außerdem sei die Evidenz für die Methodenbewertung seiner Ansicht nach oft unzureichend.
Die Evidenzbasis, die Institutionen des Health Technology Assessments (HTA) für die Evaluation von Medizinprodukten hoher Risikoklassen nutzen können, beleuchtete Prof. Dr. Reinhard Busse vom Lehrstuhl Management im Gesundheitswesen an der Technischen Universität Berlin. Von insgesamt 1237 HTA-Berichten 33 europäischer Institutionen aus 17 Ländern der Jahre 2004 bis 2015 würden 93 den Kriterien des Paragraphen 137h entsprechen. „Diese Berichte referieren knapp 900 Studien. Von diesen Studien erfüllen rund die Hälfte nur die geringste Evidenzstufe und etwa 30 Prozent die Evidenzstufe eins, also RCT. Weniger als fünf Prozent der Studien entsprechen einem hohen Evidenzniveau und guter Qualität“, erklärte Busse. Um diese Situation zu verbessern, wird u.a. im Rahmen eines kanadischen Programms gefordert, die nötige Evidenz z.B. durch „Real-World“-Studien vor der Zulassung zu gewinnen.
„Nutzen ist immer etwas Individuelles und Studien liefern Gruppenergebnisse“, betonte Dr. Christof Veith. Für den Geschäftsführer des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) gibt es kein objektives Behandlungsziel, sondern das Ziel des Patienten. Im Dialog werde versucht herauszufinden, was für den jeweiligen Patienten Nutzen bedeute. „Das ist nicht unbedingt eine bestimmte Gehstrecke, sondern können Tätigkeiten sein, die die Teilhabe am Leben ermöglichen“, erklärte der Arzt. Damit Qualitätssicherung Innovationen nicht hemmen, soll am IQTIG eine begleitende Qualitätssicherung für Innovationen versucht werden, mit der relativ schnell entsprechende Ergebnisse gewonnen werden können.
Die dritte Plenumsveranstaltung mit über 130 Teilnehmern bildet den Abschluss einer Veranstaltungsreihe und eines zweijährigen Forschungsprojektes der B.Braun-Stiftung in Kooperation mit der Hochschule Neubrandenburg zum Wert von Medizinprodukten. Damit entstanden die inhaltliche Basis und ein Forum für wichtige Diskussionen. „Ich bin dankbar, dass wir dieses Projekt unterstützen konnte, und dass es so einen nachhaltigen Anklang fand. Es ist gelungen, die wesentlichen Akteure zusammenzubringen. Das Thema Nutzenbewertung wird uns weiter beschäftigen“, sagte Prof. Dr. Alexander Schachtrupp, Geschäftsführer der B. Braun-Stiftung, und stellte mögliche weitere Projekte zu diesem Thema in Aussicht. <<
von: Matthias Manych

Ausgabe 04 / 2017

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