„Digitalisierung ersetzt keine Strukturdebatte“
http://10.24945/MVF.04.17.1866-0533.2026
>> Herr Müller, welchen Wert hat Versorgungsforschung für Sie als Strategie-Vorstand einer Versandapotheke?
Dazu muss man nur einen ganz kleinen Schritt zurücktreten und den Status Quo der Versorgungsforschung betrachten: Diese junge Wissenschaft hat es geschafft, zu einem, wenn nicht dem zentralen Bestandteil der Innovationsfonds zu werden. Das heißt nichts anderes, als dass diese Wissenschaft – endlich ausreichend finanziert – nun die Früchte ernten kann, die sie über viele Jahre gepflanzt hat. Chapeau für diesen Erfolg. Doch nun kommen mehr und mehr Symbolbegriffe und Metatrends auf, die sich Digitalisierung und Big Data nennen und die von der Versorgungsforschung fordern, ihr Instrumentarium zu erweitern. Das ist dringend notwendig, um so auch für diese gesellschaftlich hoch relevanten Trends Antworten zu finden, wie diese die Gesundheitsversorgung beeinflussen und – im besten Falle, wovon auszugehen ist – verbessern. Stemmt die Versorgungsforschung diese Herausforderung, dann zeigt sie damit automatisch auch ihren Wert nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für jeden einzelnen Patienten sowie alle Akteure im Gesundheitsmarkt, zu denen seit mehr als 15 Jahren auch Versandapotheken zählen. Als Pfaff und Schrappe in den 90er Jahren den Begriff der „letzten Meile“ geprägt haben, bewiesen sie damit eine gehörige Portion Weitblick, auch wenn mir ihre Umschreibung etwas zu technokratisch anmutet, weil sie eigentlich nichts anderes als die Patientensicht und -dimension umschreibt, die einzig und alleine durch und mit Versorgungsforschung analysier- und beschreibbar ist. Dieser Wert wird meines Erachtens in der nächsten Legislaturperiode politisch eine noch viel größere Rolle als bisher spielen.
Prinzip Hoffnung?
Aber nein. Das ist ganz pragmatisch gedacht, weil die Akzeptanz und die absolute Notwendigkeit, unsere Versorgungssysteme vernünftiger zu gestalten, weiter zunehmen wird.
Sie sprechen damit eigentlich nicht nur von Versorgungsforschung an sich, sondern auch vom Wert von Daten.
Daten bieten für sich isoliert nicht wirklich einen Mehrwert. Nun aber hat die Versorgungsforschung ein hochwertiges Instrumentarium, das in den letzten Jahren und Jahrzehnten entwickelt worden ist, zur Verfügung, um die Daten von Kassen, Vor-Ort- und Versandapotheken sowie Arzt-Abrechnungszentren nach allen Richtlinien des Datenschutzes nutzbar zu machen. Wir stehen jedoch erst am Anfang einer Entwicklung, in der langsam aus der fast symbiotischen Verbindung aus Versorgungsforschung und Daten eine Neuentwicklung der gesamten Gesundheitsversorgung entsteht. Je besser die Datenqualität wird, umso größer und weitreichender werden die möglichen Ableitungen und der individuelle Nutzen für den Patienten daraus. Letztlich ermöglicht die Digitalisierung eine Steuerungsfunktion, um das System ganz neu zu denken und zu vernetzen.
Das aber muss man wohl in den Köpfen vieler Akteure erst einmal verankern.
Sicher, aber es bewegt sich doch einiges. Nehmen wir zum Beispiel den Start-up-Gipfel zur Digitalisierung im Gesundheitswesen. Dieser fand im Wirtschaftsministerium statt. Also nicht im BMG oder dem BMBF, was ja schon für sich genommen ein Zeichen ist. Bemerkenswert aber war, dass während einer Diskussion um den Telemedizindienst DrEd, der KBV-Chef Dr. Gassen diese Online-Arztpraxis zwar nicht gerade begrüßte, aber auch nicht verteufelte, sondern die Ansicht vertrat, dass man heutzutage mithilfe von Algorithmen einen guten Anamnesebogen zu Stande bringt, ohne dass der Arzt vorher den Patienten gesehen haben muss.
Für einen Ärztefunktionär doch recht erstaunlich.
Absolut. Natürlich bleibt er bei dem Standpunkt, dass der Arzt den Patienten nach wie vor sehen muss, aber solche Algorithmen durchaus hilfreich sein können. Sie vermeiden unnötige bürokratische Arbeit und ermöglichen es, die qualitative Zeit viel effizienter zu gestalten, weil der Arzt wirklich kurativ tätig werden kann. Wenn wir es schaffen, die Digitalisierung als Hilfsmittel einzusetzen, um die wichtige und auch teure Zeit des Mediziners als auch des Pharmazeuten effektiver zu verwenden, wären wir ein großes Stück weiter. Voraussetzung hierfür wäre allerdings, dass Politik und Gesellschaft proaktiver als bisher das Gesundheitssystem gestalten – denn verändern tut es sich in jedem Fall.
Überall sonst ist das das absolut Normalste der Welt ist: Stichwort Industrie 4.0.
Warum soll denn die Digitalisierung ausgerechnet um die Gesundheitsversorgung einen Bogen machen? Wir müssen die Debatte rund um dieses wichtige Thema im Gesundheitswesen konsequent führen, um mit der Entwicklung Schritt halten zu können.
Was nicht ganz einfach ist ...
... aber nur deshalb, weil es um viel Geld geht, das in über Jahrzehnte gefestigten Strukturen verteilt wird. Darum braucht eine solche Debatte eben so viel Zeit. Die sich daraus entwickelnden Änderungen sind darum auch nie disruptiv, sondern langsam und evolutionär. Das ist nun einmal realistischerweise so, auch wenn das vor allem für die Patienten, aber auch für viele neuere Anbieter in diesem System recht unbefriedigend ist.
Solange das Thema Digitalisierung als nebulöser Angstfaktor missbraucht wird, wird das Positive, was Digitalisierung ermöglichen kann, immer nur sehr stark gebremst umgesetzt.
Das Thema Angst wird immer nur dann als Kommunikationsmittel eingesetzt, wenn man selbst keine Lösung hat oder sich selbst keine Alternativen vorstellen und entwickeln kann. Genau das fand im Gesundheitssystem über Jahre und Jahrzehnte hinweg statt. Dabei war und ist allen handelnden Akteuren und Politikern ebenso lange bekannt, das alleine die demografische Entwicklung in der Patientenpopulation, aber auch in allen beteilig-
ten Berufsgruppen der Heilberufler unbarmherzig zuschlagen wird. Was nichts anderes heißt, als dass immer mehr und älter werdende Menschen von immer weniger Ärzten, Apothekern, PTAs etc. versorgt werden müssen. Gleiches gilt natürlich in allen anderen Berufen und Bereichen auch, nur hat der demografische Wandel im Gesundheitssystem eine viel höhere und vor allem direktere Auswirkung auf den Patienten.
Tja, alles kommt immer so arg plötzlich.
Das erinnert doch irgendwie ganz frappant an die Mobilfunkbranche. Als 1999 das erste Blackberry für Geschäftsleute eingeführt wurde, dachten alle, dies sei nun aber wirklich der Gipfel des technologisch Möglichen. Bis vor genau zehn Jahren Apple das erste iPhone auf den Markt brachte und quasi über Nacht eine ganze Branche revolutionierte; einer Branche, von der man eigentlich angenommen hatte, sie würde sich nur evolutionär in kleinen Schritten entwickeln.
Es kommt immer anders als man denkt.
Ja, und so ähnlich ist das heute im Gesundheitswesen. Die Chancen der Digitalisierung für die qualitative Erneuerung des Gesundheitswesens wurden zwar erkannt, doch erfolgt die politische Umsetzung nur in kleinen Schritten. Wir müssen beispielsweise feststellen und damit umgehen, dass sich viele Menschen immer schwerer damit tun, sich im ländlichen Raum anzusiedeln. Gleichzeitig nimmt aber die Debatte um den ländlichen Raum – zumindest gefühlt – in der Öffentlichkeit immer mehr zu, obwohl es einen deutlichen Trend zur Urbanisierung gibt – zumindest was die Bevölkerungszahlen angeht. In manchen Bundesländern wird aktuell nun sogar ernsthaft darüber diskutiert, Zwangsansiedlungen in Zusammenhang mit dem Medizinstudium durchzuführen. Digitale Lösungen gibt es seitens der Politik nur als Modellvorhaben. Verbraucher und Anbieter, die vielleicht bisher nicht mal im Gesundheitsmarkt vertreten waren, werden daher schnell selbst nach Lösungen suchen bzw. diese anbieten.
Zeitgleich aber werden immer noch Ängste geschürt, weil von etablierten Stakeholdern nur zu oft propagiert wird, dass die Digitalisierung Versorgungsstrukturen gefährden würde.
Dabei ist es doch genau umgekehrt! Die erfolgreichen Digitalisierungsoptionen im Gesundheitsbereich sind doch nur deshalb erfolgreich, weil sie eine Lücke füllen, die die stationäre Versorgung irgendwann einmal hinterlassen hat. Von ganz alleine, ohne Zutun anderer. Wenn es im ländlichen Raum immer weniger oder auch nur immer schwerer zugängliche Versorgungsstrukturen gibt, suchen die Menschen nach einer Alternative.
Das ist wohl Ihr Stichwort …
... worauf ich ja auch die ganze Zeit gewartet habe. Denn die Versand-apotheke ist nun einmal genau die Alternative, die zu einem nach Hause kommt, statt selbst irgendwohin gehen zu müssen. In diesem Zusammenhang ärgert es mich, wie unredlich und polemisch teilweise die Diskussion geführt wird. Wenn ich mir nur einmal anschaue, über welche Regionen da gesprochen wird, in denen die zumindest prognostizierte Zunahme der Versandapotheken die Versorgungsstruktur gefährden soll, dann lohnt sich ein Blick in den Bundesverkehrswegeplan. Dort hat die politische Führung in diesem Land definiert, wo in Infrastruktur in den nächsten anderthalb Jahrzehnten investiert wird und wo nicht. Interessanterweise meist nicht in den Regionen, in denen bereits heute Versorgungsengpässe und Nachwuchsprobleme existieren.
Sie fordern mehr Ehrlichkeit ein?
So viel möchte ich gar nicht fordern. Mir würde es schon reichen, wenn Ängste genommen, statt Ängste geschürt würden.
Digitalisierung ist aber nun einmal auch nicht die Lösung all unserer Probleme.
Kann sie auch nicht sein, aber Digitalisierung führt dazu, dass manche Probleme zumindest gemildert werden können. Ein Geschäftsmodell wie unseres kann nur unter einer einzigen Prämisse erfolgreich sein: die Zufriedenheit unserer Kunden, der Patienten. Das ist unser oberstes Credo, denn unzufriedene Kunden bestellen nie wieder bei uns. Doch die etablierten Stakeholder negieren das einfach und argumentieren damit, dass Versandapotheken der Versorgungsstruktur irgendetwas wegnehmen würden. Wie denn, frage ich, solange jeder in diesem Land die freie Wahl hat, und sich für Option A oder Option B entscheiden kann. Da findet doch keine Verdrängung statt, sondern es geht um Qualität und Vertrauen. Ob wir es wollen oder nicht, wir können uns von dieser gesellschaftlichen Entwicklung weder entkoppeln noch entschleunigen, weil wir sie ohnehin nicht aufhalten können. Und, einmal Hand aufs Herz, doch auch nicht aufhalten wollen.
Stopp. In dem Gutachten „Wettbewerbsökonomische und gesundheitspolitische Begründetheit eines Versandverbots verschreibungspflichtiger Arzneimittel“, im Auftrag der Noweda, vorgelegt von Professor Dr. Uwe May, Cosima Bauer und Rechtsanwalt Dr. Heinz-Uwe Dettling, steht, dass alleine – durch die durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 19.10.2016 möglichen – Rx-Boni in der nächsten Zukunft rund 1.000 Apotheken im ländlichen Raum wegfallen könnten.
Dem EuGH konnten im vergangenen Jahr diesbezüglich keine Belege vorgelegt werden und Boni gab es bereits bis zum Jahr 2012. Wer sich allerdings die Altersstatistik der Apothekerschaft anschaut, sieht doch auf einen Blick, wie viele Apotheker in absehbarer Zeit ins Rentenalter kommen. Zählt man die zusammen, wird man wahrscheinlich auch auf die Zahl von 1.000 kommen. Selbst ABDA-Präsident Schmidt empfiehlt Studenten, in eine große Apotheke in guter Lage und mit guter Frequenz zu investieren, da in den kommenden Jahren weitere kleinere Betriebsstätten schließen müssten.
Was aber nun nichts mit Rx-Boni oder Versandapotheken zu tun hat.
Eine Annahme übrigens, für die es keinerlei Evidenz gibt. Einfach darum, weil es keinen Zusammenhang zwischen dem apostrophierten Apothekensterben und dem Wachstum von Versandapotheken gibt. Der Evidenzzusammenhang ist Null Komma Null.
Welchen gibt es dann?
Viele ins Rentenalter kommende Apotheker in strukturschwachen Gebieten finden einfach keinen Nachfolger. Hauptgrund hierfür ist, dass der in dem betreffenden Ort angesiedelte niedergelassene Arzt entweder inzwischen seine Praxis geschlossen oder diese in die nächst größere Gemeinde oder in ein Mittelzentrum verlegt hat. Somit fehlt der Apotheke vor Ort eine große, wenn nicht gar die größte Umsatzmöglichkeit: Ohne Arzt kein Rezept, ohne Rezept kein Umsatz und ohne Umsatz macht die Apotheke eben zu. Das liegt alleine darin begründet, dass nun einmal die Menge an Rezepten den Umsatz determiniert – das ist ein politisch gewollter, zumindest hingenommener und auch nie korrigierter Fehlanreiz. Gleiches gilt in ähnlicher Weise aber auch für überversorgte Regionen. Allerdings gibt es Stadtteile mit bis zu elf Apotheken auf sieben- oder achthundert Metern. Eine solche Anzahl wird sicher nicht für die Versorgung benötigt, aber die dort angesiedelten Ärzte garantieren den Apothekern offenkundig einen ausreichenden Umsatz.
Jetzt könnte man sagen: Nicht der Umsatz ist relevant, sondern die Rendite.
Richtig, wenn wir das Modell der Höchstpreise in Deutschland hätten. Ginge ein Apotheker nach der Rendite, müsste er in diesem System ein höheres Interesse haben, in den ländlichen Raum zu gehen, wo keine Wettbewerbssituation vorliegt und er dem Kunden geringere Boni bieten müsste. Dann wird der Landapotheker vielleicht einen geringeren Umsatz, aber eine deutlich höhere Rendite erzielen. Doch genau das findet nicht statt, da wir ein Festpreissystem haben. Die aktuelle Entwicklung ist also weder die Schuld der Digitalisierung, noch der Versandapotheken.
Dann sind es die zertifizierten Versandapotheken, die den Menschen in diesen Regionen als recht bequeme und schnelle Einkaufsmöglichkeit verbleiben?
Was ist denn daran so schlimm, wenn Menschen, dort, wo es keine anderen oder schwerer zugänglichen Einkaufsmöglichkeiten gibt, ihre Bücher bei einem Unternehmen A aus Seattle, ihre Schuhe und Kleidung von einem Unternehmen Z aus Berlin und ihre Medikamente eben bei einem Unternehmen D aus Heerlen bestellen? Einfach, weil sie keine Lust, Zeit oder auch keine Möglichkeit haben, 20 oder auch nur 15 Kilometer durch den ländlichen Raum mit dem öffentlichen Nahverkehr zu fahren, der sowieso nicht in der Taktung fährt wie in den Metropolen.
Was uns zur Frage der flächendeckenden Versorgung führt.
Dieser Begriff ist überhaupt nicht klar definiert, sondern wird genauso wie die Digitalisierung als politisches Kampfwort missbraucht. Nehmen wir mal die Ärzteschaft, für die es doch eine recht klare Bedarfsplanung gibt. Nach dieser Bedarfsplanung müsste es eigentlich überall genug Ärzte geben, sodass es im Umkehrschluss, eigentlich auch genug Apotheken geben müsste. Die Realität sieht allerdings anders aus. Wir sehen einen Zuwachs bei den Neuansiedelungen von Apothekern in den Innenstädten, weil sie dort beispielsweise eine höhere Lebensqualität für sich vorfinden. Es gibt mehr Arbeitsmöglichkeiten für die Partner sowie Schulen und Kitas für die Kinder. Was ja auch ganz verständlich und nachvollziehbar ist.
Das ist im Prinzip doch nur die ganz normale Auswirkung einer seit Jahren in Kauf genommenen Fehlsteuerung.
Leider, denn vor elf Jahren waren wir schon weiter. Damals wurde diese Fehlsteuerung erkannt und sollte auch korrigiert werden. So wollte der Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler die Beratung in der Apotheke steigern, verpflichtende Beratungsräume einführen und die Freiwahlfläche reduzieren.
In einem nächsten Schritt sollte dann die Therapie noch stärker unterstützende Beratung gesondert vergütet werden.
Was passierte? Der Aufschrei der Heilberufler war riesengroß, die dieses Ansinnen der Politik als einen Eingriff in ihre kaufmännische Tätigkeit begriffen. Das Problem ist, dass die Apotheker sich einmal als Heilberufler, das andere Mal als Kaufleute verstehen, immer so wie es am besten passt. Ihnen fehlt eine eindeutige Positionierung ihres Berufsstandes.
Warum waren Sie denn gegen Beratung?
Beratung hat doch nur dann einen Effekt, wenn sie auf einer Evidenzgrundlage basiert. Was nicht so einfach ist, wenn es keine Vergleichsmöglichkeit und Transparenz gibt, zum Beispiel über eine elektronische Patientenakte, die bei uns übrigens schon vor zehn Jahren eingeführt wurde.
Ist denn die Vor-Ort-Beratung in einer Apotheke besser als per Video?
In der aktuellen politischen Diskussion wird argumentiert, dass der Apotheker den Patienten besser „therapieren“ kann, wenn er vor ihm steht. Das aber ist völliger Nonsens, weil kein Apotheker einem vor ihm stehenden Patienten ansehen kann, ob er krank ist oder wird. Das ist nicht die Aufgabe des Apothekers, sondern die des Arztes! Der Apotheker muss sich auf das Arzneimittelmanagement konzentrieren, was er – da beißt sich die Katze in den Schwanz – aber nur dann kann, wenn er das nötige Instrumentarium hat. Dies besitzt der Vor-Ort-Apotheker jedoch oft nicht. DocMorris hingegen schon.
Was bedeutet denn die Erlaubnis der Rx-Boni durch das EuGH aus dem Oktober letzten Jahres für DocMorris?
Im Bereich der rezeptpflichtigen Medikamente konnte seit dem Urteil erstmals seit dem Bonusverbot 2012 eine positive Neukundenentwicklung herbeigeführt werden. Im ersten Quartal 2017 wuchs das Rx-Geschäft mit dem Markt, der Umsatz konnte um 6 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gesteigert werden. Im OTC-Segment erhöhte sich der Umsatz zwischen Januar und Ende März um 45 Prozent. Insgesamt wuchs der Umsatz von DocMorris im ersten Quartal 2017 um 17 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum.
May, Bauer und Dettling schreiben aber nun in ihrem Gutachten, dass schon heute etwa 25 Prozent der Rezepte erst zwei Tage nach der Verschreibung durch den Arzt in Apotheken vor Ort eingelöst würden und „mindestens die Versorgung mit diesem Nicht-Akutbedarf aufgrund von Preisanreizen zu Versandapotheken abwandern“ könnte.
25 Prozent bei Rezepten für die Versandapotheken, ist bei den Strukturen, die wir heute haben, auf lange Zeit sehr unrealistisch und wir sollten daher die Realität betrachten. Seit dem EuGH-Urteil hat DocMorris im Umsatz um 6 Prozent zugelegt. Das klingt auf den ersten Blick ganz ordentlich, was sich aber relativiert, wenn man weiß, dass im gleichen Zeitraum der Markt der verschreibungspflichtigen Arzneimittel auch um rund 6 Prozent gewachsen ist. Das Wachstum generiert sich aus demografischen Gründen, denn unsere älterwerdende Gesellschaft braucht nun einmal mehr Medikamente. Das ist aber auch schon alles.
Und weit entfernt von einer Umsatzexplosion.
Genau. Der Rx-Umsatz auf dem deutschen Apothekenmarkt im Jahre 2003, das heißt vor der Zulassung des Arzneimittelversandhandels durch die deutsche Bundesregierung, betrug 24 Milliarden Euro. Bis zum letzten „Boni-Jahr“ 2012 ist der Rx-Versandhandelsumsatz von EU-ausländischen Versandapotheken auf maximal 400 Millionen Euro gestiegen. In demselben Jahr betrug der Rx-Umsatz auf dem deutschen Apothekenmarkt 34 Milliarden Euro – der Anteil der EU-Versandapotheken daran: rund 1 Prozent. In acht Jahren ist es diesen Versandapotheken trotz Boni nicht gelungen, einen höheren Marktanteil zu erzielen. Auch nach dem EuGH explodieren die Umsätze nicht, sondern wir wachsen mit dem Markt.
Was würde das denn das für die einzelne Apotheke bedeuten?
Für die deutsche Vor-Ort-Apotheke bedeutet dies, dass sie keinen bestehenden Rx-Umsatz an Versandapotheken verliert. Nur das zukünftige Wachstumspotenzial wird unter Umständen minimal begrenzt. Keine deutsche Vor-Ort-Apotheke, auch keine noch so kleine, muss wegen eines derart marginalen Betrages den Markt verlassen. Der Vollständigkeit halber sollten wir auch die Zahlen der ABDA betrachten, die in ihren Berichten darlegt, dass der Umsatz und das Betriebsergebnis der sogenannten Durchschnittsapotheke in den letzten vier Jahren um 12,7 Prozent von 126.000 auf 143.000 Euro gestiegen ist. Gleichzeitig ist der Durchschnittsumsatz von 1,8 auf 2,2 Millionen gewachsen. Allein in dieser Legislaturperiode wurde über eine Milliarde Euro an neuer Vergütung an Vor-Ort- und Versandapotheken ausgeschüttet.
Wie stark wird denn DocMorris wachsen?
Natürlich gibt es ein weiteres Wachstumspotenzial, aber eben keine Verdoppelung oder Verdreifachung. Das war, ist und bleibt völlig illusorisch, weil wir bei unserem Geschäftsmodell über gelerntes Verhalten reden, das sich nach 17 Jahren Versandhandel und Onlineapotheke entwickelt hat. Die Kunden haben sich an den Prozess gewöhnt und ihn auch verstanden. Geholfen hat uns sicher auch die große öffentliche Aufmerksamkeit nach dem EuGH-Urteil, denn so haben viele erst erfahren, dass es eine Alternative zu den Vor-Ort-Apotheken gibt, die man mal ausprobieren kann. Und natürlich bestellen diese Kunden in Teilen auch wegen des Bonus bei uns. Ich sage aber ganz bewusst „in Teilen“, weil sie nur dann DocMorris-Kunden bleiben, wenn Qualität, Service und Beratung stimmen.
Stichwort: Elektronische Patientenakte.
Gibt es bei DocMorris seit 2009 und erlaubt uns einen nahezu 360-Grad-Blick auf den Kunden. Dank der Patientenakte können wir unsere Kunden noch individueller und besser beraten. Auch die Sicherheit für den einzelnen Patienten wird dadurch erhöht, da wir so zum Beispiel täglich viele Doppelverordnungen aufdecken können. Häufig erhalten wir völlig korrekte Rezepte, die wir jedoch nicht bedienen, weil wir aufgrund der vorliegenden Medikationshistorie sehen können, dass der Patient dieses Arzneimittel schon von einem anderen Arzt verordnet bekommen hat. Selbstverständlich informieren wir dann den Patienten und mit seinem Einverständnis auch die behandelnden Ärzte.
Rein formal hätten Sie das Rezept natürlich bedienen und damit Umsatz machen können.
Ja, aber das verstößt gegen unsere pharmazeutischen Leitlinien und das würde auch keine Vor-Ort-Apotheke tun, wenn sie davon Kenntnis erlangt.
Wollen Sie eine Diskussion um Qualität, Service, Beratung und Versorgungsstrukturen führen?
Immer. Wir müssen sie aber auch ehrlich und an Fakten orientiert führen! Digitalisierung ist ein Handwerkszeug, ein Tool, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sie ist aber vor allem kein Zauberwort oder gar ein Ersatz für eine dringend notwendige Strukturdebatte. Und: Sie ist kein Ersatz für den Menschen. Digitalisierung unterstützt den Menschen und unterstützt ebenso den Heilberufler, der sich dann wieder mehr seiner kurativen Tätigkeit widmen kann.
Was ist denn mit Ihrer Videoberatung mit Arzneimittelabgabe im Odenwälder Ort Hüffenhardt, dessen einzige Apotheke seit 2015 geschlossen ist?
Alle reden über die Förderung und Attraktivität im ländlichen Raum, aber wenn neue digitale Lösungen zur Versorgung der Bevölkerung umgesetzt werden, dann sind die Apotheker dagegen. In Hüffenhardt haben wir nach Abstimmung mit dem Bürgermeister und der Gemeinde ein alternatives und digitales Versorgungskonzept in Form einer Videoberatung mit Arzneimittelabgabe für die Hüffenhardter umgesetzt, ohne Steuergelder. Erst als wir unsere Pläne angekündigt haben, wurde die Rezeptsammelstelle von den Apothekern im Ort installiert und wir zum Zeitpunkt der Eröffnung des Services umgehend verklagt.
Von wem?
Vom Landesapothekerverband Baden-Württemberg, von einer in Nord-rhein-Westfalen ansässigen Versandapotheke sowie mehreren Apotheken, im Zusammenspiel mit der Noweda, einem apothekeneigenen pharmazeutischen Großhändler.
Der sich damit rühmt, dass er zu 100 Prozent Apotheken gehört.
Und der auch im Ausland Apotheken gekauft hat, und die Dividende, die er aus Europa und dem Binnenmarkt bekommt, an die an ihm beteiligten deutschen Apotheker ausschüttet. Das ist eigentlich das Verrückteste an dieser ganzen Debatte.
Ist denn die Videoberatung mit Arzneimittelabgabe nun verboten?
Aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung mussten wir vorläufig schließen. Allerdings haben wir beim Verwaltungsgericht in Karlsruhe Klage erhoben. Dieses Verfahren läuft noch. Dort möchten wir elementare Rechtsfragen zu alternativen und digitalen Versorgungskonzepten klären lassen, die für die künftige Arzneimittelversorgung speziell in ländlichen Regionen von großer Bedeutung sind.
Was kommt in der Zukunft?
Das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Sicher ist jedoch, dass wir Experimentierräume brauchen, um neue Modelle und alternative Versorgungskonzepte zum Wohl der Bevölkerung auszuprobieren.
Wie viel potenzielle Stellen für solche „Alternativen“ gibt es denn in Deutschland?
Man kann, je nachdem wie man Versorgungsnähe definiert, von zahlreichen Kommunen – deutschlandweit verteilt – ausgehen, in denen es schon heute Versorgungsschwierigkeiten gibt oder bald geben wird. Im Apothekenmarkt bieten aktuell über 1.200 Rezeptsammelstellen einen Anhaltspunkt. Die Erlaubnis zum zeitlich befristeten Betrieb einer Rezeptsammelstelle wird durch die zuständige Behörde erteilt, wenn zur ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung von abgelegenen Orten/Ortsteilen ohne Apotheken eine Rezeptsammelstelle erforderlich ist.
Bieten Sie auch Adhärenz- und Compliance-Programme an?
Ja. Diese entwickeln und realisieren wir in Zusammenarbeit mit pharmazeutischen Unternehmen und Krankenkassen. Namen kann ich leider noch nicht nennen, da die Evaluationen noch laufen.
Funktionieren sie denn?
Sie funktionieren nachweislich. Das zeigen unsere eigenen Auswertungen. Teilnehmer haben im Schnitt eine 16 Prozent höhere Therapietreue als Nicht-Teilnehmer.
Eigentlich müsste doch die Apothekerschaft dankbar sein, wenn endlich jemand den Zusammenhang zwischen Adhärenz und Compliance und Apothekenversorgung beweist.
Das sehen die Vor-Ort-Apotheker nicht so.
Aber wer hätte das denn sonst erforschen können?
Das ist doch genau unsere These: Anstatt sich länger gegenseitig argumentativ das Leben schwer zu machen, sollte man gemeinsam nach vorne denken. Der Arzneimittelmarkt wird aufgrund der demografischen Effekte so oder so wachsen und die meisten Kunden der niedergelassenen Kunden bleiben doch auch der Apotheke vor Ort treu. Aber man könnte doch gemeinsam unsere Erfahrung und unsere größere Einheit nutzen, um davon zu profitieren – im Sinne des Kunden und im Sinne einer besseren Versorgungsqualität. Aber in der aufgeheizten Atmosphäre von gestern und auch noch heute sind wir noch weit davon entfernt. Eigentlich schade – hauptsächlich für den Patienten.
Wie viele Apotheken repräsentiert DocMorris eigentlich, wenn man einmal die ABDA-Normalapotheke nimmt?
Würde man diesen Durchschnittswert nehmen, dann wäre DocMorris so groß wie 150 bis 160 Apotheken, was eine große Menge an Patientenhistorien und Daten ausmacht, die wir, mit dem Einverständnis unserer Kunden, für Versorgungsforschung nutzen.
Wie nutzen Sie die Daten?
Die vorliegenden Routinedaten nutzen wir für Erhebungen im Rahmen der qualitativen Marktforschung, Anwendungsbeobachtungen sowie Patient Reported Outcomes.
Herr Müller, danke für das Gespräch. <<
Das Interview führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.
Zitationshinweis : Stegmaier, P.: „Digitalisierung ersetzt keine Strukturdebatte“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (04/17), S. 36-40; doi: 10.24945/MVF.04.17.1866-0533.2026