Schachtrupp: „Ein wichtiges Element, aber nicht das Einzige“
>> Herr Prof. Mühlbacher, Sie argumentierten, dass die alleinige Berücksichtigung traditioneller klinischer Studiendesigns, also RCT, nicht ausreichen, die Komplexität heutiger Versorgungsentscheidungen mit mehreren klinischen Endpunkten abzubilden. Ist das wirklich eine neue Erkenntnis? Oder ist das vielleicht eine, die unter dem Dogma RCT einfach vergessen wurde?
Die Forderung bezieht sich auf die Gewichtung von patientenrelevanten Endpunkten. Im Rahmen der Nutzenbewertung sollten die Patientenpräferenzen berücksichtigt werden. Der Unterschied zwischen Messen und Bewerten ist für die Nutzenbewertung wesentlich: Gegenstand der Messung können klinische und nichtklinische Effekte sein. Zuvor sollte jedoch geklärt werden, welche klinischen Zielgrößen zur Beurteilung des klinischen Nutzens herangezogen werden. Bei der Bewertung von Gesundheitstechnologien müssen nicht mehr nur „objektive“ klinische Effektparameter einbezogen werden, vielmehr geht es hier auch um die Abwägung von Nutzen und Schaden. Diese Abwägung der Regulierungsbehörden sollte eben durch die Patientenperspektive informiert werden. Erwünschte oder unerwünschte Effekte bestimmen den Wert einer Maßnahme für den Patienten. Wissenschaftliche Studien zu den Präferenzen können diese Wertermittlung bzw. die Abwägung von Nutzen und Schaden auf solide Beide stellen. Neu ist diese Forderung aber wirklich nicht. Es war David Sackett von der McMaster University, der Vater der evidenzbasierten Medizin, der die Bedeutung der Patientenpräferenzen herausgearbeitet hatte. Umso schlimmer, dass bis heute keine systematische, wissenschaftliche und transparente Erhebung der Patientenpräferenzen bei der frühen Nutzenbewertung stattfindet.
Herr Prof. Schachtrupp, was war denn Ihr Ansporn als Geschäftsführer der B. Braun-Stiftung, ein immerhin zweijähriges Projekt zu starten und zu finanzieren, um den „Wert von Medizinprodukten“ zu diskutieren? Ein Schelm, der dabei an Eigeninteressen des Stiftunggebers denkt?
Zu den Förderschwerpunkten unserer unabhängigen Stiftung gehört auch die Medizintechnologie. Dieser Stiftungszweck ist auf die Stiftungsfamilie Braun zurückzuführen, die ein erfolgreiches Medizintechnik-
unternehmen leitet. Damit die Medizintechnik für den Nachwuchs weiter attraktiv bleibt und gefördert wird, unterstützt die B. Braun-Stiftung aktiv Seminare und Innovationsprozesse der Medizintechnologie. Sie engagiert sich auch im High-Tech-Gründerfonds, der Startup-Unternehmen z.B. bei der Vermarktung innovativer Medizintechnologien unterstützt. In Prof. Mühlbachers Forschungsprojekt werden Entscheidungskriterien entwickelt, mit deren Hilfe der Nutzen eines Medizinproduktes bewertet werden kann. Diese Grundlage brauchen wir, damit innovative Produkte auch zukünftig in einem transparenten Prozess entwickelt und ihre Vergütung in der Gesundheitsversorgung erhalten können.
Und auch an Sie die Frage, Herr Prof. Schachtrupp: Was können RCT und was nicht?
RCT können einen kausalen Zusammenhang belegen und gelten von daher zu Recht als Standard. Allerdings gibt es interessante Ansätze, auch über andere Studienformen Ursache und Wirkung einer Therapie zu belegen. Dazu kommt, dass die Durchführung von RCT im Bereich von Therapien mit Medizinprodukten komplexeren Anforderungen genügen müssen als bei pharmazeutischen Untersuchungen. Dann sind sie auch sehr kostenintensiv, insbesondere wenn es um längere Nachbeobachtungszeiten geht. Bezogen auf eine Nutzenbewertung gehen derzeit Sterblichkeit, Komplikationsrate und Lebensqualität ein, aber wie bringt man diese Dimensionen zusammen, so dass Nutzen für den Patienten erfass- und vergleichbar wird? Insgesamt sind RCT ein wichtiges Element, können aber nicht der einzige Bestandteil einer Nutzenbewertung sein.
Herr Prof. Mühlbacher, aber was nützt das Ganze, wenn G-BA und IQWiG, wohl auch aus der berechtigten Angst heraus, mindere Stu-dienqualität bewerten zu müssen, einfach nicht vom hehren RCT abweichen wollen?
Studien zu Patientenpräferenzen haben erst einmal mit der Qualität der klinischen Studien nichts zu tun. Kritiker der rigiden IQWiG-Politik stellen oft die Frage, wie viele der Therapiemöglichkeiten, die heute Leben retten oder die Lebensqualität von Patienten verbessern, den heutigen Anforderungen des IQWiG standgehalten hätten. Die Befürchtung, dass wir immer weniger Innovation sehen werden, hat Institutionen wie die EMA oder die FDA veranlasst, neue Zulassung- bzw. Entscheidungsprozesse zu erproben. Als problematisch wird jedoch die „Alles-oder-Nichts-Entscheidung“ gesehen. So wird derzeit das Konzept der adaptiven Lizenzierung (accelerated assessment, adaptive pathways) erprobt. Wir haben 2015 ein Gutachten für den BVmed erstellt und dabei den Vorschlag eingebracht, im Rahmen der Nutzenbewertung von neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden mit Medizinprodukten hoher Klassen die grundlegende Idee der adaptiven Lizenzierung aufzunehmen. Konzepte der adaptiven Nutzenbewertung stellen eine zeitlich flexible Abwägung von Evidenz und Nutzen- respektive Schadenspotenzial in den Mittelpunkt. Modelle der adaptiven Nutzenbewertung und bedingten Erstattungsentscheidung könnten so zur Balance eines schnellen Zugangs, der Sicherheit und Wirtschaftlichkeit eingesetzt werden.
Nachgehakt und eingedenk dessen, was auf der Veranstaltung Prof. Busse gesagt hat: Wie gut sind RCT denn wirklich?
Herr Professor Busse hat sehr gut den internationalen Sachstand zur Nutzung von RCT herausgearbeitet. Zudem ist es unbestreitbar, dass der Nachweis kausaler Effekte einer Intervention (wenn überhaupt) auf Basis eines RCT nachgewiesen werden kann. Dahinter steht aber die Frage, ob wir in bestimmten Situationen nicht eine bedingte Vergütung zusagen, auch wenn nur ein Potenzial und kein Nutzen erkennbar ist. In seinen Grundzügen ist diese Idee bereits vom Gesetzgeber initiiert. In der Medizintechnik sind klinische Daten nur in begrenztem Umfang verfügbar, insbesondere zum Zeitpunkt der Produkteinführung. Um den Problemen und Besonderheiten bei der Durchführung eines RCT mit Medizinprodukten, könnten adaptive Ansätze zum Einsatz kommen. Dabei sind drei Implementierungsstrategien vorstellbar.
1. Die Implementierung über die Population mit einem hohen ungedeckten medizinischen Handlungsbedarf und die schrittweise Ausweitung der Zielpopulation über die Zeit.
2. Die Erprobung in spezialisierten Zentren, um das Risiko der Anwendung bzw. Inanspruchnahme reduzieren zu können. Nach dem Nachweis positiver Effekte aus klinischen Studien würde die Entscheidung adaptiv schrittweise auf alle Leistungserbringer ausgeweitet.
3: Die Implementierung über eine zeitlich gestaffelte Evidenzgenerierung hinsichtlich des klinischen Nutzens und Schadens. In diesem Fall würde eine frühe bedingte Erstattung auf Basis von Surrogatendpunkten bzw. eines geringeren Evidenzgrades geplant. Im weiteren Verlauf könnte eine schrittweise Verringerung der Unsicherheit durch die Durchführung von Studien höheren Evidenzgrades zur Erfassung der klinischen Effekte und Patientenpräferenzen erfolgen.
Die Herren Prof. Schachtrupp und Prof. Mühlbacher, danke für das Gespräch. <<
Das Interview führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.