Die Krankheitslast hat sich verringert
>> Beispielhaft werden im Studienbericht fünf Krankheitsbilder mit unterschiedlichem Verlauf (akut oder chronisch) und mit unterschiedlich großen Fortschritten im Betrachtungszeitraum untersucht: Brustkrebs, Prostatakrebs, Herzinfarkt, Schlaganfall und Diabetes mellitus Typ II. Methodisch greift die Studie auf das Konzept der „Disability Adjusted Life Years“ (DALY) zurück. „Diese messen, wie viele Lebensjahre durch Krankheit vorzeitig verloren gehen oder mit gesundheitlichen Einschränkungen verbracht werden. Eine Verlängerung der Lebenszeit und eine Verringerung gesundheitlicher Einschränkungen drückt sich also in einem Rückgang der DALY aus“, erklären die Autoren. Bei vorzeitigem Tod werde jedes gegenüber der normalen Lebenserwartung verlorene Lebensjahr mit dem Wert „1“ gezählt. Gesundheitliche Beeinträchtigungen, die nicht zum Tode führen, hätten einen Wert zwischen 0 und 1. Diese Zahlen, die sogenannten „Disability Weights“, werden durch Befragungen von Patienten und Ärzten ermittelt. Das Konzept ermögliche so die gewünschte Differenzierung: Es messe, ob das Leben nur länger oder auch besser geworden ist.
Das Gesamtergebnis der Studie: Auf der Bevölkerungsebene hat sich die Krankheitslast in Summe der betrachteten Krankheitsbilder über den Betrachtungszeitraum verringert. Die Gesamtbelastung durch DALY in den fünf Krankheitsbildern hat von 8,54 Millionen im Jahr 1993 auf 7,62 Millionen im Jahr 2013 abgenommen. Das bedeutet, dass die Krankheitslast in diesen Krankheitsbildern in den 20 Jahren auf einen jährlichen Wert zurückgegangen ist, der 0,92 Millionen DALY oder 10,8 Prozent unter dem Ausgangsjahr liegt. Für die einzelnen Krankheiten stellen die Autoren aber deutliche Unterschiede in den Verläufen fest: Der Rückgang sei besonders bei den Herz-Kreislauferkrankungen zu beobachten und sehr konstant. Die jährlichen DALY in beiden Krankheitsbildern sind um 1,15 Millionen zurückgegangen.
Bei den Krebserkrankungen hat sich eine moderate Entwicklung gezeigt, da die Belastung jedes Erkrankten zwar zurückgeht, jedoch noch eine stetige Zunahme der Inzidenz zu beobachten ist, die unter anderem durch verstärkte Maßnahmen zur Früherkennung erzeugt wurde. Dies führe zunächst zu einem Anstieg der Gesamtbelastung und ab circa 2007/2008 zu einer Trendumkehr mit sinkender Krankheitslast. Seit diesem Punkt haben sich die jährlichen DALY um gut 0,1 Millionen verringert.
Im Fall von Diabetes sei die Zunahme der Inzidenz so stark, dass Fortschritte in der Behandlung nicht kompensiert werden können und die jährliche Krankheitslast über den Betrachtungszeitraum um 0,08 Millionen DALY pro Jahr zugenommen hat, so die Autoren.
Die Belastung durch Herzinfarkt geht bei Männern und Frauen kontinuierlich zurück. Beim Schlaganfall wird erst ein Anstieg, dann aber ein starker Abfall festgestellt und zuletzt eine annähernd konstante Entwicklung. Brustkrebs nehme bis 2008 leicht zu und danach leicht ab, Prostatakrebs und Diabetes erzeugten hingegen eine steigende Belastung. Dies wird vor allem auf die Inzidenz zurückgeführt.
Brustkrebs
Die Krankheitslast des Brustkrebses ist je neuerkrankter Frau kontinuierlich gesunken: Von 1993 bis 2013 um fast ein Drittel. Verursachte Brustkrebs im Jahr 1993 noch durchschnittlich 9,0 DALY je neuerkrankter Frau, sind es im Jahr 2013 nur noch 6,4 DALY.
Für diese Reduzierung der YLL nennen die Studienautoren zwei Ursachen: Die Überlebensraten steigen kontinuierlich an. Die 10-Jahre Überlebensrate stieg beispielsweise von 76 Prozent im Jahr 2002 auf 83 Prozent im Jahr 2013. „Diese positive Entwicklung ist komplett der Verringerung der YLL zuzuschreiben, die sich von 6,1 auf 3,4 verlorene Jahre fast halbiert haben“, erklären die Studienverfasser. Zum anderen breche die Erkrankung später aus. Das Durchschnittsalter bei Neuerkrankungen stieg von 62,8 auf 63,6 Jahre. Schon dadurch würden 0,8 Lebensjahre gewonnen.
Die Krankheitslast durch das Leben mit den Einschränkungen (Years Lived with Disability) ist mit rund 3 YLD über den gesamten Betrachtungszeitraum relativ konstant. Dieser konstante Verlauf komme durch zwei gegenläufige Entwicklungen zustande: Zum einen sinken die YLD der Krankheitsstadien „Metastasierung“ und „terminale Phase“ über den gesamten Beobachtungszeitraum. Zum anderen steigen die YLD des Stadiums „Diagnose und Behandlung“. Dies sei eine direkte Folge der gestiegenen Überlebenswahrscheinlichkeit.
Diejenigen Patientinnen, die nicht versterben, leben mehr Jahre mit der Krankheit und der entsprechenden Beeinträchtigung. Das Fazit zu Brustkrebs: Die gemessene Inzidenz von Brustkrebs ist – durch Screeningmaßnahmen, wie die Autoren vermuten – im Betrachtungszeitraum angestiegen, gleichzeitig tritt die Ersterkrankung geringfügig später auf. Die Überlebenschancen jeder einzelnen Patientin haben sich deutlich erhöht. Die Beeinträchtigung der Lebensqualität während der Zeit der Erkrankung ist leicht zurückgegangen. Insgesamt sei daher ein deutlicher Rückgang der DALYs zu verzeichnen, der insbesondere auf die höheren Überlebensraten zurückgeht.
Prostatakrebs
In der Kohorte aus dem Jahr 1993 ist eine Neuerkrankung bei Prostatakrebs mit durchschnittlich 7,0 DALY je Neuerkranktem assoziiert. Aufgrund der im Zeitverlauf stark gesunkenen Letalität reduziert sich die Krankheitslast um 37 Prozent auf nur noch 4,4 DALY je Neuerkranktem. Noch eindrucksvoller sei der Rückgang der verlorenen Lebensjahre, so die Autoren: 1993 musste ein Neuerkrankter damit rechnen, durchschnittlich 3,9 Lebensjahre seiner ferneren Lebenserwartung zu verlieren. Im Jahr 2013 war dieser Wert auf 1,2 Jahre gesunken. Die Krankheitslast durch die gesundheitlichen und sozialen Einschränkungen (YLD) bleiben hingegen auf einem Niveau von rund 3,2 YLD. Auch hier profitieren von 1993 bis 2013 alle Altersklassen, die Erfolge in den Altersklassen zwischen 65 und 75 Jahren sind besonders deutlich.
Wie bei Brustkrebs bleiben die YLD auch beim Prostatakrebs im Zeitverlauf konstant, weil die abnehmenden YLD in den Krankheitszuständen „Metastasierung“ und „Terminale Phase“ durch eine Zunahme beim Krankheitszustand „Diagnose und Behandlung“ ausgeglichen werden. Die Krankheitslast durch Prostatektomien und deren Komplikationen bleibt über den gesamten Betrachtungszeitraum auf einem konstant niedrigen Niveau von 0,1 YLD je neuerkranktem Mann.
Den Grund hierfür sehen die Studienautoren nicht in einer geringen Häufigkeit des Auftretens, vielmehr seien die Disability weights für Impotenz und Inkontinenz sehr niedrig. Die Häufigkeit der Operationen sei zudem nur für die Jahre von 2005 bis 2013 bekannt. Für den Zeitraum vor 2005 wurde der Anteil der Operationen je Neuerkranktem aus dem Jahr 2005 verwendet (43 Prozent). Dieses Vorgehen resultiert aus der Beobachtung in den USA, in der die Zahl der Operationen vom Jahr 2000 bis 2009 stark gestiegen ist. Ab dem Jahr 2010 sinkt der Anteil der Operierten.
Das Fazit der Studienverfasser zur Indikation Prostatkrebs lautet: „Die gemessene Inzidenz von Prostatakrebs ist – vermutlich durch Screeningmaßnahmen – im Betrachtungszeitraum zunächst angestiegen, nimmt seit vier bis fünf Jahren aber wieder ab. Gleichzeitig tritt die Ersterkrankung geringfügig später auf.“ Wie beim Brustkrebs gelte hier: Die Überlebenschancen der Patienten haben sich deutlich erhöht, während die Beeinträchtigung der Lebensqualität im Laufe der Erkrankung praktisch konstant ist. Insgesamt sei daher ein deutlicher Rückgang der DALY zu verzeichnen, der insbesondere auf die höheren Überlebensraten zurückgeht.
Herzinfarkt
Weitere Krankheitsbilder werden nach Geschlechtern getrennt vorgestellt. Wegen der insgesamt deutlich höheren Krankheitslast beginnen die Autoren beim Herzinfarkt mit den Männern. Auch hier gebe es eine konstant positive Tendenz: War ein Herzinfarkt im Jahr 1993 bei einem Mann noch mit 16,5 DALY verbunden, sind es zwanzig Jahre später 14,5 DALY. Die Reduktion um 2 DALY liege absolut in einer ähnlichen Größenordnung wie bei den Krebserkrankungen. Prozentual sei der Rückgang mit 12 Prozent weniger eindrucksvoll. Er gehe auf die weiterhin hohe Letalität zurück, die mit einem Herzinfarkt assoziiert ist.
Da im Zeitverlauf mehr Menschen einen Herzinfarkt überleben, steigt die Krankheitslast für Folgekomplikationen des Herzinfarkts geringfügig. So steigen beispielsweise die YLD aufgrund von Herzinsuffizienz und Herzrhythmusstörungen. Das Ausgangsniveau der Krankheitslast ist allerdings relativ niedrig. Von der Entwicklung haben vor allem die höheren Altersgruppen profitiert. Während in den ersten 10 Jahren des Betrachtungszeitraums die Herzinfarktpatienten zwischen 55 und 60 Jahren profitierten, sind es in den letzten 10 Jahren die Personen zwischen 65 und 75 Jahren.
Bei den Frauen gab es dagegen keine Verbesserung bei der Mortalität. Die Überlebensraten steigen zwar ebenfalls an, die Altersverteilung entwickelt sich aber ungünstig: der starke Rückgang der Inzidenz konzentrierte sich auf höhere Altersgruppen, während die absoluten Fallzahlen in den Altersgruppen von 40 bis 59 Jahren konstant blieben oder sogar anstiegen. Der Einfluss dieser Gruppen – die im Todesfall besonders viele YLL haben – auf den Durchschnitt der DALY ist dadurch besonders stark. Die Entwicklung der YLD verläuft ähnlich wie bei den Männern. Auch hier darf der Maßstab nicht täuschen, die absolute Belastung ist vergleichsweise gering.
Das Fazit der Autoren zur Indikation Herzinfarkt: Die YLL sind bei Männern eindeutig zurückgegangen. Bei den Frauen ergibt sich durch eine Verschiebung der Altersverteilung ein konstanter Verlauf der YLL, obwohl diese sich innerhalb der gleichen Alterskohorten ebenfalls reduzieren. YLD sind beim Herzinfarkt wenig relevant und bleiben auf niedrigem Niveau nahezu konstant. Entsprechend gehen auch die DALYs bei Männern zurück, bei den Frauen dagegen nicht. Der stärkste Effekt ergibt sich auf der Bevölkerungsebene, da die Häufigkeit der Neuerkrankungen sehr deutlich zurückgeht.
Schlaganfall
Im Betrachtungszeitraum von 20 Jahren sinken die DALY je neuerkranktem Mann mit Schlaganfall von 11,4 auf 9,7. Da ein größerer Anteil der Menschen einen Schlaganfall überlebt, steigt die Krankheitslast der Komplikationen eines Schlaganfalls sehr leicht an. Die Verringerung geht vor allem auf die gesunkene Sterblichkeit zurück, von der im Zeitverlauf alle Altersklassen gleichermaßen profitiert haben.
Bei den Frauen zeigt sich hingegen kaum ein nennenswerter Rückgang der DALY, bei der Entwicklung der YLD nach Krankheitszuständen allerdings ein ähnliches Bild wie bei den Männern. Fazit: Wie beim Herzinfarkt gehen auch beim Schlaganfall die YLL bei Männern deutlicher zurück als bei Frauen. Die YLD, also die Krankheitsfolgen, bleiben auf niedrigem Niveau nahezu konstant. Die DALYs nehmen bei Männern deutlich, bei Frauen leicht ab.
Diabetes mellitus II
Die Krankheitslast von Diabetes erlebte in den letzten zwei Jahrzehnten eine leichte Reduktion ausgehend von einem bereits niedrigen Niveau auf individuellem Level. Durch die hohe Prävalenz ist Diabetes dennoch eine der relevantesten Indikationen in der deutschen Bevölkerung. Zu beachten ist laut den Studienautoren, dass sich die Berechnungen auch hier auf die ersten 10 Folgejahre der Erkrankung beziehen. Ging eine Neuerkrankung im Jahr 1993 noch mit 0,9 DALYs je erkranktem Mann einher, waren es im Jahr 2013 noch 0,67 DALYs. Bei den Frauen zeigte sich ein Rückgang von 0,8 auf 0,62 DALYs. Die verlorenen Lebensjahre setzen sich aus einer Vielzahl von Komorbiditäten zusammen. Zu den wichtigsten Komplikationen gehören geschlechterübergreifend Neuropathie, Nephropathie und Retinopathie. Bei der Retinopathie sowie bei schwerwiegenden Folgekomplikationen (zum Beispiel Erblindung, Dialyse, Amputation) ist ein klar negativer Trend zu beobachten. Fazit: Die DALY bei Diabetes nehmen in beiden Geschlechtern konstant ab. Der Effekt wird vor allem durch die YLD – die Reduzierung von Folgeerkrankungen erzielt. Die YLL spielen bei Diabetes eine vergleichsweise geringe Rolle, gehen aber ebenfalls leicht zurück.
Zusammenfassend stellen die Studienautoren fest, dass in allen Indikationen die Summe der YLLs sinkt. Dabei bleiben die YLDs je Erkranktem im Zeitverlauf zwar relativ konstant, aber sie treten später auf. In den Kohorten finde zudem eine Verschiebung von schweren Krankheitsstadien zu den basalen Krankheitszuständen statt. Das Fazit der Studie lautet: „Wir leben länger, wir erkranken später und wir gewinnen kontinuierlich gesunde Lebensjahre dazu.“ <<
von: Olga Gilbers.
Zitationshinweis : Gilbers, O.: "Die Krankheitslast hat sich verringert“, in "Monitor Versorgungsforschung" (MVF) 04/17, S. 16-19