„Wichtiger Partner regionaler Gesundheitspolitik“
>> Das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern hat in diesem Jahr die erste Länderpartnerschaft für den Deutschen Kongress für Versorgungsforschung übernommen …
… was Ausdruck der Bedeutung ist, die wir als Land der Versorgungsforschung beimessen. Der Kongress ist eine ideale Plattform zum Austausch mit Vertretern der Gesundheitspolitik, den Pflege- und Krankenkassen und natürlich den führenden Versorgungsforschern und all den engagierten Nachwuchskräften.
Nun könnte man kritisch hinterfragen, warum ausgerechnet ein bevölkerungsseitig so kleines Bundesland wie Mecklenburg-Vorpommern eine derart prominente Rolle spielt.
Dafür kann ich gleich drei Gründe anführen. Erstens wollen wir damit unser Bundesland als Standort innovativer Lösungen bekannter machen. Zweitens erhoffen wir uns auch aus der Unterstützung des Kongresses ganz konkret Hinweise für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung in Mecklenburg-Vorpommern. Und zum Dritten wollen wir damit unsere Wertschätzung gegenüber der Versorgungsforschung zum Ausdruck bringen, die uns immer wieder wichtige Beiträge zu praxisrelevanten Lösungen liefert. Das gilt natürlich insbesondere im Hinblick auf unsere Zusammenarbeit mit dem in Greifswald angesiedelten Institut für Community Medicine, dessen Leiter – Professor Dr. Wolfgang Hoffmann – Präsident dieses Kongresses war und wir auch darum gern die Rolle der Patenschaft übernommen haben. Auf dass dies ein Zeichen sei, das in den kommenden Jahre von anderen Bundesländern aufgenommen werde.
Was übrigens der Fall ist, so hat Hamburg bereits angekündigt, die nächste Patenschaft des 2018er Kongresses zu übernehmen. Aber warum spielt für Ihr Bundesland die Versorgungsforschung eine derart prominente Rolle?
Mecklenburg-Vorpommern ist vielleicht etwas mehr als andere Bundesländer vom demografischen Wandel betroffen. Damit kommen auf uns – später natürlich auch auf alle anderen Flächenländer Deutschlands – Herausforderungen zu, die wir jedoch nicht erst prognostizieren müssen, sondern die bei uns in der gesundheitlichen Versorgung bereits heute absehbar sind. Das belegen die Zahlen sehr deutlich: Jetzt – Status 2015 – beträgt bei uns der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung rund 23 Prozent. Laut Prognose werden es im Jahr 2030, also in nicht viel mehr als etwa ein Dutzend Jahren, rund 32 Prozent sein. Dazu kommt, dass derzeit etwa zwei Drittel der ambulant tätigen Ärzte 52 bis 53 Jahre und älter sind. Im Jahr 2030 sind damit die meisten derzeit in unserem Land praktizierenden Ärzte im Ruhestand. Da jeder weiß, wie lange die anspruchsvolle Ausbildung eines Arztes dauert, wollen wir rechtzeitig gegensteuern.
Was tun Sie denn ganz konkret?
Wir müssen nicht erst morgen, sondern jetzt – heute – bereit sein, neue Wege zu gehen, um die medizinische Versorgung in einem Flächenland wie Mecklenburg-Vorpommern bestmöglich zu gestalten. Dabei haben wir schon einige innovative Lösungsansätze auf den Weg gebracht, wie das AGnES-Konzept – in Greifswald entwickelt und inzwischen für ganz Deutschland als Grundansatz im Sozialgesetzbuch verankert und damit in die Regelversorgung übernommen. Weitere innovative Lösungen aus unserem Lande sind neben AGnES und dem Dementia Care Manager auch telemedizinische Lösungen. Dazu gehören auch das Innovationsfonds-Projekt „LandRettung“, das eine zukunftsfeste notfallmedizinische Neuausrichtung eines Landkreises gewährleisten soll, sowie das ebenfalls vom Innovationsfonds geförderte Projekt „HerzEffekt MV“ – mit dem Ziel, bereits mittelfristig allen chronisch herzkranken Patienten mit leichten bis schweren Symptomen einen wohnortnahen Zugang zu spezialisierter Medizin in Mecklenburg-Vorpommern zu gewährleisten. Ein weiterer neuer Ansatz ist die „Portalpraxisklinik in Wolgast“. Mit den Beteiligten für die Region ist dort ein Konzept erstellt worden, das die Vorteile einer ambulanten Notfallversorgung mit denen der Anbindung an eine stationäre Versorgung verbindet. Dieses Projekt hat zum Ziel, die starren Grenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung zu überwinden.
Und was tut denn nun das Land als solches?
In der Telemedizin unterstützen wir eine Vielzahl von Projekten – von der Einrichtung einer Prüf- und Beratungsstelle für Gesundheitsapps bis zum grenzüberschreitenden deutsch-polnischen Netzwerk Pomerania. Als Vorsitzland der Gesundheitsministerkonferenz haben wir bereits im Jahr 2016 einen entsprechenden Beschluss der Gesundheitsminister herbeigeführt, der eine Stärkung und teilweise Neuausrichtung des öffentlichen Gesundheitsdienstes vorsieht – mit dem erklärten Ziel, nachhaltige Verbesserungen in der regionalen Versorgung sicherzustellen. Wenn wir es schaffen, in den meisten der eben genannten Bereiche ein Stück weit voranzukommen, bin ich überzeugt, dass es uns gelingen wird, nicht nur die Versorgung an sich zu verbessern, sondern auch die Attraktivität der ländlichen Räume für medizinisches und nicht medizinisches Fachpersonal der Gesundheitsversorgung zu erhöhen.
Wozu auch Ihr Stipendienprogramm gehört.
Natürlich. Jedes Bundesland muss aktiv werden, um den absehbaren Ärztemangel im ländlichen Raum entgegen zu wirken. So soll noch in diesem Jahr ein Stipendium – vorerst angelegt auf sechs Jahre – in Höhe von einer Million Euro aufgelegt werden, aus dem Zuschüsse für Medizinstudierende gezahlt werden können, die bereit sind, bei uns im ländlichen Raum oder im öffentlichen Gesundheitsdienst zu arbeiten. Die Höhe der Zuwendung beträgt 300 Euro monatlich und kann bis zum Ende des Medizinstudiums, jedoch längstens für vier Jahre und drei Monate, gewährt werden – dies erst nach bestandenem Physikum, was der Unterschied zu den Förderprogrammen anderer Bundesländer ist. Dafür ist das aber eine Förderung des Landes, die nicht zurückgezahlt werden muss.
Was alles wenig nützt, wenn es kein zukunftsfähiges, langfristiges Konzept zur sektorenübergreifenden Versorgungsplanung gibt.
Genau. Aus diesem Grund wird ein solches Konzept in enger Zusammenarbeit mit dem Institut für Community Medicine der Universitätsmedizin Greifswald entwickelt. Da das aber kein ganz einfaches Unterfangen ist, ist das Projekt auf fünf Jahre angelegt, um Lösungen für konkrete Versorgungsprobleme in ländlichen Regionen zu entwickeln und dann in Modellregionen erproben zu können. In der ersten Phase werden zunächst Modelle für bestimmte Fokusregionen entworfen und umgesetzt. Am Ende soll jeweils geprüft werden, inwieweit die Lösungen auf andere Regionen übertragbar sind. Das Projekt beschäftigt sich zudem schwerpunktmäßig mit den Themen Pädiatrie, Geriatrie und Palliativversorgung einschließlich der Implementierung innovativer Versorgungskonzepte. Aber es werden auch übergreifende Themen wie die Einbindung aller Sektoren und Professionen, der Fachkräftebedarf, die Fachkräftesicherung und die telemedizinische Unterstützung in die Überlegungen mit einbezogen. Damit wird klar: In Mecklenburg-Vorpommern bewegt sich einiges.
Welche Rolle hat dabei die Versorgungsforschung?
Eine enorm wichtige! Für uns ist die Versorgungsforschung ein wichtiger Partner der regionalen Gesundheitspolitik.
Ist diese doch noch recht junge Lebenswissenschaft damit nicht ein Stück weit überfordert?
Die Versorgungsforschung kann sehr früh Verbesserungsbedarfe in der Gesundheitsversorgung sehen und dafür innovative, regionale und patientenorientierte Versorgungsmodelle entwickeln. Doch dann braucht es den Willen insbesondere der Krankenkassen, der Ärzte, Krankenhäuser und Apotheker – und natürlich der Landespolitik – diese Versorgungsmodelle in der Praxis zu erproben.
Dennoch gibt es bei allen Innovationen eine Fülle von Widerständen, vor allen Dingen gesetzlicher und abrechnungstechnischer Art.
Es ist unsere Aufgabe, da moderierend zu unterstützen. Dazu braucht es bei allen Beteiligten ein gegenseitiges Verständnis und eine Ebene, auf der nicht nur eine faire Zusammenarbeit, sondern auch eine sachorientierte Kommunikation möglich ist. Genau das gelingt bei uns im Land sehr gut, weil wir sehr früh gelernt haben, miteinander zu reden und gemeinsam im Sinne einer besseren Versorgung zu handeln. Darum ist es für Mecklenburg-Vorpommern – natürlich immer nur nach positiver Evaluation – das erklärte Ziel, Versorgungsmodelle in die Praxis zu überführen.
Ein wahrhaft hehres Ziel.
Je breiter die Partner des Projektes aufgestellt sind, desto größer ist nachher die Akzeptanz der Ergebnisse und im Erfolgsfall die dauerhafte Übertragung in die Praxis – gegebenenfalls auch in die Regelversorgung.
Gelingt das immer?
Das ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Das liegt schon alleine daran, dass für regionale Versorgungs-Herausforderungen erprobte Lösungen gefunden werden müssen, die nur im Idealfall auch in anderen Regionen und damit überregional einsetzbar sind. Oft fehlt aber die Kenntnis darüber, welche Projekte in den Regionen erfolgreich waren oder sind. Darum wünsche ich mir, dass die auf dem Deutschen Kongress für Versorgungsforschung vorgestellten innovativen Versorgungsansätze über Fachmedien deutschlandweit bekannt werden. So kann der Kongress wichtige Impulse für die Diskussionen zur dauerhaften Sicherung der Versorgung in hoher Qualität in unserem Land geben.
Eine derartige Versorgung muss vor allem interprofessionell und intrasektional ausgestellt sein.
Dazu braucht man die entsprechenden innovativen Modelle, an die ich vor allem eine Forderung habe: Am Patienten orientiert! Wir haben immer mehr Patienten, die nicht nur eine, sondern gleich mehrere Krankheiten haben und die nur dann gut versorgt sind, wenn sie optimal medizinisch versorgt werden – und zwar langfristig. Das heißt auch, dass wir nicht nur über neue sektorübergreifende Versorgungspfade nachdenken müssen, sondern auch über neue Kompetenzen für Gesundheitsberufe – Stichwort Substitution und auch Delegation – sowie über alte und neue Berufsgruppen und deren Akademisierung. Auch das verfolgen wir sehr eng: Derzeit erfolgen die Vorbereitungen zur Umsetzung des Pflegeberufe-Reform-Gesetzes. So müssen u. a. ein Rahmen-Curriculum, eine Ausbildungs- und Prüfungsordnung sowie eine Finanzordnung entwickelt werden. Dies wird für die gesamte Bundesrepublik ein Kraftakt werden.
Sie sind pro Akademisierung?
Ich halte den im Gesetz erstmalig beschriebenen Ausbau der hochschulischen Pflegeausbildung für den richtigen Weg. Mit dem sich derzeit wandelnden Aufgabenspektrum der Pflege werden Pflegefachpersonen künftig komplexere als auch neue Versorgungsaufgaben übernehmen. Diese erfordern eine hochschulische Ausbildung. Ziel muss es dabei sein, die Absolventen insbesondere für eine unmittelbare Tätigkeit mit dem Patienten und das verbesserte Arbeiten im multiprofessionellen Team vorzubereiten. Daher sollten meines Erachtens künftige Studiengangkonzepte einen primärqualifizierenden Bachelorstudiengang und konsekutive Masterangebote für eine Spezialisierung in einem Arbeitsfeld der Pflege beziehungsweise der Wissenschaft, dem Management oder der Pädagogik beinhalten. Dabei ist auf vertikale Durchlässigkeit und die Entwicklung von Anerkennungsverfahren für Pflegefachpersonen mit einer dreijährigen Berufsausbildung ohne formale Hochschulzugangsberechtigung zu achten.
Wie sieht es damit in Ihrem Bundesland aus?
In Mecklenburg-Vorpommern stehen wir schon in den Startlöchern: Im Mai dieses Jahres erfolgte auf Initiative des Bildungsministeriums sowie unter Beteiligung des Wirtschafts- und Sozialministeriums die Einrichtung einer landesweiten Arbeitsgruppe zur „Weiterentwicklung der hochschulischen Pflegebildung in Mecklenburg-Vorpommern“. Derzeit wird unter Beteiligung der Universitätsmedizin Greifswald und der Universitätsmedizin Rostock sowie der Hochschule Neubrandenburg ein gemeinsames hochschulisches Pflegebildungskonzept für unser Bundesland entwickelt. Jede Einrichtung bringt dazu ihre wissenschaftlichen Vorarbeiten und Erfahrungen in der Pflegeausbildung ein. Der Erfolg dieses Konzeptes erfordert zwei maßgebliche Aspekte: Zum einen die schnellstmögliche Definition von Arbeits- und Tätigkeitsfeldern von hochschulisch ausgebildeten Pflegefachpersonen einschließlich der Entwicklung entsprechender Stellenbeschreibungen. Das sind die wichtigsten Voraussetzungen, um in einem zweiten Schritt darauf aufbauend eine angemessene Entlohnung zu definieren und letztlich realisieren zu können.
Das kostet Geld ...
... und aus diesem Grunde wird das Land Mecklenburg-Vorpommern am Standort Greifswald einen an die medizinische Fakultät angeschlossenen Hochschullehrstuhl für die Pflege ausloben, den das Land mit rund einer Million Euro fördern wird.
Rennen Sie damit offene Türen ein?
Es kommt immer darauf an, durch welche Tür man will. Darum möchte ich alle Gesprächspartner auffordern, mit uns zu reden und mitzumachen. Es geht doch nicht um die Gesundheitspolitik, um die Ärzteschaft, um die Pflege oder die Krankenkassen, sondern um die Versorgung der Menschen, für die wir gemeinsam Verantwortung tragen.
Zu guter Letzt darf natürlich das zur Zeit vielleicht etwas überstrapazierte Stichwort Telemedizin nicht fehlen.
Gerade in einem Flächenland wie Mecklenburg-Vorpommern können nur durch die Möglichkeiten der Digitalisierung die Leistungen von „Professionals im Gesundheitssystem“ an die Stelle gebracht werden, an denen sie gebraucht werden. Dazu benötigt man jedoch nicht nur eine gute IT, sondern auch eine sichere Rechtslage und als Basis des Ganzen eine elektronische Patientenakte, auf deren Datenbasis man innerhalb der Sektoren mit verschiedenen Akteuren und über die Sektoren hinweg zusammenarbeiten kann. Auch daran wird bei uns im Projekt „HaffNet“ gearbeitet, bei dem eine neue Zusammenarbeit zwischen Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzten auf Basis einer elektronischen Patientenakte erprobt wird.
Muss denn der Wohnort als solcher Schicksal bleiben? Man hat entweder das Glück, gut versorgt zu werden oder schlecht?
Die medizinische Versorgung in Mecklenburg-Vorpommern ist durch eine Vielzahl von Einrichtungen und engagierten Fachkräften sichergestellt. Um die Versorgung auf Dauer in allen Teilen des Landes zu sichern, müssen Ansätze genutzt werden, die vorhandenen Ressourcen besser zu nutzen. Da sind wir dran, denn langfristig müssen wir die Versorgung stärker an den regionalen Gegebenheiten ausrichten.
Ein Blick in die Zukunft: Wie soll es in Mecklenburg-Vorpommern weitergehen?
Ich möchte einen Appell richten an alle Akteure des Gesundheitswesens: Bleiben Sie neugierig, gehen Sie voran, bringen Sie tolle Projekte auf den Weg und lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, in Mecklenburg-Vorpommern ein modernes Gesundheitswesen für die nächsten Jahre zu entwickeln. Viele heute schon existierende Projekte – und nicht nur jene, die durch den Innovationsfonds gefördert werden – sind es wert, dass sie weiter verfolgt werden. Was auch heißt: Wir alle müssen kreativer und offener werden und lernen, deutlich besser zu kooperieren. Inhaltliche Auseinandersetzungen gehören natürlich auch dazu, das weiß wohl niemand besser als ein Politiker. Aber: Wir sollten davon abgehen, immer gleich alles zu zerreden, was wir nicht gleich verstehen oder aus Berufs- und Standeskalkül nicht als opportun erscheint.
Herr Glawe, danke für das Gespräch. <<
Das Interview führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.
Zitationshinweis : Stegmaier, P.: „Wichtiger Partner regionaler Gesundheitspolitik““, in "Monitor Versorgungsforschung" (MVF) 06/17, S. 6-8; doi: 10.24945/MVF.06.17.1866-0533.2042