Mehr Wissenschaft und Unabhängigkeit
>> Was sagen Sie denn mit Ihrer langen Krankenkassen-Sozialisation zu dieser Aussage, Herr Dr. Meusch?
Meusch: Zu meiner Sozialisation gehört auch, dass ich promovierter Politikwissenschaftler bin und in der praktischen Politik Erfahrung habe, in der Parteipolitik wie in meiner fünfjährigen Tätigkeit in zwei Bundesministerien. Auch deshalb ist mir eines wichtig: Kassen und G-BA sind nicht dasselbe.
Hoffmann: Natürlich sind G-BA und Kassen nicht dasselbe. Doch wenn man sich die Stimmenverteilung im G-BA und im Innovationsausschuss betrachtet, erkennt man durchaus eine deutliche Machtverteilung.
Meusch: Die aber nicht die Kassenlandschaft, sondern die Politik so gewollt hat, als sie im Jahr 2003 den G-BA im Zuge des GKV-Modernisierungsgesetzes als gemeinsames Gremium der Deutschen Krankenhausgesellschaft, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung und der damals sieben Spitzenverbände der Gesetzlichen Krankenkassen gegründet hat. Bis dahin gab es vier parallel arbeitende Ausschüsse, die jeweils paritätisch mit Leistungserbringern und Vertretern der gesetzlichen Krankenkassen besetzt waren. So viel hat sich also mit der Gründung des G-BA in Sachen Machtverteilung nicht geändert.
Hoffmann: Nur, dass aus den ehemals sieben, nun ein einziger grosser Spitzenverband der Krankenkassen geworden ist ...
Meusch: ... mit mächtigen Gegenspielern wie der KBV oder der DKG. Das ist auch gut so: Das ist ein Teil unserer pluralistischen Gesellschaft. Wenn denn die Politik – was wir alle hoffen – ab 2019 über eine Verlängerung der Innovationsförderung nachdenken wird, kann sie das ja ändern. Ich rate allerdings ab. Wogegen ich mich allerdings auf jeden Fall sperre, ist die Aussage, nur die Kassen aus Entscheidungen über Fördergelder für Innovationen in der Gesetzlichen Krankenversicherung herauszulösen.
Herr Prof. Hoffmann, was hat Sie denn zu der Aussage bewogen?
Hoffmann: Ich plädiere für mehr Wissenschaftlichkeit und Unabhängigkeit bei den Förderentscheidungen des Innovationsfonds. Dafür ist der Innovationsausschuss aktuell nicht aufgestellt. Herr Meusch hat vollkommen recht – das betrifft nicht allein die Kassen, sondern genauso die übrigen Vertreter der Selbstverwaltung. Hier entscheiden die Akteure der Gegenwart mit oftmals Prägungen aus der Vergangenheit über Innovationen der Zukunft.
Meusch: Aus meiner Sicht ist es für die von der Politik mitgedachte und explizit gewollte Translation in die Regelversorgung wichtig, einen kritischen Diskurs zu denen aufrecht zu erhalten, die in erster Linie für die Versorgung Verantwortung tragen. Das sind nun einmal die üblichen Verdächtigen, nämlich der Spitzenverband der Krankenkassen, aber auch die einzelnen Krankenkassen. Das ist aber auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft, die KBV und die KZBV, die die Politik richtigerweise mit der Bildung des G-BA beauftragt hat. Im Zuge des Innovationsfonds hat der Ansatz, versorgungsnahe Forschung zu stimulieren, einen Impuls bekommen, was ohne Kassen gar nicht funktionieren würde.
Hoffmann: Es geht doch gar nicht darum, ohne die Kassen agieren zu wollen – deren Erfahrungen und Kompetenzen im Gesundheitssystem müssen vielmehr unbedingt einbezogen werden. In der Versorgungsforschung setzen wir konsequent auf Dialog mit allen Akteuren im Gesundheitswesen. Ziel ist es aber, die Mittel des Innovationsfonds aus dem direkten Zugriff der Kassen und der weiteren Vertreter der Selbstverwaltung herauszulösen. Dies würde helfen, Interessenkonflikte zu vermeiden und sowohl einer Klientelorientierung als auch einem Proporzdenken bei der Verteilung der Mittel entgegenzuwirken.
Die TK ist aber nur über den Spitzenverband Teil des G-BA.
Meusch: Das ist richtig. Und es stimmt, dass Verbände per se sicherlich nicht die dynamischste Form in Sachen Innovationsförderung sind, was aber für alle Querschnittsorganisa-tionen dieser Art gleichermaßen gilt. Die ersten Erfahrungen zeigen ja auch, dass es dieser Form der Förderung schwerfällt, den Innovationsstau nachhaltig aufzulösen.
Lassen Sie uns doch einmal gemeinsam ein Gedankenexperiment durchexerzieren: Was wäre, wenn man den Innovationsfonds tatsächlich aus dem direkten Zugriff der Bänke, die den G-BA bilden, herauslöste?
Hoffmann: … dann wäre Raum für eine Begutachtung der Anträge durch den Expertenbeirat ohne Ansehen der Person, unterstützt durch unabhängige externe Gutachter. Förderentscheidungen würden die wissenschaftliche Qualität, die Priorität und Relevanz des Themas und – ganz wichtig – die tatsächliche Machbarkeit der beantragten Vorhaben höher gewichten. Und allenfalls in zweiter Linie die Interessen der beteiligten Akteure. Ich kann mir gut vorstellen, dass das auch einigen Mitgliedern im Innovationsausschuss eine große Last von den Schultern nehmen würde.
Meusch: Dann bekommt man sofort ein großes Problem, das da heißt: Wie kommt dann die Forschung in die Versorgungsrealität und wie
wird sie umgesetzt? Entscheidend ist doch, dass
die Erkenntnisse der Forschung bei den Patienten in Form von besserer Versorgung ankommen, sonst nützen ja die schönsten Forschungsergebnisse nichts. Hält man an einem Fonds fest, ist so etwas wie der Innovationsausschuss eine durchaus sinnvolle Sache.
Warum das?
Meusch: Weil in diesem Ausschuss Leute sitzen, die ganz genau sagen können, welches Projekt überhaupt eine Chance hat, bei positiver Evaluation die Hürde der Translation zu nehmen ,
die der Gesetzgeber vorgegeben hat – sprich via G-BA in die Regelversorgung aufgenommen zu werden. Solange diese Hürden so sind, wie sie sind – und ich sehe niemanden, der sie grundsätzlich abschaffen will – ist die Verknüpfung zwischen denen, die über zu fördernde Versorgungsprojekte entscheiden, und denjenigen, die sie später umsetzen sollen, durchaus sinnvoll.
Wenn man sich die aktuelle Zusammensetzung des G-BA und jene des Innovationsausschusses ansieht, ist der einzige Unterschied jener, dass beim Ausschuss das BMG und das BMBF eine Stimme haben. Damit hat sich die Politik doch ganz aktiv selbst an den Tisch gesetzt, was durchaus auch ein Wunsch des unparteiischen Vorsitzenden, Professor Hecken, gewesen ist. Was stünde denn dagegen, dass auf Betreiben der Politik ein ganz neues Gremium geschaffen wird, das ganz explizit Innovationsförderung und -forschung betreiben soll, und sich darum viel weiter von den Gestaltern entfernen muss, um sich die nötige Freiheit und Unabhängigkeit zu erhalten. Wobei natürlich die Umsetzung der positiv evaluierten Projekte immer über die Kassen auf Länderebene gewollt und von der Politik gewünscht sein muss. Warum muss in einem solchen Konstrukt ein Spitzenverband Bund eine starke Rolle spielen?
Hoffmann: Das sehe ich auch so. Anstelle der Entscheidung über wissenschaftliche und methodische Fragen sollte sich der Innovationsausschuss auf Fragen des Praxistransfers und vor allem der Überführung erfolgreicher Ansätze in die GKV-Versorgung konzentrieren. Da sitzen G-BA und Selbstverwaltung im driver-seat!
Meusch: Das ist nun eine ganz andere Logik als jene, explizit und nur die Kassen aus dem Innovationsausschuss entfernen zu wollen. Wenn in diesem Szenario im Prinzip alle Topentscheider der ge-
meinsamen Selbstverwaltung außen vorgehalten werden, ist das aus der Perspektive der Wissenschaft überlegenswert. Als Politikwissenschaftler gebe ich aber zu bedenken, dass die Komplexität der Entscheidungen mit jedem neuen Mitspieler erhöht wird. Weil wir oben gemeinsam festgehalten haben, dass die Gremienstruktur sich schon schwertut, den Innovationsstau abzuarbeiten, warne ich davor, die Komplexität weiter zu erhöhen und zusätzliche Mitspieler mitentscheiden zu lassen. Praktisch ausgedrückt: Bewahren wir den Innovationsfonds davor, das Schicksal der Gematik zu nehmen. Außerdem: Seit Platons gescheitertem Versuch, seine klugen Gedanken in reale Politik zu übersetzen, wissen wir doch, dass Theorie und Praxis unterschiedlichen Rationalitäten folgen. Ich verneige mich hier auch vor Niklas Luhmann, dessen sehr abstrakte Systemtheorie, die Wissenschaft und Politik unterschiedlichen Systemen mit unterschiedlichen Rationalitäten zuordnet, mehr praktische Relevanz hat als Träumereien davon, dass Wissenschaftler die bessere Politik machen würden.
Und was heißt das jetzt für die Frage, wer das Sagen haben soll für die Entscheidung, wie Innovationen im deutschen Gesundheitswesen gefördert werden sollen?
Meusch: Eine Antwort aus zwei Teilen: Erstens lehne ich ein staatliches Gesundheitssystem ab und damit auch die Fokussierung auf staatliche Entscheidungen. Der Staat sollte sich darauf konzentrieren, eine Rahmenordnung vorzugeben, die nicht alles vorgibt, sondern ausfüllungswürdig und -bedürftig ist. Das gilt auch für die Versorgungsforschung und die Innovationsförderung. Zum Zweiten leben wir in einer pluralen Gesellschaft mit einer Vielzahl von Institutionen und Personen, die mit unterschiedlicher Perspektive an Entscheidungen mitwirken. Ich finde es gut, dass es nicht nur Institute des G-BA gibt, die forschen, sondern dass Institute der Leistungserbringer wie das ZI oder auch der PKV oder der GKV ihre Rolle dabei spielen. Der Himmel bewahre uns davor, dass das WINEG das Sagen hat, welche Innovationen gefördert werden sollen. Die Kollegen vom WIdO, dem INGEF oder von der PKV oder anderen relevanten Playern sind wie wir das Salz in der Suppe einer pluralen Forschungslandschaft. Die Fraunhofer-, Leibniz- oder Helmholtz-Gesellschaften sind unverzichtbar. Wollen sie IGES, AQUA oder WIG2 keine relevante Rolle zubilligen, Ideen für die Verbesserung der Versorgung zu artikulieren, weil wir auf zentrale Forschungsförderung setzen? Wir alle sind Think-Tanks, die die Diskussion bereichern wollen. Ich möchte kein Zentralinstitut für Forschungsförderung, weder beim G-BA, noch sonst irgendwo. Zentrale Thinktanks sind Teile von staatlichen Gesundheitssystemen, was ich für Deutschland ablehne.
Hoffmann: Ein zentralistisch geführtes, planwirtschaftliches Ge-
sundheitssystem wird nicht dadurch vermieden, dass die Selbstverwaltung hinter verschlossenen Türen und auf der Basis nicht kommunizierter Kriterien über Innovationsprojekte entscheidet! Aber im Ernst: Ich kenne niemanden, der sich bei den Förderentscheidungen im Innovationsfonds staatlichen Dirigismus wünscht. In anderen Ländern – mit und ohne staatliches Gesundheitssystem – gibt es aber durchaus Institutionen, die weitgehend unabhängig von den unmittelbaren Akteuren Innovationen in der Versorgung entwickeln, genau im Sinne der Think-Tanks, die Herr Meusch anspricht. Das gilt für die Vertreter im G-BA aber allenfalls eingeschränkt. Deren Aufgabe ist die Moderation von Konflikten, der Ausgleich widerstrebender Interessen der Akteure und die Aushandlung von Kompromissen in der Versorgung der Gegenwart.
Was halten Sie von einer Clearingstelle Versorgungsforschung, wie sie das DNVF fordert?
Meusch: Ich bedaure, dass Ansätze zur Fokussierung der Forschungsförderung wie gesundheitsziele.de so wenig Wirkung entfaltet haben und begrüße deshalb, dass das DNVF sich dafür einsetzt, Versorgungsziele zu formulieren. In einer pluralistischen Gesellschaft wie der deutschen und insbesondere im deutschen Gesundheitssystem mit seinen vielen Playern ist es allerdings extrem schwierig, sich auf eine Fokussierung zu einigen. Trotzdem glaube ich nicht, dass uns hier staatlicher Dirigismus – dass zum Beispiel der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates beschließt, was wo geforscht werden soll – weiterbringen wird. Der Diskurs über Versorgungsziele ist zwar schwierig, staatlichen Dirigismus zu Versorgungszielen lehne ich aber ab.
Hoffmann: Der Deutsche Bundestag ist jetzt auch nicht mein Wunschgremium zur Begutachtung der Projektanträge im Innovationsfonds! Was allerdings die Identifikation der prioritären Forschungsfragen angeht, kann das nicht dem freien Spiel der Interessen der Akteure im Gesundheitswesen überlassen bleiben. Dann kommen Kompromisse auf oft niedrigem Niveau heraus, die möglichst wenig verändern und keinem wehtun. Ein solcher Prozeß würde sowohl die Interessen der Patienten als auch die Evidenz aus der Versorgungsforschung nicht genügend berücksichtigen. Deshalb mußte die Politik gerade in den letzten Jahren immer wieder die Richtung vorgeben – weil die Selbstverwaltung als solche eben nicht innovativ ist und oft auch nicht die Gesellschaft als Ganzes repräsentiert.
Was wäre denn so etwas wie ein optimaler Weg?
Meusch: In einer pluralistischen Gesellschaft gibt es kein Optimum, sondern nur die Suche nach der besseren Lösung. Wir müssen im Blick behalten, was in der Gesellschaft durchsetzbar ist – piecemeal engineering um es mit Popper zu sagen. Darum kann ich in der jetzigen Situation mit der bisherigen Konstruktion des G-BA und Fonds eigentlich auch ganz gut leben. Präferieren würde die TK ein Innovationsbudget: Das Konzept sieht einen Mindestausgabenwert von 2,50 Euro je Versicherten vor. Nicht verausgabte Mittel werden über den GKV-Spitzenverband auf die Krankenkassen umgelegt, die mehr als 2,50 Euro ausgeben. Die Mittel sollen über Selektivverträge der Krankenkassen – konkret über Verträge nach § 140a SGB V (Besondere Versorgung) und Modellvorhaben nach § 63 SGB V – Eingang in die Versorgung finden. Das wäre ein wirksames Wettbewerbsinstrument.
Hoffmann: Nach unserem Konzept ist der Innovationsfonds kein Instrument im Kassenwettbewerb. Der Innovationsfonds soll primär dazu dienen, objektiv und unabhängig die Entwicklung und Umsetzung innovativer Lösungen für real existierende Versorgungsprobleme zu unterstützen. Der Fonds muss deshalb tatsächlich ein Fonds werden, der außerhalb der Selbstverwaltung transparent und unabhängig geführt wird. Das passt sehr gut zum Investitionsbudget, das die TK vorschlägt. Denn die Mittel müssen natürlich nach einem transparenten und für alle Kassen fairen Schlüssel eingesammelt werden. Und dann können sich die Krankenkassen und Versorgungsforscher wie alle anderen Akteure gleichermaßen um die Mittel des Fonds bewerben und es gewinnen die besten Konzept.
Meusch: Unser gemeinsames Interesse ist, dass die Förderung der Versorgungsforschung verstetigt wird. Die Impulse aus dem Innovationsfonds verpuffen zu lassen, das will niemand. Hier haben wir absolut ein gemeinsames Interesse. Dazu hat Thomas Ballast, der stellvertretende Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse, ja bereits Vorschläge zu dem oben erwähnten, gesetzlich verankerten Innovationsbudget gemacht. Das wäre der Weg, auf den wir uns in den kommenden Monaten und Jahren konzentrieren sollten, anstatt über die Governance-Struktur des G-BA und des Innovationsausschusses zu lamentieren. Das ist mein Petitum.
Hoffmann: Die Idee, ein gesetzlich verankertes dauerhaftes Inno-
vationsbudget aus den Mitteln der GKV zu schaffen, halte ich für
außerordentlich sinnvoll und unterstützenswert. Ich bin auch sicher,
dass gute Versorgungsforschung diese eingesetzten Mittel rasch wieder einspielt und sich die Investition in innovative Projekte bereits nach kurzem Vorlauf volkswirtschaftlich, vermutlich auch betriebswirtschaftlich auszahlen wird. Aber dazu sollten wir die Governance des Innova-tionsfonds ändern. Denn dessen positive Wirkung wird gesteigert durch eine unabhängige Begutachtung nach transparenten Kriterien – wissenschaftliche und methodische Qualität, Patienten- und Versorgungsrelevanz, Machbarkeit. Das Verfahren sollte sich an dem der Deutschen Forschungsgemeinschaft, DFG, oder des BMBF orientieren. Frei von Interessen und Proporz – und natürlich auch von äußeren Einflußnahmen aller Art. Dann kommen wir gemeinsam weiter!
Herr Prof. Hoffmann und Herr Dr. Meusch, danke für das Gespräch. <<
Das Interview führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.
Zitationshinweis : Stegmaier, P.: „Mehr Wissenschaft und Unabhängigkeit“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (06/17), S. 26-28; doi: 10.24945/MVF.06.17.1866-0533.2047