„Zwischen Beharrlichkeit und Innovation“
>> Der zweite Blick zeigt, dass die oben genannten Handlungsfelder mit den getroffenen Maßnahmen keineswegs abgeräumt sind. Da ist zunächst die Frage, ob beispielsweise der G-BA die Gesetzesinten-tionen auch entsprechend umsetzt. Im September-Plenum wurde dort etwa beschlossen, dass Patienten, die wegen einer Zweitmeinung einen weiteren Arzt aufsuchen, das Ergebnis dieser Begutachtung nur erhalten, wenn sie explizit um Aushändigung bitten. Bei der qualitätsabhängigen Vergütung erreicht das Ringen darum, dass Leistungsbereiche aufgegriffen werden, bei denen aus den bestehenden Indikatoren überhaupt relevante Qualitätsunterschiede ablesbar sind, die Öffentlichkeit. Alles deutet darauf hin: Entgegen den Annahmen der Gesundheitspolitiker müssen weitgehend erst die Grundlagen geschaffen werden, damit die Ansätze des KHSG, etwa qualitätsabhängige Vergütung oder Planung, überhaupt greifen können. Mit anderen Worten: Mit dem einmaligen Weckruf des KHSG ist es nicht getan. Wer wirklich will, dass statt ökonomischen Interessen Qualität einen höheren, ja entscheidenden Stellenwert im Gesundheitswesen bekommt, der muss über viele Jahre (=mehrere Legislaturperioden) beharrlich nachhalten. Nur so können auch die Informationen für Verbraucher gewonnen werden, die verlässlich und verständlich in Form der Qualitätsberichte über die Krankenhäuser Auskunft geben. Entsprechend wird auch die operative Umsetzung der Reformen des KHSG noch eine Reihe von Jahren dauern – wenn sie denn gelingt.
Ähnliches gilt auch für den Umgang mit Innovationen. Zweifellos ist es erforderlich, Innovationen (über die reine Produktinnovation hinaus) in der gesetzlichen Krankenversicherung umzusetzen. Der gleichnamige Fonds ist ein wichtiger Anstoß, aber in seiner jetzigen Form keineswegs ausreichend. Er sucht nach kurzfristig umsetzbaren, punktuellen Neuerungen. Keine Chance haben derzeit Projekte, die weitreichend und komplex sind, darauf angelegt, das System der Gesundheitsversorgung grundlegend zu verändern, wie etwa eine elektronische Patientenakte und die damit einhergehenden tiefgreifenden Veränderungen der Patientenversorgung. Und trotz der Vorgabe von Förderschwerpunkten ist im Grunde weitgehend ungesteuert, ob tatsächlich die wichtigen Verbraucherprobleme angegangen werden oder eben doch einfach zu realisierende quick wins für einzelne Kassen. Entsprechend muss in Zukunft noch sichergestellt werden, dass aus den abgeschlossenen Projekten auch konkrete Konsequenzen für die Regelversorgung gezogen werden. Von den vielen Baustellen bei der Umsetzung der Digitalisierung ganz zu schweigen. Auch hier wäre also intelligente, innovative Beharrlichkeit der Gesundheitspolitik gefragt.
Aus Verbrauchersicht lohnende Themen gibt es aber auch für die Zukunft noch genug. Ein aufkommendes Thema ist hier die Versorgungssicherheit, insbesondere die Notfallversorgung. Die Erkenntnis, dass unsere derzeitige Mischung aus Sektoregoismen und Wettbewerbs-
interessen, Intransparenz, Föderalismus und mangelhafter Verbraucherinformation vermeidbare und höchst nachteilige Konsequenzen hat, erscheint gesichert. Weniger klar ist, mit welchen Änderungen und Vorgaben mehr Patientensicherheit Orientierung und Effizienz zu erreichen sind. Schon seit langem weist der vzbv in seinem Faktenblatt zur Versorgungssicherheit auf den Reformbedarf selbst innerhalb der ambulanten Bedarfsplanung hin*. Stichwort bleibt die Bedarfsorientierung der Planung und ihre Integration über Versorgungssektoren hinweg.
Weniger breit diskutiert, aber genauso wichtig wären verbesserte Patientenrechte und die nachdrückliche Durchsetzung der bestehenden. Das 2012 erlassene Patientenrechtegesetz hat unter dem Strich kaum reale Verbesserungen der Patientenrechte gebracht, sondern nur Bestehendes zusammengefasst. In der Praxis zeigt sich, dass selbst seit langem etablierte Rechte wie das Einsichtsrecht des Patienten in die ihn betreffende Dokumentation keineswegs selbstverständlich praktiziert wird, da es an Sanktionen mangelt. Wirkliche Verbesserungen brächten z.B. ein Härtefallfonds, besserer Zugang zu qualitativ angemessenen Gutachten oder mehr Schutz bei individuellen Gesundheitsleistungen. Nach wie vor zeigt sich, dass Regeln des Berufs- und des bürgerlichen Rechts besser durchgesetzt werden müssen, unabhängige, evidenzbasierte Informationen fehlen oder mit IGeL-Verzichtsformularen Druck auf Patienten ausgeübt wird.
Zusammenfassend kann man also für die Zukunft folgende Anforderungen formulieren: Es ist wichtig, eine gute Balance zu finden zwischen dem Aufgreifen neuer Themen und der Beharrlichkeit bei der Verfolgung bereits begonnener Entwicklungen, damit diese nicht im Sande verlaufen. Unerlässlich dabei ist die Ausrichtung des Handelns vor allem an den Interessen der Beitragszahler und Patienten, die gleichermaßen von der Zukunftsfähigkeit und sozialen Ausgewogenheit der gesetzlichen Krankenversicherung abhängen. <<
* http://www.vzbv.de/sites/default/files/versorgungssicherheit-faktenblatt-vzbv.pdf.
Zitationshinweis : Köster-Steinebach, I.: „„Zwischen Beharrlichkeit und Innovation“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (05/17), S. 34; doi: 10.24945/MVF.05.17.1866-0533.2037