Ein Bisschen Menschlicher
>> Herr Dr. Schily, die Grundlage der Evidence-based Medicine ist die Epidemiologie, die ein ganzes Bündel an naturwissenschaftlichem Regelwerk beinhaltet. Doch viele Wissenschaftler verkürzen den an sich vorhandenen Baukasten an Regelmaßnahmen im Prinzip auf die Randomisation. Was halten Sie ganz persönlich von EBM?
Wenn die EBM sich auf die ärztliche Erfahrung stützen würde und aus dieser heraus eine rationale Medizin weiter entwickelt werden würde, wäre das eine ganz feine Sache. Nun ist es aber gerade das Bestreben der Vertreter der sogenannten EBM, die Ärzte und die Patienten als Subjekte – da sie ja subjektiv sind – aus den Verfahren zur Urteilsgewinnung heraus zu halten. Da dies im Doppelt-Blind-Versuch mit Zufallszuteilung (RCT) erreicht scheint, wird dieser als der Goldstandard angesehen. Die Kritik an RCT ist alt und gut begründet. Dass man trotzdem an ihm festhält, weist darauf hin, dass man es hier mit Denkkollektiven im Sinne von L.Fleck oder mit Paradigmen im Sinn von T.S. Kuhn zu tun hat.
Gibt es denn eine stimmige Argumentation pro RCT?
Ich habe noch kein Beispiel gefunden, in dem der randomisierte Doppelblindversuch etwas Sicheres zu Tage gefördert hätte. Die Beispiele, die das IQWiG auf seiner Webseite aufführt, sind entweder lächerlich – wie bei dem Löffel in der Flasche – oder zeugen von Zynismus wie bei der Blindheit durch übermäßige Sauerstoffanreicherung in der Luft der Brutkästen bei Frühgeborenen. Dass Sauerstoff lebensfeindlich sein kann, wusste man seit über 100 Jahren. Eine saubere Untersuchung hätte die Ursache klar aufgedeckt, es hätte keiner weiteren Studie bedurft und vielen weiteren Kindern wäre die Blindheit erspart geblieben. Diejenigen, die wirklich Medizin machen, fühlen sich meiner Meinung und Erfahrung nach im Komplex der Evidence-based Medicine, mit all den dazu gehörenden Evaluationen, nicht wohl.
Warum ist das so?
Sie sind ärztlich engagiert. Sie haben konkrete Patienten vor sich und keine Kollektive. Sie müssen in ihrem ärztlichen Handeln genau das alles berücksichtigen, was die Studien auszuschließen versuchen. Andererseits sind sie gehalten, die Vorschriften, die ihnen mit Hilfe dieser Studien gemacht werden, zu befolgen. Medikamente, mit denen sie erfolgreich gearbeitet haben, sollen sie nicht verschreiben, da ihre Wirksamkeit nicht in Studien bewiesen wurde. Ideal wäre es, wenn sie – als definierter Teil eines übergeordneten Systems – in festgelegter Weise funktionieren würden.
Damit korrespondiert die fehlende – auch finanzielle – Anerkennung der ärztlichen und pflegerischen Tätigkeit. Empathie kann man schlecht bewerten. Bei technischen Leistungen ist das einfacher. Der Facharzt verdient besser als der Hausarzt und unter den Fachärzten stehen sich die Radiologen und die Laborärzte am Besten, also Ärzte die nicht notwendigerweise einen Patienten zu Gesicht bekommen müssen. Je näher der Arzt am Patienten ist, desto weniger verdient er. Und oft ist der Pädiater das Schlusslicht, obwohl von diesem ein besonderes Maß an klinischem Können gefordert wird.
Wo führt uns dieses Ungleichgewicht denn Ihrer Meinung nach hin?
Zum Unfrieden, zur Resignation oder im schlimmsten Fall zum Zynismus. Übrigens ist das in der Wissenschaft, besser gesagt in der sogenannten scientific community ähnlich: Es wird nicht die Originalität der Forschung beurteilt, sondern die Veröffentlichungen pro Zeiteinheit. Diejenigen, die sich in der Mitte des Mainstream bewegen, die gut vernetzt sind und die wissen wann, man welche Anträge wie schreiben muss, sind erfolgreich.
Wie viele „gute“ Ärzte gibt es denn?
Ich glaube, dass es ziemlich viele gibt oder zumindest mehr, als man gemeinhin annimmt. Wäre dem nicht so, ginge es den Patienten schlechter.
Und wie geht es dem Arzt?
Die wirklich guten Ärzte leiden in unserem Gesundheitssystem ebenso wie Patienten. Und zwar massiv. Ich habe mich mein ganzes Leben lang gefragt, wie man aus dieser Zwangslage wieder heraus kommen kann.
Haben Sie denn eine Antwort gefunden?
Wir werden zu neuen Lösungen kommen müssen. Dass das schwierig ist, weiß ich. Wir wollen den Menschen das Bestmögliche einer sich technisch und wissenschaftlich weiter entwickelnden Medizin zukommen lassen. Das wird sich mit einem mengenbasierten und ökonomisierten Gesundheitssystem nicht machen lassen. Hier wären die Ärzte gesellschaftlich gefordert, es wäre auch eine gute Aufgabe für eine Versorgungsforschung, wenn sie sich nicht als naturwissenschaftlich – positivistische Soziotechnik in der Anwendung auf die Medizin versteht.
Wie sieht die Realität im niedergelassenen Bereich der 5-Minuten-Medizin oder im Krankenhaus post DRG aus?
Die DRG sind eine eigene Sache und in Verbindung mit dem Morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich schon eine ganz besondere. Im „Monitor Versorgungsforschung“ habe ich in einem Artikel zur Notfallambulanz gelesen: Aus Gründen der Ökonomie müssten mindestens sechs Patienten pro Stunde versorgt werden. Das heißt doch, dass dem Arzt bei sechs Patienten pro Stunde – auch im Notfallbereich – gerade mal zehn Minuten Zeit zugestanden wird. Das kann nicht angehen!
In einer stark ökonomisierten Medizin, in der solche Vorgaben überhaupt durchgesetzt werden können, anscheinend schon.
Kann ja sein – nur kann man weissagen, dass es dadurch nicht billiger und schon gar nicht besser wird.
Wer bestimmt denn die Regeln dieses „Spiels“, das leider keines ist?
In unserer „Gesundheitswirtschaft“ haben wir drei Spieler vor uns: den Staat in seiner legislativen und seiner exekutiven Funktion, die Kassen und das ärztliche Establishment. Und die Patientenvertreter dürfen zuschauen. Kennen Sie das Triple-Pendel? Man kann einen einzigen Pendelarm anstoßen, was eine recht einfache Pendelbewegung nach links und rechts auslöst. Stößt man zwei oder gar drei der miteinander verbundenen Pendelarme an, wird es unmöglich vorherzusagen, wie die Pendelbewegungen ausfallen werden. Das soll nur verdeutlichen, wie schwierig die Situation ist.
Dabei ist der ins Gesundheitssystem implantierte Wettbewerbsgedanke ein gewolltes Instrument der Politik, mit dem Ziel, eine ökonomische Barriere einzuziehen. Die von der Politik institutionalisierte Selbstverwaltung ist gehalten, sich pro Jahr innerhalb des vorgegebenen 330-Milliarden Euro-Raums zu bewegen, wobei es – mit Ausnahme der Regelungen für die Zukunft, getroffen im „Gesetz zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung“ – ziemlich egal ist, welche Qualität dabei herauskommt.
Ein Wettbewerb um Qualität wäre ja gut, ein Wettbewerb um Menge und Marktmacht ist verderblich. Sauberer Wettbewerb funktioniert nur unter eindeutigen und klaren Regelungen und funktioniert nicht, wenn Marktteilnehmer und Aufsicht sich eng verbinden. Das Ergebnis kann man in der Energiewende oder beim Dieselbetrug beobachten. Die Politik scheut sich den Betrug auch Betrug zu nennen, sondern setzt sich sogar mit den Betrügern zu Gipfeln zusammen.
Exakt in dieses komplexe, unvorhersehbare Konstrukt kommt nun mehr und mehr die Versorgungsforschung und die Evidence-based Medicine.
Wie gesagt, wenn eine EBM entwickelt wird, in der die ärztliche Erfahrung Berücksichtigung findet, die nicht aus Laborsituationen, sondern aus den realen Gegebenheiten ihre Schlüsse zieht, würde die EBM ihrem Ziel – Ärzte mit wissenschaftlich gesicherter Erkenntnis zu versorgen – gerecht werden können. Dieses Ziel ist ja nur zu unterstützen. Solange jedoch eine „Evidenz“ mit untauglichen Mitteln zu gewinnen versucht wird, ist sie untauglich und oft fortschrittsfeindlich.
Ein Beispiel?
Honig und Salbei sind noch heute gute Mittel bei Rachen- und Mandelentzündung. Doch welche Imkervereinigung würde einige hunderttausend Euro für ein RCT investieren?
Der per se schwierig ist und der dann vom IQWiG sowieso nicht anerkannt wird, weil die Bienen nicht ordentlich randomisiert wurden.
Das ist sicher wieder ein Problem für sich. Doch was für Honig gilt, gilt ebenso für die meisten Medikamente im sogenannten Bestandsmarkt, die so gut wie nicht beforscht sind.
Ist denn die EBM an sich ist ein Hindernis für Innovationen?
Die gegenwärtigen Werkzeuge der EBM treiben die Forschung in die Industrie. Diese ist und muss gewinnorientiert sein. Forschung für den Menschen muss sich jedoch am Menschen und nicht an Märkten orientieren.
Wie müsste sich denn die EBM verändern, damit sie keine oder weniger negative Nebenwirkungen hat?
Die Vertreter der EBM müssten sich ernsthaft fragen, was sie erreicht haben und was nicht. So lang sie aber in ihrer weltanschaulich geprägten paradigmatischen Gemeinde – mit Herrschaftsanspruch –bleiben, wird sich nichts ändern. Ändern könnte sich auch dann etwas, wenn seitens der Politik eine weltanschauliche Vielfalt durchgesetzt werden würde.
Sie klingen nun etwas frustriert.
Ein wenig schon – oder besser gesagt: Ich war es. Aber auch dazu muss ich ein wenig ausholen: Ich bin gerne Arzt und hatte den großen Vorteil, dass ich vor meinem Medizinstudium in Tübingen ein Semester lang in Basel studieren konnte und Vorlesungen von Karl Jaspers, Adolf Portmann, Adolf Muschg und Karl Barth hören durfte. Das war eine inspirierende, tolle Zeit. Dann der Gegenentwurf: Ich kam zum Studium der Medizin nach Tübingen und dort als Erstes im anatomischen Präparierkurs an die Leiche. Der Kurs wurde von einem sicher sehr netten, aber – wie ich damals fand – auch total einseitig gebildeten Professor geleitet. Bitte nicht falsch verstehen: Ich blickte sehr zu dem Professor auf, er wusste alles in der Anatomie, aber das tote Präparat schien mir weit vom lebendigen Organismus entfernt, mit dem ich es doch als Arzt zu tun haben würde.
Muss denn ein Arzt Philosoph sein?
Nein. Aber um ein wissenschaftlich gebildeter Arzt zu werden, sollte man das Denken üben. Das geht am Besten mit dem eigenen Kopf und an der Philosophie.
Das besser zu machen, war sicher der Grund für Witten/Herdecke.
Genau. Einerseits frühe Praxis, anderseits Studium fundamentale. Alle Witten/Herdecke-Absolventen mussten sich an irgendeiner Stelle philosophisch betätigen, sich obendrein mit Geschichte und am besten auch noch mit Kunst auseinandersetzen.
Ging das einfach so?
Sicher. Wir haben damit schon 1983 begonnen, also lange, bevor es überhaupt einen entsprechenden Modellparagraphen in der Approbationsordnung gab.
Wie das?
Wir hatten ein von G. Kienle geprägtes Motto „Gestuft zu immer umfassenderer Hilfeleistung befähigen“. Das verträgt sich gut mit der sogenannten Lernspirale und dem problemorientierten Lernen. Das hatten nicht wir entwickelt, sondern übernommen. Vereinfacht gesagt bedeutet problemorientiertes Lernen, dass man lernen muss, die Fragen selber zu stellen, sie zutreffend, dem Gegenstand entsprechend zu stellen und sich die Antworten selbst zu erarbeiten. Das erfordert und übt die eigene Aktivität, die Phantasie und die Arbeit im Team. Es übt die Kritikfähigkeit und stärkt die Urteilssicherheit. Es ist ein bedeutender Unterschied, ob ich so lerne oder ob ich in Frontalvorlesungen mit Antworten gefüllt werde, für die ich dann später im Leben die Fragen finden soll, auf die die vor Jahren gelernten Antworten wohl passen könnten.
Lernspirale heißt aber auch, dass ich von einfacheren, überschaubaren Problemen zu immer komplexeren Problemen geführt werde.
Sich Wissen erarbeiten, der Praxis begegnen, die Hilfestellung in der Pflege üben, darüber nachdenken, wie ich mich zur Welt und die Welt sich zu mir stellt – so etwa könnte man das damalige Studium zusammenfassen. Die Tage der Studierenden in den ersten Semestern begannen mit der Pflege und Patientenbeobachtung morgens um 7 Uhr. Dann die Veranstaltungen zum problemorientierten Lernen. Praxistage bei den niedergelassenen Ärzten und am Donnerstag das Studium fundamentale – der Tag wurde dafür von anderen Veranstaltungen freigehalten – kamen dazu.
Gab es keine Bewertungen?
Natürlich gab es Messdaten, obwohl die entsprechenden Prüfungsformate nicht gleich zur Verfügung standen.
Wie wurden dann die Anforderungen der Approbationsordnung erfüllt?
Die Studierenden haben ihr Physikum – und später ihre Abschlussprüfungen – wie die anderen auch gemacht. Die Prüfungen waren und sind ja für alle gleich und werden zentral durchgeführt. In den Prüfungen lag Witten/Herdecke in der Medizin erfreulicherweise immer ganz oben.
Gibt es Erkenntnisse darüber, ob diese Absolventen auch bessere Ärzte geworden sind?
Erkenntnisse aus Witten/Herdecke gibt es nicht. Darum bin ich froh, dass der Reformstudiengang an der Charité, den es 1999 bis 2009 gab, evaluiert wurde. Dieser Studiengang hatte viele Gemeinsamkeiten mit Witten/Herdecke. Die Ergebnisse sind leider nicht veröffentlicht worden. Eine Gemeinsamkeit im Ergebnis dieser Studiengänge besteht darin, dass die Absolventen beruflich befähigt waren und nahezu alle Absolventen kurativ tätig geworden sind.
Und beim „normalen“ Arzt-Regelstudium?
Da sollen es wesentlich weniger sein, die kurativ tätig werden. Ausserdem wird beklagt, dass diese Absolventen oft mehr als ein Jahr bräuchten, um beruflich wirklich eingesetzt werden zu können.
Welchen Impact hat das auf das gesamte Versorgungssystem? Derartige Modellprojekte wie in Witten/Herdecke und in Berlin an der Charité, mit denen eine andere, bessere Arztausbildung versucht wird, sind mit Sicherheit ehrenwert ...
… weil ohne Witten/Herdecke es gar keinen Modellparagraphen gegeben hätte. Und dann hätte sich gar nichts geändert!
Aber hat sich das im System ausgewirkt?
Nicht wirklich. Es ist aber gelungen, auf die Mängel in der ärztlichen Ausbildung aufmerksam zu machen und zu zeigen, dass es anders auch geht.
Ist das auch der Ansatz der Medizinischen Hochschule Brandenburg (MHB)?
Im Kern sicher. In der Medizinischen Hochschule Brandenburg hat man sich im Wesentlichen auf das Konzept des Reformstudiengangs der Charité gestützt, dessen Qualität man anerkennen muss.
Wird auch Versorgungsforschung berücksichtigt? Viele Ärzte verstehen doch überhaupt gar nicht, was beispielsweise „p“ bedeutet.
Was erst dann wichtig wäre, wenn Versorgungsforschung grundsätzlicher würde.
Jede Menge Konjunktive II.
Ganz mit Bedacht gesagt: Wenn Versorgungsforschung von Ärzten ernster genommen werden will, muss sie die wichtigen ärztlichen Fragestellungen analysieren.
Soll denn die Versorgungsforschung medizinischer werden?
Frei und erweitert nach Naunyn und Virchow würde ich formulieren: Medizin ist eine Wissenschaft, eine soziale Wissenschaft und auch Kunst, die in ihren Methoden der Komplexität des Menschen und seiner Umwelt gerecht werden muss.
Versorgungsforschung will bekanntlich, wie es die Professoren Pfaff und Schrappe formulierten, „die letzte Meile“ beschreiben.
Das heißt: Sie möchte sozusagen im Sprechzimmer und am Krankenbett anwesend und bestimmend sein. Das kann sie aber nur dann, wenn sie unterstützend ist. Sie darf z.B. fragen, wie es um die Versorgung des diabetischen Fußes bestellt ist und sie wird feststellen, dass auch hier der Fortschritt sich im ärztlichen Engagement begründet. Sie sollte fragen, ob und welche verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten es gibt und wer, bei welchen Patienten mit welcher Methode die besten Ergebnisse erzielt. Versorgungsforschung muss aber auch fragen, und das laut und öffentlich, warum es geduldet wird, dass – bei ständiger Zunahme der Fälle von Adipositas und Diabetes in der Bevölkerung – der Zuckeranteil in unseren industriell hergestellten Nahrungsmitteln ständig zunehmen darf, was der Fall ist.
Die Versorgungsforscher sehen sich ja in der Pflicht „unter besonderer Beachtung der Patienten- und Populationsperspektive die Versorgungsstrukturen und -Prozesse der Gesundheitsversorgung zu untersuchen und dabei die Angemessenheit der Behandlung und die Verbesserung der Versorgung sowie die Komplexität von Kontext und Intervention in den Mittelpunkt zu stellen“, wie im aktualisierten Lehrbuch Versorgungsforschung zu lesen ist.
Das klingt einerseits sehr wissenschaftlich, riecht aber auch arg nach Reichsversicherungsordnung und beschreibt die Nähe zur staatlichen Verwaltung. Diese erwartet von der Versorgungsforschung nun einmal Ergebnisse, mit denen das System besser gesteuert werden könnte.
Das gilt doch sicher nicht nur für die Medizin?
Ganz sicher nicht. Die Probleme sind grundsätzlich in allen sogenannten Versorgungsbereichen. Also will man überall Eingiffs- und Steuerungsmöglichkeiten finden.
Welcher Art?
Wir haben gesetzliche Ansprüche in der RVO, wir haben deren Regulierungen in zig Paragraphen der Sozialgesetzbücher. Wir haben Wettbewerb, vertraglich geregelte Leistungsansprüche in der privaten Krankenversicherung. Die Komplexität und Unübersichtlichkeit haben wir angesprochen. Das Ganze ist einfach zu groß. Wir können zwar 80 Millionen Menschen vorschreiben, auf der rechten Straßenseite zu gehen, aber wenn eine oder einer nicht laufen kann, wird die Hilfeleistung eine höchst individuelle Angelegenheit. Nach meinem Wissen funktioniert die Absicherung der Menschen für den Krankheitsfall darum auch nur in den genossenschaftlich organisierten Solidargemeinschaften.
Sind wir bei in den frühen Solidargemeinschaften vor Bismark, in Barmen, Elberfeld oder Freiberg?
Nein, aber z.B. in Bremen oder in Münster. Und auch nicht im 19. Jahrhundert, sondern in der Gegenwart.
Mit Leistungskatalog?
Eben nicht. Diese eingetragenen Genossenschaften haben gar keinen Leistungskatalog, sondern ersetzen – wie es beispielsweise die Bremer Samarita formuliert – Anspruch durch Zuspruch.
Kein Anspruch auf irgendwelche Leistungen?
Keine „irgendwelchen Leistungen“, sondern jene, die der behandelnde Arzt – im Dialog mit dem Patienten – als die richtigen für den individuellen Patienten ansieht. Das nennt beispielsweise die Samarita einen „Zuspruch“: Was du brauchst, das sprechen wir dir zu! Nicht mehr, aber gewiss nicht weniger, womit vollkommen darauf vertraut wird, dass sowohl die Patienten als auch die Ärzte das Bestmögliche tun wollen.
Und das funktioniert?
Erstaunlich gut.
Und wie?
Die Mitglieder nehmen nur dann Hilfe in Anspruch, wenn sie sie wirklich brauchen. Der Überschuss der gezahlten Beiträge fließt in den Solidartopf, das „Auffangbecken“ für Mitglieder in Not.
Hätten Sie ein Beispiel?
Ein Mann, seit 2012 Mitglied einer Solidargemeinschaft, brach sich im August 2015 beim Sturz von einer Leiter zweimal das Becken, zudem rissen am rechten Schultergelenk zwei Muskel ab. Der Mann beschreibt das so: „Was ich dann an Aufmerksamkeit und Zuwendung seitens der Samarita und meiner Regionalgruppe erlebte, war bisher beispiellos.“
So etwas hört man von Krankenkassen wohl eher selten.
Aber es geht noch weiter. Denn es wurden dem Mann nicht nur sechs Operationen anstandslos bezahlt, was normale Kassen ja meistens auch machen, nein: Die von ihm selbst ausgesuchten Kliniken konnten die erbrachten Leisutngen zum Privattarif abrechnen! Während der Zeit der Wiederherstellung erhielt er zudem nicht nur mehrfach Anrufe der Samarita, die sich nach seinem Zustand erkundigten und fragten, ob sie noch irgendetwas für ihn tun können, auch Mitglieder seiner Regionalgruppe boten ihm ihre Hilfe an.
Soviel Zuwendung ist sicher ungewöhnlich.
Und wie. Das war aber noch nicht alles. Als der Mann nach zwei Monaten im Rollstuhl und strikter Bettruhe zur Anschlussheilbehandlung musste, half ihm die Solidargemeinschaft wieder unbürokratisch und schnell. Während die Rentenversicherung, so die Aussagen des Mannes, die Kosten für die Reha mit immer neuen haarsträubenden Begründungen abgelehnt hätte, zahlte die Solidargemeinschaft erneut anstandslos für den Aufenthalt in der Reha-Klinik. Sein Fazit: „Nach über vier Jahren Mitgliedschaft bin ich froh und glücklich, Mitglied der Solidargemeinschaft Samarita zu sein. Ich fühle mich hier als Mensch, der beachtet und gewertschätzt ist. Ich fühle mich in der Gemeinschaft von Solidarität aufgehoben. Für mich ist allein dies Teil von Heilung in einer Welt, die vom Kapital bestimmt wird.“
Wie hoch ist denn der Beitrag einer solchen Solidargenossenschaft?
Wesentlich günstiger als bei den privaten Krankenkassen.
Das wäre doch ein Ansatz, die so langsam in die Jahre gekommene GKV zu renovieren.
Wäre es. Weil es das eigentliche solidarische Modell ist, wie es ursprünglich gedacht war.
Kann man allen Ernstes annehmen, dass 80 Millionen Bundesbürger in Solidargemeinschaften organisierbar sind und man damit quasi Deutschland innerhalb von – sagen wir – fünf Jahren in ein Modell, wie es annähernd die Schweiz hat, umwandeln könnte?
In 5 nicht, aber vielleicht in 10 oder auch 15 Jahren. Das ist nach wie vor meine Hoffnung. Das gegenwärtige System besteht seit 135 Jahren und die Beteiligten werden sich gegen Änderungen wehren. Trotzdem glaube ich, dass wir zu prinzipiell neuen Formen kommen müssen.
Würden Sie sagen, der G-BA sei eine hilfreiche Einrichtung?
In gewisser Weise schon. Nur müsste der Bundesausschuss, wenn er seine Aufgaben wahrnehmen soll, noch mehr Kompetenz – vor allem ärztliche – und eine viel höhere Durchgriffsfähigkeit auch auf Länderebene bekommen; das aber dann bitte mit deutlichen, sehr klaren gesetzlichen Ansagen.
Ist der G-BA dafür richtig besetzt?
Was gar nicht geht, ist, dass beim G-BA nur die sogenannten Bänke – also Spitzenverband Bund sowie die sogenannten „Leistungserbringer“ – stimmberechtigt sind, aber die Patienten zwar ein Antragsrecht, jedoch kein selbst zu bestimmendes unparteiisches Mitglied haben, wie ihn beispielsweise die Reformkommission der Stiftung Münch fordert, deren Reformvorschläge insgesamt Sinn machen. Dass die Vertretung der Patienten z.Zt. keine Stimme hat, ist jedoch logisch, wenn man sieht, wo der Bundesausschuss und unser ganzes Gesundheitssystem seine Wurzeln hat: bei Bismarck, dessen paternalistisches Weltbild sich damit konkretisiert.
Wo führt uns das alles hin?
Gegenfrage: Wohin führt uns der unbegrenzte Egoismus in der Umwelt, wohin in der Automobilindustrie? Und: Warum soll es gerade im Gesundheitssystem anders sein?
Weil nun einmal „Solidarsystem“ darübersteht!
Davon kann man sich auch täuschen lassen. Egoismus ist die am meisten verbreitete Seinsweise und Kapitalismus und Umweltzerstörung sind leider damit verschwistert. Das ist etwas, was ich früher nie zugegeben habe: Wenn man älter wird, muss man einfach konzedieren, dass die Welt und die Menschheit so ist, wie sie ist.
Und dennoch leben wir alle immer länger und sterben gesünder.
Aber gewiss nicht allein dank der Errungenschaften der Medizin. Dafür sind vor allem bessere Ernährung, verminderte körperliche Arbeit, effizientere Hygienemaßnahmen und sichere soziale Umfelder verantwortlich.
Wie kann es sein, dass wir alle in einem der besten Gesundheitssysteme der Welt leben, in dem jährlich 330 Milliarden Euro ausgegeben werden, aber innerhalb der Stadt Hamburg im Vergleich der hoch deprivierten Stadtteile Billstedt und Horn zu dem wohlhabenderen Harburg die Menschen in den ersten beiden rund 12 Jahre früher sterben?
Manche kommen eben nicht in den Genuss der längeren Lebensdauer: soziale Umfelder, vernünftige Ernährung, effiziente Hygiene sind auch in Deutschland nicht überall in gleicher Weise gegeben. Das wüssten wir deutschlandweit genauer, wenn wir eine vernünftige Epidemiologie machen würden. Die Lösung geht hier über die Medizin hinaus, es ist eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft. Aber natürlich ist der Ansatz in Hamburg zu unterstützen.
Auch das könnte Versorgungsforschung sehr gut leisten.
Nicht könnte, nicht sollte: Sie muss es! Wir brauchen eine vernünftige, gescheite, nicht aufgeregte Epidemiologie, ergänzt mit den nötigen, auch mutigen versorgungsforscherischen Ableitungen und Handlungsanweisungen.
Bringen sich eventuell die Ärzte mit all ihren Fragestellungen zu wenig in die Versorgungsforschung ein?
Wenn ich das Interview in Ihrer Zeitschrift mit Herrn Hildebrandt richtig in Erinnerung habe, waren es Ärzte aus den betroffenen Stadtteilen in Hamburg, die an Herrn Hildebrandt herangetreten sind.
Die wollen aber helfen und nicht unbedingt forschen.
Noch einmal: Als Arzt soll und will ich heilen, helfen, lindern. Ich soll nicht am Patienten üben, nicht an ihm experimentieren und keine Zufallszuteilungen vornehmen. Entwickelt ein Arzt und Wissenschaftler aus biomolekularen Überlegungen heraus im Labor ein neues Medikament, das bei einer Krankheit Heilung oder Linderung verspricht, so sollte er oder sie es mit Einverständnis des Patienten einsetzen dürfen. Ist die Behandlung auch beim zweiten Patienten erfolgreich, spricht das gegen einen Zufall. Jetzt aber gleich eine Doppeltblindstudie zu unternehmen wäre verwerflich, denn: Die Evidenz ist bereits ersichtlich. Mögliche Nebenwirkungen können auch durch aufmerksame Beobachtung der Verläufe erkannt werden. In diesem Sinne können Arzt und Forscher – auch in einer Person vereinigt – zusammen wirken.
Herr Dr. Schily, danke für das Gespräch. <<
Das Interview führten MVF-Herausgeber Prof. Dr. Reinhold Roski und MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.
Zitationshinweis : Roski, R., Stegmaier, P.: Ein Bisschen Menschlicher“, in "Monitor Versorgungsforschung" (MVF) 05/17, S. 6-11; doi: 10.24945/MVF.05.17.1866-0533.2032