Einordnung der Relevanz der Corona-Warn-App für die nationale Pandemie-Eindämmung
doi: http://doi.org/10.24945/MVF.05.20.1866-0533.2264
Der Artikel stellt sich die Frage, wie relevant die Corona-Warn-App (CWA) für die nationale Pandemie-Eindämmung ist. In der Logik der Fehlerfortpflanzung geht die qualitative Untersuchung der Frage nach, welchen Wert die Corona-Warn-App für die persönliche Entscheidung des Nutzers und das damit einhergehende Präventionsverhalten haben kann und mit welchen Risiken die App behaftet ist. Der Schwerpunkt liegt dabei weniger auf den viel diskutierten Aspekten des Datenschutzes, sondern vielmehr auf dem fehlerbehafteten Input von relevanten Befunddaten. Darunter fallen falsch-positive sowie falsch-negative Testergebnisse. Die Einordnung der einzelnen Fehlerquellen und eine epidemiologisch-analytische Gesamtschau im Kontext der Fehlerfortpflanzung legen nahe, dass der Wert der CWA für die nationale Pandemieeindämmung gering ist, mittel- und langfristig kein Nutzervertrauen aufbauen kann und dadurch auch zukünftig die breite Nutzung optimierter Varianten eher einschränkt.
Assessment of the relevance of the German Corona-warning-app for national Corona
pandemic containment
This article is guided by the question, how relevant the German Corona-warning-app (CWA) is for the national containment of the coronavirus pandemic. In the logic of error propagation, the qualitative assessment seeks to understand, whether the CWA contributes any value for the personal/individual decision-making regarding preventive behavior of its users and which risks it may pose. The focus is not on the frequently discussed data protection and privacy issues, but rather on errors related to data input of diagnostic findings. These include false-positive and false-negative test results. The assessment of the error sources and an epidemiological-analytical overall view in the context of error propagation suggest that the value of the CWA for national pandemic containment is low, cannot build up user confidence in the medium and long term, and thus also tends to restrict the broad use of optimized variants in the future.
Keywords
Corona, Covid-19, SARS-CoV 2, pandemic, proximity tracing app, corona warning app, application, decision support system, sensitivity, specifity, predictive value
Univ-Prof. Dr. rer. pol. Dr. sc. nat. Klaus H. Nagels / Fabienne Englmeier MSc
Literatur:
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Nagels, K., Englmeier, F.: „Einordnung der Relevanz der Corona-Warn-App für die nationale Pandemie-Eindämmung – Beitrag zur qualitativen Schwachstellenanalyse nach dem EVA-Prinzip (Eingabe, Verarbeitung und Ausgabe)“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (O6/20), S. 62-68; doi: 10.24945/MVF.06.20.1866-0533.2264
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Plain-Text:
Einordnung der Relevanz der Corona-Warn-App für die nationale Pandemie-Eindämmung
Es ist inzwischen gelungen, eine Reihe von Maßnahmen zu identifizieren, die eine weitere, noch viel dramatischere Entwicklung der Pandemie bisher verhindern konnten. Mehrtägige Veranstaltungen mit physischer Nähe der Teilnehmenden in geschlossenen Räumen und ohne Sicherheitsmaßnahmen hatten sich in den ersten Wochen der beginnenden Pandemie zu „Super-Spreading-Events“ entwickelt. Hier kam es verlaufsbedingt zu Viruslast-potenzierenden Synchronisierungseffekten, in deren Folge extrem hohe Ansteckungszahlen resultierten.
Die damit verbundene Erkenntnis, dass neben weiteren Möglichkeiten [6] der wesentliche Übertragungsweg in der Einatmung von Aerosolen besteht [7, 8], trug zur Implementierung wirkungsvoller Präventionsstrategien bei. Die physische Separation sowie die Unterdrückung der Entstehung und Ausbreitung von „Tröpfchenwolken“, beispielsweise durch einfache Masken, stellen wirksame Komponenten genannter Präventionsstrategien dar.
„Risikomanagement hat deutliche Fortschritte gemacht und könnte durch die CWA weiter verbessert werden“
Laut offizieller Website besteht der Beitrag der CWA im Folgenden: „Die Corona-Warn-App hilft uns festzustellen, ob wir in Kontakt mit einer infizierten Person geraten sind und daraus ein Ansteckungsrisiko entstehen kann. So können wir Infektionsketten schneller unterbrechen…“ [2]. Das ist sicherlich eine hochrelevante Zielsetzung, die im Fall der Zielerreichung zu einem deutlichen Fortschritt bei der Eindämmung des Infektionsgeschehens führen könnte. Letztlich stellt die CWA ein Mittel zur Identifizierung von Risikobegegnungen dar, dessen Funktion zum einen darauf abzielt, Bewegungsdaten und relevante Befunde des Nutzers zu teilen und gleichzeitig Befunddaten anderer App-Nutzer für den Nutzer eines entsprechend ausgerüsteten Smartphones aufbereitet zur Verfügung zu stellen. Und noch mehr: Je nach – durch die App gelieferte – Informationen und Informationstiefe soll der Nutzer in die Lage versetzt werden, anhand von Warnhinweisen sein individuelles Verhalten anzupassen. Doch kann gerade diese wichtige Funktion die Corona-Warn-App in der vorliegenden – teils dem Datenschutz geschuldeten – Funktionalität nicht voll erfüllen. Es stellt sich die Frage, ob unter Betrachtung der Inputparameter – damit sind die in den App-Algorithmus eingehenden Daten und deren Datenqualität gemeint – die Validität überhaupt ausreicht, um eine ausreichende Aussagekraft zu ermöglichen. Dies kann nur dann beantwortet werden, wenn ein analytischer Ansatz mit etablierten epidemiologischen Methoden verwandt wird, der auch grundsätzlich für die Bewertung von diagnostischen Verfahren sowie Screeningverfahren zum Einsatz kommt [9]. Über den generellen Nutzen einer solchen Software und ob sie denn ausreichend oft auf Smartphones installiert wird, soll in diesem Artikel nicht näher eingegangen werden.
Hintergrundinformationen zur
Funktionalität der CWA
„Damit eine Begegnung von der Corona-Warn-App als mögliche Risiko-Begegnung bewertet wird, muss sie epidemiologisch relevant gewesen sein“, steht auf der Corona-Warn-App-Website des RKI [10]. Dies bedeute, so das RKI weiter, dass „das Risiko einer Ansteckung bestanden haben“ muss. Um dies zu detektieren, nutzt die App den bereits in den 90er Jahren entwickelten Industriestandard Bluetooth, der zwei in diesem Zusammenhang wichtige Parameter darstellen kann: Das ist zum einen die Dauer einer Begegnung und zum zweiten die Distanz zwischen zwei App-Nutzern. Dazu schreibt das RKI: „Die Corona-Warn-App misst mittels Bluetooth-Technik den Abstand zwischen Personen, die die App installiert und aktiviert haben, und ermöglicht, dass sich das Smartphone diese Begegnungen merkt. Dafür tauschen die Geräte untereinander temporäre verschlüsselte Zufallscodes (Bluetooth-ID) aus. Diese temporären Zufallscodes werden mehrfach pro Stunde kryptografisch aus dem zufälligen Geräteschlüssel des Smartphones abgeleitet. Die zufälligen Geräteschlüssel (oder Tagesschlüssel) werden täglich neu erzeugt“ [10]. Das Ganze ist zudem (datenschutzseitig) hochsicher, denn die Corona-Warn-App verwendet einen zufälligen Geräteschlüssel oder Tagesschlüssel und eine kurzlebige zufällige Bluetooth-ID, die aus dem zufälligen Geräteschlüssel abgeleitet und zwischen benachbarten mobilen Endgeräten ausgetauscht wird. Beide Zufallscodes lassen sich laut RKI ohne Zusatzwissen nicht einer bestimmten Person zuordnen und werden zudem automatisch nach 14 Tagen gelöscht. Darüber hinaus ermöglicht die CWA dem Nutzer, den Umfang seiner persönlichen Informationen, die er teilen möchte, mitzugestalten [10]. Dies zur Erklärung der hinter der App stehenden Technik.
Viel wichtiger ist indes ein zweiter Schritt, der ebenfalls vom RKI beschrieben wird: „Im Falle einer Übereinstimmung wird in einem mehrstufigen Verfahren das Übertragungsrisiko bestimmt und – sofern definierte Schwellenwerte überschritten wurden – die Nutzerin bzw. der Nutzer per Mitteilung über die mögliche Risikobewertung informiert“ [10]. Weiter steht da noch einmal den hohen Datenschutz bekräftigend: „Zu keinem Zeitpunkt erlaubt dieses Verfahren Rückschlüsse auf die Nutzerin/den Nutzer oder den Standort“.
Forschungsfrage
Dieser Artikel geht der Frage nach, welchen Wert die CWA zur Eindämmung der Corona-Pandemie in Deutschland spielen kann. Neben dem Datenschutz und der daraus abgeleiteten Entscheidungsautonomie des CWA-Nutzers beim Teilen von Risikodaten sollen Aspekte der Dateneingabequalität aus epidemiologisch-diagnostischer Perspektive qualitativ analysiert und in den Fehlerfortpflanzungskontext eingeordnet werden.
Methodik: Anwendung etablierter epidemiologischer Ansätze
Um die Forschungsfrage zu beantworten und eine Einschätzung zu den Auswirkungen auf Funktionalität, Verlässlichkeit und Aussagekraft der CWA abgeben zu können, haben wir uns in Anlehnung an die NICE-Leitlinien [11] auf die zu integrierenden Datenströme der CWA fokussiert und mögliche Schwachstellen gesammelt. Das EVA-Prinzip der Informatik dient lediglich als Strukturierungsleitfaden. Der Schwerpunkt lag auf Datenströmen, die sich aus den klinischen und laborgestützten Befunden ergeben (Dateneingabe – CWA). In diesem Analysesegment haben wir auf der Basis publizierter Untersuchungen die Kinetik der Viruslast im Blut abgeschätzt sowie Schwankungsbereiche der Leistungsfähigkeit der verwendeten Infektionsdiagnostika identifiziert. Unter Verwendung von Annahmen für verschiedene Prävalenzen wurden mögliche Teilszenarien gebildet, um einschätzen zu können, ob und wie sich die Fehler im Dateninput auswirken und welche gesundheitsökonomischen Konsequenzen daraus abgeleitet werden können.
Unzweifelhaft ist, dass die Verlässlichkeit und Relevanz der Corona-Warn-App weitgehend von den genutzten Inputparametern abhängen, die in Algorithmen und die digitale Verarbeitung durch die App eingehen. Diese Inputparameter sind die diagnostischen Befunde aus ärztlichen Diagnoseverfahren sowie Screenings und sind mit einer Unsicherheit behaftet, die sich wiederum aus Fehlern im Zuge von u.a. gewählten Diagnoseverfahren, Durchführung der Probennahme/Befunderhebung, Screeningverfahren versus Verfahren bei Infektionsverdacht unterschiedlicher Begründung und Aspekte der Datenverarbeitung ergeben.
„Ergebnisse der Covid-19 in-vitro-Diagnostik werden als Dateninput von der CWA erfasst und verarbeitet“
Eine große Herausforderung besteht darin, dass sich die in-vitro-Diagnostik aufgrund der Dynamik bzw. der Pathophysiologie des Infektionsprozesses sehr komplex gestaltet. Neben den epidemiologischen Zusammenhängen haben wissenschaftliche Arbeiten gezeigt, wie der Krankheitsverlauf einer Covid-19-Erkrankung aussieht [12]; und zwar sowohl was den klinischen Verlauf angeht als auch wie dynamisch sich die Viruslast im Körper entwickelt und welche immunologischen Reaktionen ablaufen (s. Abb. 1).
Die RNA des SARS-CoV-2 ist nur vorübergehend im Blut und anderen Körperflüssigkeiten (z.B. Nasen-, Rachensekrete) nachweisbar. Akute, abklingende und durchgemachte Infektionen bedürfen je nach Krankheitsphase des Einsatzes von RT-PCR-Assays (Reverse-Transkriptase-Polymerase-Kettenreaktion-Assay) oder Antikörperverfahren. Beim RT-PCR-Verfahren wird mit Blick auf die Covid-19-Diagnostik in der Probe vorhandene RNA vervielfältigt. In diesem Zusammenhang beschreibt der RT-PCR Cycle Threshold (CT) die Viruslast im Blut bzw. in der Probenflüssigkeit, ab der es zu einem exponentiellen Anstieg von RNA-Kopien kommt. Dieser Wert schwankt und hat Auswirkungen auf die Diagnostik [13]. Hierbei ist anzumerken, dass auch Antikörper-basierte Diagnostik für den Nachweis eines akuten Infektionsgeschehens diskutiert werden [14]. Einfache Testungen nach Ansteckung oder in frühen Infektionsphasen, in denen die Viruslast noch nicht ausreichend hoch ist, stellen also diagnostische Momentaufnahmen dar und reichen teils zur sicheren Diagnose einer SARS-CoV-2-Infektion nicht aus, sodass sequenzielle Verfahren erforderlich sind (s. Abb. 2). Infizierte und Nicht-Infizierte bzw. Kranke und Nicht-Erkrankte können differenzialdiagnostisch eben nicht über den gesamten Infektionsverlauf immer eindeutig zugeordnet werden. Falsch-negative Testergebnisse können somit vorkommen [15].
Auf Basis aktueller Publikationen ist die Verlässlichkeit des RT-PCR-Verfahrens unter Alltagsbedingungen kaum einzuordnen [16–18], zumal effektive Sensitivität und Spezifität die 90%-Marke allenfalls unter experimentellen Laborbedingungen erreichen können [19]. Führt man sich, wie in Abbildung 1 dargestellt, die Dynamik des Infektionsgeschehens vor Augen, ist dies auch weniger den zum Einsatz kommenden diagnostischen Verfahren anzulasten, sondern vielmehr der Dynamik des Krankheitsgeschehen und den heterogenen Bedingungen der Befunderhebung sowie deren Weiterverarbeitung geschuldet. Zum Zweck der Einordnung der Bedeutung der Covid-19-Testperformance für den Dateninput in die Corona-Warn-App dienen zwei Szenarien, die auf der Basis von Performancedaten unter experimentellen Bedingungen sowie Alltagsbedingungen von Watson et al. (2020) abgeleitet sind [19].
Ergebnisse:
Folgen für die CWA und die klinische Diagnostik
Die von Watson et al. (2020) abgeleiteten Szenarien (s. Abb. 3)
legen nahe, dass unter Alltagsbedingungen vermutlich mit einer höheren Zahl an falsch-negativen Testergebnissen zu rechnen ist. Dies ist insofern relevant, da insbesondere falsch-negative Testergebnisse die Betroffenen in falscher Sicherheit wiegen und folglich entsprechende Vorsichtsmaßnahmen nicht ergriffen oder diese gegebenenfalls reduziert werden. Die Fehler und Risiken aus der Diagnostik, in diesem Fall die falsch-negativen Testergebnisse, fließen als Datenströme in die CWA ein und werden entsprechend weiter transportiert, weshalb davon auszugehen ist, dass damit das Übertragungsrisiko fatalerweise deutlich ansteigen kann.
„Wenn die Verlässlichkeit der Inputparameter für die Corona-Warn-App eingeschränkt ist, ist damit konsekutiv auch die Funktion der Warn-App eingeschränkt“
Obgleich die zur Diagnose der akuten Covid-19-Infektion eingesetzten Tests eine unter experimentellen Bedingungen ermittelte Sensitivität von > 98% aufweisen, gelingt der Nachweis in sehr frühen und späten Phasen des Infektionsverlaufs nicht. Deshalb kommt der klinischen Diagnostik (vor Anwendung des in-vitro RT-PCR), die bei Verdachtsfällen auf die spezifische Kombination von Leitsymp-tomen fokussiert (z.B. hohes Fieber, Störungen bzw. Ausfall des Geschmackssinns), eine hohe Bedeutung zu, um eine Stratifizierung der zu Testenden vorzunehmen und darauf aufbauend weitere diagnostische Verfahren einzuleiten.
Diagnostische Verfahren bei Infektionsverdacht auf SARS-CoV-2 sind in erster Linie darauf gerichtet, aktive Covid-19-Infektionen nachzuweisen. Diese Verfahren kommen zum Einsatz, wenn Personen Arztpraxen bzw. medizinische Einrichtungen aufgrund spezifischer Symptome aufsuchen, die auf eine entsprechende Infektion hinweisen oder wenn davon auszugehen ist, dass asymptomatische Personen Kontakt zu Infizierten oder denkbaren Infektionsquellen hatten. Dieses Vorgehen ist beispielsweise auch im Zuge einer begründeten Kontaktverfolgung oder im Verdachtsfall angezeigt.
Screeningverfahren sind hingegen auf asymptomatische Personen ausgerichtet, die keinen bekannten oder möglichen Kontakt zu Covid-19-Infizierten hatten. Diese Verfahren werden also angewendet, um Personen mit Ansteckungsrisiko zu identifizieren, um so weitere Übertragungen von SARS-CoV-2 zu vermeiden. Beispiele für den Einsatz von Screeningverfahren sind Reiserückkehrer, Pflegeeinrichtungen, Arbeitsumgebungen in der Wirtschaft sowie Ausbildungseinrichtungen. Gesundheitspolitisch intendiert soll die Zahl dieser Testungen deutlich gesteigert werden. Da die sich ergebenden Befunde einen entscheidenden Dateninput für die CWA darstellen, ist eine kontextuale Einordnung im Hinblick auf die Bedeutung für medizinische bzw. klinische Entscheidungen erforderlich.
Wenn man eine derartige Entscheidungseinordnung durchführen möchte, gilt es, die Aussagekraft des Tests zu bewerten. Dafür kann der prädiktive Wert herangezogen werden. Dieser Wert ergibt sich aus den dem diagnostischen Verfahren zuzuordnenden Werten für die Sensitivität (Kenngröße für die sichere Bestätigung der Zielkrankheit durch die Diagnostik) und Spezifität (Kenngröße für den sicheren Ausschluss der Zielkrankheit durch die Diagnostik).
Der positive prädiktive Wert gibt an, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Person, bei der ein Test positiv ausgefallen ist, auch tatsächlich infiziert ist. Mit dem negativen prädiktiven Wert lässt sich im umgekehrten Fall der Anteil der Nicht-Erkrankten mit negativem Testergebnis schätzen. Die Prävalenz, d.h. die Häufigkeit des Auftretens eines Geschehens in einer Zielpopulation, hat einen maßgeblichen Einfluss auf den prädiktiven Wert und die damit verbundene Einordnung des Aussagewertes von Informationen, die der Nutzer letztlich erhält (z.B. Arzt, aber auch CWA-Nutzer). Dabei gilt: Niedrige Prävalenzen reduzieren die Aussagekraft des positiven Vorhersagewertes und vice versa. Folglich ist zur Einschätzung der Test-Aussagekraft die Prävalenz der zu betrachtenden Zielpopulation zu berücksichtigen. Bei ärztlich initiierten diagnostischen Verfahren erfolgt über die Ergebnisse von Voruntersuchungen de facto eine Eingrenzung der Zielpopulation, die für weitere differenzialdiagnostische Maßnahmen infrage kommt. Dies führt letztlich zu einer Steigerung der Prävalenz in der Zielpopulation, wobei dies kein explizites Ziel im Alltag darstellt.
Damit werden jedoch mit größerer Wahrscheinlichkeit infizierte Patienten einem RT-PCR Test unterzogen, die bereits entsprechende spezifische Symptome aufweisen und das Risiko falsch-positiver Testergebnisse sinkt. Auch bei asymptomatischen Fällen, bei denen die Stratifizierung für weitere Diagnostikverfahren über eine risikobehaftete Kontakthistorie erfolgt, kommt es zu einem Anstieg der Prävalenz in der jeweils untersuchten Population. Andererseits bleibt jedoch bei reinen Screeningverfahren, die ohne vorherige Bildung einer Hochrisikogruppe eingesetzt werden, die Prävalenz per se niedrig und falsch-positive Testergebnisse sind nicht auszuschließen.
In einer Population, in der die Zahl der aktiven Infektionsfälle besonders hoch ist, ist folglich der positive prädiktive Wert hoch: Damit ist ebenfalls die entsprechende Aussagekraft hoch und so können auch verlässliche Informationen zur Verfügung stehen. Leider gilt: Der umgekehrte Fall ist ebenso möglich, ja sogar wahrscheinlicher. Diese Tatsache ist vor dem Hintergrund der niedrigen Prävalenz von SARS-CoV-2-Infektionen in Deutschland (Anhand von Screenings asymptomatischer ambulanter Patienten wurde eine Prävalenz von 1,2% festgestellt) [20] bei der Aussagekraft diagnostischer Tests zu berücksichtigen.
„Fehlerfortpflanzung schränkt den Aussagewert der Corona-Warn-App als Informationsbasis für Verhaltensentscheidungen der Nutzer weiter ein“
Die Aussagekraft von ärztlich veranlasster Covid-19-Diagnostik bei Verdachtsfällen und die von Screeningverfahren unterscheiden sich und sind mit einem Fehlerrisiko behaftet. Nach der allgemein anerkannten Fehlertheorie addieren sich die Einzelfehler aus den im Text dargelegten Inputfaktoren (s. Abb. 4). Das gilt im besonderem Maße für die Diagnostik von Covid-19, die mit zeitabhängigen Fehlern einhergeht, die einerseits der dynamischen Krankheitsentwicklung geschuldet und andererseits durch systematische Fehler behaftet sind, die wiederum im Rahmen der Testung insbesondere bei der Probenentnahme auftreten, aber auch durch den jeweils verwendeten Test bedingt sein können. Mit Blick auf die Corona-Warn-App ist darüber hinaus noch in Betracht zu ziehen, dass die Nutzer im Zuge ihrer Datensouveränität relevante Daten möglicherweise nicht teilen. Für die Einordnung der CWA in ihrer heutigen Funktionalität ist dies bedeutsam.
Diskussion
Die Folgen von Covid-19 sind bekanntermaßen vielschichtig und gehen über respiratorische Erkrankungsbilder hinaus. Erkenntnissen zufolge nehmen Nierenfunktionsstörungen [21] und neurologische Folgeerkrankungen [22], wie beispielweise eine Häufung von Schlaganfällen bei jüngeren Patienten mit milden Krankheitsverläufen, zu. Der Unterbrechung von Übertragungswegen auch durch digitale Hilfsmittel kommt deshalb eine große Bedeutung zu. Im Rahmen der diagnostischen Testungen, unabhängig davon, ob ärztlich im Verdachtsfall veranlasst oder im Rahmen von Screeningverfahren initiiert, ist immer mit falsch-positiven und falsch-negativen Ergebnissen zu rechnen. Die Corona-Warn-App verwendet jedoch diese Daten, um ihren Nutzern ein entsprechend ausgerichtetes, sozusagen persönliches Entscheidungsunterstützungssystem an die Hand zu geben. Balayla et al. (2020) haben den Einsatz von Covid-19-Tests als Screening-Instrument im Rahmen einer Modellierung untersucht und herausgearbeitet, dass bei einer Unterschreitung des bestimmten bzw. modellierten Prävalenzschwellenwertes von 9,3% der positive prädiktive Wert exponentiell abfällt [23]. Folglich steigt die Zahl falsch-positiver Diagnosen deutlich an, mit all den negativen Implikationen für die auf der Infektionsdiagnostik beruhenden unmittelbaren klinischen Entscheidungen und eben auch für die Qualität des CWA-Inputs (s. Abb. 5).
Die gesundheitsökonomischen Folgen der pandemischen Lage in Deutschland hinsichtlich direkter und indirekter Krankheitskosten sind bisher nicht absehbar. Die Auswirkungen für falsch-positive diagnostizierte Betroffene sind sicherlich auch gesundheitsökonomisch weniger gravierend, obgleich sie mit der persönlichen Belastung durch die Diagnose selbst oder durch weitere Diagnostik sowie mit angeordneten Quarantänemaßnahmen verbunden sind. Kumulierte indirekte Kosten sind vor allem aus wirtschaftlicher Sicht ein Thema. Mit Blick auf eine gesundheitsökonomisch orientierte Perspektive sind die Leistungsparameter bzw. ist das diagnostische, klinische, versorgungspraktische Leistungsprofil der digitalen Gesundheitsanwendung maßgeblich. Folglich sind die falsch-negativen Ergebnisse viel brisanter. Letztlich gehen diese auch in die CWA ein und können das verhaltensbedingte Infektionsrisiko seiner Nutzer beeinflussen. Verhaltensbedingt kann die Übertragungswahrscheinlichkeit ansteigen und hohe Folgekosten für die Versorgung bewirken. In diese somit kausal zuzuordnenden Folgekosten fließen die direkten medizinischen Behandlungskosten für das gesamte Spektrum der möglichen Krankheitsverläufe ein. Diese reichen von der reinen Symptombehandlung bis hin zur intensivmedizinischen Betreuung mit all ihren therapeutischen Folgen, einschließlich notwendiger Rehabilitationsmaßnahmen. Bei Betroffenen, die im Erwerbsleben stehen, sind hier ebenfalls die indirekten Krankheitskosten mit zu betrachten. Bei niedrigen Covid-19-Prävalenzen bzw. bei der Anwendung in der nicht-stratifizierten Population ist naheliegend, dass die Corona-Warn-App weder im Hinblick auf die öffentlich verfügbaren Informationen zur Funktionalität noch im Hinblick auf ein individuelles Risikomanagement durch den App-Nutzer einen weitreichenden gesundheitsökonomischen Nutzen besitzt.
Die digitale Gesundheitsanwendung CWA stellt ein Entscheidungsunterstützungssystem für den Nutzer dar, dessen Verhalten gerade in einer Pandemie eine wesentliche Rolle einnimmt. Es gilt, das Nutzerverhalten in Form risikominimierender Verhaltensmuster an die Pandemielage entsprechend anzupassen. Bei der CWA geht es aber nicht ausschließlich um einen individuellen medizinischen Nutzen, Patientensicherheit oder andere positive Versorgungseffekte, sondern eine CWA stellt aus einer Public-Health-Perspektive eine erfolgskritische Komponente der Pandemiebekämpfung dar. Will man nicht den rigorosen Weg der Volksrepublik China gehen, muss der freiwillige Nutzer Vertrauen in die CWA haben können, zumal sie ja das Ergebnis einer staatlichen Initiative darstellt. Gibt es mittel- bis langfristig aus der individuellen oder kollektiven Erfahrung der Nutzer mit der CWA kein Vertrauen in Funktionsfähigkeit und Verlässlichkeit dieser digitalen Gesundheitsanwendung, werden zukünftige CWA-Varianten kaum noch eine Chance auf eine breite Implementierung haben. Auch dann nicht, wenn sie nach Entwicklungsiterationen und Updates evidenz-basiert bessere Performancedaten aufweisen. Die Herausforderung der Entwicklung von digitalen Gesundheitsanwendung liegt darin, dass diagnostische, medizinisch-klinische und versorgungspraktische Zusammenhänge mit der Komplexität der technischen Möglichkeiten digitaler Gesundheitsanwendungen in Einklang gebracht werden müssen. Eine rigorose Evaluierung kann dazu beitragen, auf eine optimale digitale Gesundheitsanwendung hinzuarbeiten. Die konkrete Herausforderung für die CWA aus Nutzerperspektive besteht darin, dass im Rahmen ihrer Weiterentwicklung daran gearbeitet wird, die Input-Parameter mit abgesicherter Aussagekraft in die CWA zu integrieren.
Fazit
Die Limitierung des Beitrags liegt in der weitgehend qualitativen Betrachtung, die der Ergänzung durch detaillierte Modellierungen bedarf. Aus einer Public-Health-Perspektive ist die Bedeutung und der Wert der CWA bisher unbefriedigend. In ihrer bereits datenschutzbedingt eingeschränkten Funktionalität und unter Einbezug der hier dargestellten Aspekte sowie der Einordnung in den maßgeblichen Fehlerfortpflanzungskontext, ist es naheliegend, dass die CWA nur unzureichend zu einer Eindämmung des Infektionsgeschehens beitragen kann. Vielmehr birgt sie das Risiko, die Ausbreitung unter Umständen ungewollt weiter voranzutreiben. Daran ändern auch die zwischenzeitlich bekanntgewordenen Fortschritte bei der internationalen Interoperabilität wenig. Ein weiterer Aspekt betrifft Vertrauen und Akzeptanz der Bevölkerung, zumal die CWA-Nutzung momentan auf freiwilliger Basis erfolgt. Die beschriebenen Schwachstellen der digitalen Gesundheitsanwendung CWA und ihre Auswirkungen können mittelfristig zu Akzeptanz- und Vertrauensdefiziten führen. Adhärenz bzw. Compliance können dadurch abnehmen, in deren Folge auch weiterentwickelte Varianten der CWA unzureichend in der Bevölkerung verbreitet werden können. Von einer CWA, die auch auf der Basis von in-vitro-Diagnostik in weiterentwickelter Form als digitaler Impfausweis („Immunity Passport“) dienen könnte, sind wir weit entfernt. So ziehen die digitalen Chancen in der Gesundheitsversorgung auch in diesem Fall vorbei. Bleibt zu hoffen, dass zumindest ein paar „Learnings“ übrigbleiben, die dazu führen, im Sinne der Patienten- bzw. Nutzersicherheit eine umfassende Betrachtung der Fehlerfortpflanzungseffekte in der Entwicklung und Optimierung zu nutzen. Dies gilt letztlich für alle klinischen/medizinischen Entscheidungsunterstützungssysteme und eben auch für die, die man den Bürgern im Rahmen der Pandemieeindämmung zum Zweck eines auf verlässlichen Angaben beruhenden individuellen Risikomanagements bereitstellt. <<