„Die Politik hat nicht den Mut, die verwendeten Zahlen in den richtigen Kontext zu stellen“
Ihre beiden in der kommenden MVF gemeinsam veröffentlichten Thesenpapiere wollen sie jedoch nicht als Politik- oder Virologen-Bashing verstanden wissen, sondern als offenen und konstruktiven Beitrag, der sich wissenschaftlich-kritisch mit den bisherigen Entscheidungen der Politik auseinandersetzt. Damit sind zum einen die getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie in Deutschland gemeint, zum anderen aber auch die damit verbundene Kommunikation, die aus Sicht der Autorengruppe „für viele Menschen kaum verständlich und in den politisch verordneten Konsequenzen nicht immer nachvollziehbar war“. Ebenso mahnen sie neben der Virologie, die in der ersten Phase der Pandemiebekämpfung „sicher enorm wichtig und richtig“ gewesen sei, ganz explizit eine verstärkte Berücksichtigung anderer Wissenschaftsbereiche wie die Soziologie, Ökonomie, Public Health und insbesondere der Versorgungsforschung an, die – so Schrappe und Glaeske – „allesamt eine wichtige analytische, aber auch aufdeckende Rolle spielen können“. Auch sei in der nun nötigen Mittel- und Langfrist-Betrachtung die bisher eingebrachte Laborperspektive „einfach zu eng“.
Gerade die Versorgungsforschung bietet laut Schrappe ebenso wie die evidenzbasierte Medizin und das Organisationsmanagement viele „Schlüssel“ für ein tieferes Verständnis emergenter Phänomene – wie eben das der Corona-Pandemie. Eines dieser „Schlüsselelemente“ ist das von Mitautor Prof. Dr. Holger Pfaff (IMVR, Köln) und Schrappe entworfene Throughput-Modell, das in beiden Thesenpapieren mit folgender Fragestellung angewandt wurde: „Wie ist es mit einem solchen Modell möglich, in die sehr komplexe Entwicklung einer Epidemie sinnvoll einzugreifen?“
Einer der Ansatzpunkte ist die Frage der Kommunikation der richtigen Zahlen, mit denen Politik wie Gesellschaft die Auswirkungen einer Pandemie verstehen, aber auch steuern können. Ein Kritikpunkt ist nach Einschätzung der Autoren, dass unsere Gesellschaft lange Zeit mit fast tagtäglich ansteigenden Infektionszahlen konfrontiert worden ist, was jedoch „fast nur daher kommt, dass ganz einfach der Stichprobenumfang ansteigt“ (Schrappe). Dies war, ergänzt Mitautor Glaeske, von 2003 bis 2010 Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, zu Beginn auch nicht falsch. Doch sei seines Erachtens leider der Zeitpunkt verpasst worden, „kritischer beleuchtete und hinterfragte und vor allen Dingen evidentere Zahlen in die Diskussion einzubringen“. Dafür nennt er im MVF-Titelinterview einen möglichen Grund: „Wahrscheinlich hatte man auf politischer Ebene die Befürchtung, dass der einmal aufgebaute Druck auf die Menschen in unserer Gesellschaft zu schnell gemindert werden könnte.“
Auch die Effektivität der Lockdown-Maßnahmen ist in den vom RKI veröffentlichten Zahlen nur schwer zu erkennen. Im Thesenpapier 2.0 hat sich die Autorengruppe sehr intensiv mit der der aktuell im Vordergrund stehenden „Effektiven Reproduktionszahl“ beschäftigt. Die Autoren zeigen unter anderem auf, dass nach den ersten Versammlungsverboten die Reproduktionszahl schon unter Eins gefallen war, bevor die verschärfenden Lockdown-Maßnahmen erfolgt sind. Was wiederum folgende Frage aufwirft: „Waren die Lockdowns überhaupt nötig, wenn man deren Wirkung an der Entwicklung der Effektiven Reproduktionszahl gar nicht so richtig ablesen kann?“ (siehe Abb.)
Genau hier differiert die Aussage der renommierten Autorengruppe vom Narrativ vieler anderer, wirft Schrappe ein: „Das Robert Koch-Institut meint, dass dieser Fakt geradezu ein Hinweis darauf sei, dass sich die von der Politik – auf Empfehlung der beratenden Virologen – getroffenen Maßnahmen schon sehr frühzeitig ausgewirkt hätten.“ Ebenso wäre befürchtet worden, dass die Infektionsraten wieder nach oben geschnellt wären, wenn man die Tatsache der schon länger unter Eins befindlichen Reproduktionszahl als Signal genutzt hätte, um vielleicht schon ab Mitte März bestimmte Lockerungen in Gang zu setzen. Andererseits grenzen sich die Autoren deutlich von vielen anderen Stimmen ab, die die Covid-19-Epidemie fahrlässig verharmlosen, wie etwa das kürzlich an die Öffentlichkeit gelangte Papier aus dem Innenministerium.
Dennoch gelte bei aller vorzubringenden und auch wissenschaftlich belegbaren Kritik der berühmte Spruch von Peer Steinbrück: „Hätte, hätte, Fahrradkette“. Will heißen: „Vorher weiß man leider nie, was später exakt passiert, nachher eben schon.“ Dazu Schrappe, von 2005 bis 2011 Mitglied und ab 2007 Stellvertretender Vorsitzender des SVR Gesundheit, im MVF-Interview: „Ich bedaure, dass dieser Fakt so wenig kommuniziert worden ist. Im Grunde genommen muss man der gesamten politischen Kommunikation diesen Vorwurf machen.“ Damit meint der erfahrene Infektiologe nicht, dass die Politik aus vielerlei Gründen immer der jeweils aktuellen Entwicklung hinterherhinke, sondern „dass sie zu wenig erklärt und vor allem nicht den Mut hat, die verwendeten Zahlen in den richtigen Kontext zu stellen“.
Den Kontext umschreibt die kommende Ausgabe der seit 2008 erscheinenden Fachzeitschrift „Monitor Versorgungsforschung“. Diese Ausgabe (03/20) stellt auf 100 Seiten den aktuellen Status der Versorgungsforschung zu Covid-19 dar.