Ambulant vor stationär: So wird ein Leitsatz der deutschen Gesundheitspolitik zum zahnlosen Papiertiger
„Diese Entscheidung ist aus gesundheitsökonomischer Sicht nicht nachvollziehbar. Denn das Argument der Krankenkassen, die schwierige gesamtwirtschaftliche Lage erfordere eine Nullrunde für die Vertragsärzte, ist klar widerlegt: Gemäß aktueller Veröffentlichung durch das Bundesgesundheitsministerium ist die Lohn- und Gehaltssumme der gesetzlich Versicherten um 2,53 Prozent gestiegen. Die Krankenkassen verfügen also über weiter wachsende Einnahmen, in den Praxen steigen Personal- und Sachkosten erheblich. Wendet man die Steigerungsraten der Kostenentwicklung in Kliniken auf die Kostenstruktur von Arzt- und Psychotherapeutenpraxen an, wäre eine Steigerung des Erstattungsbetrags für Vertragsärzte und Psychotherapeuten um 2,9 Prozent sachgerecht“, sagte der Vorstandsvorsitzende des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi), Dr. Dominik von Stillfried am 1.10.20 in Berlin.
Für Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), handelt es sich um eine klare Fehlentwicklung: „Der Beschluss des Erweiterten Bewertungsausschusses schadet der vom Gesetzgeber angestrebten Ambulantisierung von medizinischen Versorgungsleistungen. Schon heute sind die Leistungen der Krankenhäuser besser bewertet als vergleichbare ärztliche Leistungen. Finanziell gesehen wird es im Jahr 2021 noch einmal attraktiver, eine Leistung im stationären statt im ambulanten Umfeld zu erbringen. Das kann nicht zukunftsweisend sein. Allein durch Kostensteigerungen im IT-Bereich werden 0,45 Prozent der Steigerung des Orientierungswertes, also des Preises für ärztliche Leistungen im ambulanten Bereich bereits wieder aufgefressen. Von der durch den Bewertungsausschuss beschlossenen Steigerung verbleibt ein Zuwachs von 0,8 Prozent für die Deckung der übrigen Kostensteigerungen. Insbesondere im Bereich Personal ist das niemals ausreichend und führt dazu, dass Praxen so nicht wettbewerbsfähig bleiben können. Damit wird ein Leitsatz der deutschen Gesundheitspolitik ‚ambulant vor stationär‘ ad absurdum geführt. Übrig bleibt ein zahnloser Papiertiger.“
„Deswegen kann die KBV solche Beschlüsse im Erweiterten Bewertungsausschuss nicht mittragen. Mit Blick auf die noch offene Diskussion um die Refinanzierung der Hygienekosten im ambulanten Bereich sollte endlich auch das mehrere Hundert Millionen schwere Hygiene-Sonderprogramm für die Kliniken zur Kenntnis genommen werden. Hier muss ein substanzieller Ausgleich auch für den ambulanten Versorgungsbereich geschaffen werden“, forderte Gassen.