AWMF-Arbeitskreis diskutiert über Masernimpfpflicht und mahnt Schließung der Impflücken bei Erwachsenen an
Das Gesetz des Bundesgesundheitsministeriums sieht vor, dass alle Kinder, die das erste Lebensjahr vollendet haben und bei denen keine Kontraindikation gegen eine Masernimpfung vorliegt, beim Eintritt in eine Gemeinschaftseinrichtung (Kindertagesstätte und Schule) entweder einen ausreichenden Impfschutz gegen Masern oder eine natürlich erworbene Immunität nachweisen müssen. Für einen ausreichenden Impfschutz gegen Masern sind nach den Regelungen bis zur Vollendung des ersten Lebensjahres eine Masernimpfung und bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres zwei Masernimpfungen erforderlich.
Auch bei der Betreuung durch eine Tagesmutter muss ein Nachweis über die Masernimpfung oder eine Masernimmunität erfolgen. Gleiches gilt für Personen, die in Gemeinschaftseinrichtungen oder medizinischen Einrichtungen tätig sind wie medizinisches Personal, Erzieher, Lehrer und Tagespflegepersonen, wenn sie nach 1970 geboren sind.
Der Impfkalender der STIKO empfiehlt die erste Masernimpfung für Kinder im Alter von 11 bis14 Monaten und die zweite zwischen 15 bis 23 Monaten. „Während die Impfquote im Alter von zwei Jahren für die erste Impfung bei 95,6 Prozent liegt, beträgt sie für die zweite nur 73,9 Prozent“, sagt Dr. med. Martin Terhardt, Kinder- und Jugendarzt aus Berlin und STIKO-Mitglied. Die Daten zeigten somit „mangelndes zeitgerechtes Impfen“ bei Kleinkindern, vor allem für die zweite Impfung. Wenn man jedoch die Daten aus den Schuleingangsuntersuchungen betrachte, sehe die Situation schon besser aus: 97,1 Prozent haben die erste Impfung und knapp 93 Prozent die zweite Impfung erhalten. „Wir können die Masernimpfquote bei Kindern zu Schulbeginn daher als relativ gut bezeichnen“, so der Berliner Kinderarzt. Eklatante Lücken sind allerdings bei den nach 1970 geborenen Erwachsenen zu beobachten. „Die meisten Masernfälle treten inzwischen bei den nach 1970 Geborenen auf. Hier besteht ein deutlicher Nachholbedarf für die Masernimpfung“, sagt Dr. med. Jürgen Rissland, Leitender Oberarzt am Zentrum für Infektionsmedizin/Staatliche Medizinaluntersuchungsstelle am Universitätsklinikum des Saarlandes, Homburg/Saar.
Dr. med. Anne Bunte, die im Jahr 2018 als damalige Leiterin des Kölner Gesundheitsamtes eine Masernepidemie managte, bestätigt diesen Aspekt. Bei den in Köln insgesamt 139 an Masern Erkrankten waren über 60 Prozent Erwachsene. Zum Gesetz merkt die Leiterin der Abteilung Gesundheit des Kreises Gütersloh an: „Die Masern-Durchimpfungsquoten bei den Kindern machen uns weniger Sorgen. Hier eine Impfpflicht zu verankern, ist eher kontraproduktiv, denn sie kann dazu führen, dass die Bereitschaft bei den anderen ‚freiwilligen‘ Schutzimpfungen zurückgeht.“ Zudem sei mit vielen juristischen Auseinandersetzungen zu rechnen. „Die im Gesetz skizzierte Rolle des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) als Kontrollinstanz oder Anbieter von Reihenimpfungen stellt die bisherige Ausrichtung als Berater der Eltern infrage“, so Bunte. Die seit Jahren zunehmend ungünstigere personelle und finanzielle Ausstattung der deutschen Gesundheitsämter stelle eine weitere Herausforderung dar.
Die Impfung gegen Masern ist wichtig, weil sie auch diejenigen schützt, die nicht geimpft werden können, wie Menschen mit Immunerkrankungen oder schwangere Frauen. Experten sprechen von „Herdenimmunität“, wenn die 95-Prozent-Quote erreicht ist. Eine gesetzliche Impfpflicht für Kinder müsse aber kritisch betrachtet werden, denn sie setze nicht da an, wo die eigentlichen Lücken sind: Bei den ungeimpften oder unvollständig gegen Masern geimpften Erwachsenen.
Die Diskutanten im AWMF-Arbeitskreis wiesen darauf hin, dass die Ärzteschaft ebenso wie Juristen den BMG-Vorstoß durchaus unterschiedlich und kritisch bewerten. Auch wurde darüber diskutiert, ob sich eine Pflicht negativ auf andere „freiwillige“ Impfungen auswirken kann. Einig waren sich die Experten, dass mehr Aufklärungsarbeit initiiert werden muss, um vor allem Erwachsene an die Impflücken zu erinnern. Instrumente für eine Verbesserung der Impfquote könnten unter anderem ein bundesweites Impfregister beziehungsweise ein Impf-Informations-System sein, in dem Impfquoten, Surveillance-Daten, KV-Leistungen und Daten zu Nebenwirkungen erfasst werden. Hilfreich wären zudem automatische Impf-Erinnerungen, verständliche Impfaufklärungsmaterialien, Argumentationshilfen für Ärzte sowie ein elektronischer Impfpass.