Das große Schweigen - Gefahren der Rabattverträge
Niemand spricht darüber, doch inzwischen weiß es jeder. Jeder? Zumindest wissen es die Experten in den Krankenkassen, die Gesundheitspolitiker, die diesen gefährlichen Unsinn beschlossen haben, die Apotheker und nicht zuletzt die Ärzte: Die Folgen der sogenannten "Rabattverträge" zwischen Krankenkassen und Arzneimittelfirmen können für den Patienten lebensbedrohlich sein. Wer es nicht weiß, sind die Patienten. Auf ihrem Rücken wird der Kampf um die Einsparung von ein paar Millionen Euros ausgetragen. Wie hoch diese Einsparungen wirklich sind, weiß im Übrigen niemand; Sie verschwinden im "schwarzen Loch" der Krankenkassen.
Als die ehemalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt den Kassen im Jahr 2007 erstmals per Gesetz die Erlaubnis erteilte, Ausschreibungen für Arzneimittel durchzuführen und mit Pharmafirmen Rabattverträge zu schließen, war für Ärzte und Apotheker schon absehbar, dass diese Rabattverträge - für Millionen Patienten bedeuten sie immer wieder Änderungen ihrer Arzneimitteltherapie - bei den Versicherten für große Unsicherheit sorgen würden. Sie behielten Recht, wie eine Studie der medizinischen Fachzeitschrift "Medical Tribune", der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin e. V. (DGIM) und der Deutschen Gesellschaft für Versicherte und Patienten e. V. (DGVP) jüngst ans Tageslicht brachte.
Was bedeuten Rabattverträge für den Patienten? Viele Versicherte von Krankenkassen, die solche Verträge abgeschlossen haben, machen tagtäglich ihre (negativen) Erfahrungen mit den Ausschreibungen. Dies gilt vor allem dann, wenn sie aufgrund chronischer Krankheiten viele verschiedene Arzneimittel gleichzeitig einnehmen müssen. Sie gehen nach dem Arztbesuch mit ihrem Rezept in die Apotheke, um ihr Arzneimittel abzuholen. Dort erklärt ihnen der Apotheker, dass man ihnen ein anderes Arzneimittel aushändigen müsse, das den gleichen Wirkstoff enthalte. Doch was für den gesunden Menschen nicht weiter problematisch erscheinen mag, verunsichert vor allem ältere Menschen.
Die Reaktion vieler Betroffener in der ersten Phase der Rabattverträge war nicht selten drastisch: Patienten bestanden auf ihrem gewohnten Arzneimittel und machten ihrem Unmut in der Apotheke Luft. Sie wollten - aus nachvollziehbaren Gründen - nicht einsehen, warum ihnen nun neue Medikamente aufgehalst wurden, die sie nicht kannten und zu denen sie kein Vertrauen hatten. Für den Austausch machten sie natürlich die Apothekenmitarbeiter verantwortlich. Hinzu kam, dass sowohl Patienten als auch Ärzte nicht oder nicht ausreichend über die Rabattverträge informiert waren.
Mittlerweile, mehr als zwei Jahre später, haben sich die Wogen keinesfalls geglättet. Zwar wissen inzwischen mehr Patienten, dass aufgrund von Ausschreibungen die Krankenkassen - und nicht mehr die Ärzte - die Hersteller ihres Arzneimittels bestimmen, doch gibt es immer noch viele Betroffene, denen die Sachlage nicht bekannt ist. Und so kommt es in den Apotheken weiterhin zu Diskussionen und im häuslichen Umfeld zum Abbruch der ärztlichen Therapie durch Absetzen der Medikamente: Mangelnde Therapietreue - im Fachjargon "Non-Compliance" - ist die gefürchtetste Nebenwirkung der Rabattverträge.
Die neue, von "Medical Tribune", DGIM und DGVP durchgeführte Studie, liefert jetzt die Beweise dafür, wie schlecht es mit der Therapietreue vieler Patienten tatsächlich steht. Insgesamt wurden im Rahmen der im Sommer dieses Jahres durchgeführten Studie 5 000 Arztpraxen befragt. Das Ergebnis ist katastrophal. So katastrophal, dass sich die Auftraggeber in ihrer Pressemitteilung nicht scheuen, von "Lebensgefahr für die Patienten" zu sprechen. An erster Stelle ist es laut Umfrageergebnis der Beipackzettel, der Patienten verunsichert; hier insbesondere die Tatsache, dass auch die kleinste mögliche Nebenwirkung genannt werden muss. Aber auch die Rabattverträge haben Schuld. Sie zwingen Apotheker dazu, sogar Präparate auszuhändigen, die zwar mit dem bisherigen Arzneimittel wirkstoffgleich sind, jedoch im Beipackzettel keinen Hinweis auf die spezielle Krankheit des Patienten haben.
Für einen ohnehin verunsicherten Patienten kann solch ein Fall der endgültige Grund sein, das Präparat überhaupt nicht mehr einzunehmen. An zweiter Stelle sorgt das wechselnde Aussehen der Präparate für Verunsicherung und Therapieabbruch. Gerade ältere und chronisch kranke Menschen müssen häufig eine Vielzahl von Arzneimitteln einnehmen. Werden aus roten, gelben und weißen Tabletten plötzlich blaue, grüne und violette, sind Unsicherheit und Therapieabbruch vorprogrammiert. Dass die Apotheker sich in zahllosen persönlichen Gesprächen bemühen, Patienten diese Unsicherheit zu nehmen, ist ihre Aufgabe und Ausdruck ihrer sozialen Kompetenz. Dass sie überhaupt gezwungen sind - oft genug gegen ihre Überzeugung -, dem Patienten (schon wieder) ein anderes Arzneimittel auszuhändigen, ist Schuld der Politik und der Krankenkassen.
Die Compliance-Studie weist zudem darauf hin, dass nicht nur die Gefahr eines Abbruchs der regelmäßigen Arzneimitteleinnahme, sondern auch die von Überdosierungen in der Umstellungsphase besonders groß ist: Trotz Aufklärung kommt es dazu, dass Patienten das neue Medikament zusammen mit den Restbeständen ihres alten Arzneimittels einnehmen. Bei einigen Arzneimitteln, z. B. zur Behandlung von Herzerkrankungen, kann solch eine Überdosierung lebensgefährlich sein. "Auf die Frage, ob sie als Folge von Einnahmefehlern bei ihren Patienten schon ernste Probleme erlebt hätten, schrieben über 3.000 Ärzte, und damit mehr als 60 Prozent der Teilnehmer, Beispiele solcher Komplikationen auf", sagt Medical-Tribune-Chefredakteurin Dr. Ulrike Hennemann. Unter anderem berichten Ärzte von bedrohlicher Unterzuckerung bei Diabetikern, kritischen Blutdruckverläufen, Blutungskomplikationen bis hin zu Koma, Amputationen und Todesfolge, so die Pressemitteilung zur Studie. Dunkelziffer unklar.
Die Ergebnisse zeigen, dass die Gründe, die bisher als Ursache für mangelnde Therapietreue genannt wurden - also die Einnahme vieler verschiedener Arzneimittel und auftretende Nebenwirkungen -, in der aktuellen Befragung an dritte bzw. vierte Stelle rücken. "Unsere Studie hat klar gezeigt, dass Patienten durch Compliance-Probleme schwerwiegende Gesundheitsschäden davontragen können. Verbesserte gesundheitspolitische Rahmenbedingungen und mehr Information und Kontrolle durch Ärzte und Apotheker sind dringend nötig", berichtet DGVP-Präsident Wolfram-Arnim Candidus.
Die aktuelle Studie liefert einen besonders aussagekräftigen Hinweis auf die von den Krankenkassen konsequent ignorierten Probleme. Doch auch andere Institutionen haben bereits auf die Schwierigkeiten aufmerksam gemacht. Unter anderem stellte die Deutsche Gesellschaft für bürgerorientierte Gesundheitsversorgung e. V. die Rabattverträge in diesem Sommer mit deutlichen Worten in Frage: "Wir brauchen im Gesundheitswesen keine auf kurzfristiges ‚Sparen um jeden Preis‘ angelegten Konzepte, sondern langfristig und nachhaltig wirkende Strategien", so der DGbG-Vorsitzende Prof. Dr. med. Dieter Adam.
Eine Patientenumfrage der Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung der Uniklinik Heidelberg kam unter anderem zu dem Ergebnis, dass sich etwa die Hälfte der 188 Befragten durch die ständige Substitution der Präparate verunsichert fühlt, rund 20 Prozent der Meinung sind, die Präparate seien nebenwirkungsreicher und ebenfalls ca. 20 Prozent der Patienten beklagten Probleme mit der Medikamenteneinnahme. Wie bei vielen gesundheitspolitischen Fehlentscheidungen der vergangenen Jahre wird trotz Expertenwarnungen bis heute über die gravierenden Folgen der Rabattverträge hinweggesehen. Die neue Regierung steht jetzt in der Verantwortung, dem Ausschreibungsunwesen zugunsten einer sicheren und gesicherten Gesundheitsversorgung den Riegel vorzuschieben.
Und das nicht nur im Sinne der betroffenen Patienten, sondern durchaus auch im Hinblick auf die Ausgaben: Denn während sich Krankenkassen mit angeblichen Einsparungen in Millionenhöhe brüsten, breitet sich über die durch die Rabattverträge verursachten Mehrausgaben aufgrund mangelnder Therapietreue und daraus resultierender Folgeerkrankungen - vermutlich in Milliardenhöhe - das große Schweigen aus.
Wem nutzen eigentlich Rabattverträge?
Ein Kommentar der Redaktion
Den Patienten? Nein. Sie sind zutiefst verunsichert, weil sie sich immer wieder an neue Arzneimittel gewöhnen müssen. Darauf reagieren viele mit Therapieabbruch. Medizinisch gesehen ist das eine Katastrophe. Den Beitragszahlern? Nein. Sie spüren keine finanzielle Entlastung durch Rabattverträge - im Gegenteil: Beitragserhöhungen im nächsten Jahr sind so gut wie sicher. Den Ärzten und den Apothekern? Nein.
Rabattverträge zwingen sie zu Erklärungen und Beschwichtigungen des Patienten statt zu beratenden, vertrauensvollen Gesprächen mit dem Kranken. Den Generikaherstellern? Nein. Sie kämpfen ums Überleben. Bleiben die Krankenkassen. Nutzen Rabattverträge ihnen wirklich? Machtpolitisch ja. Man ist wer, man kann jetzt verhandeln. Der Patient? Er spielt keine Rolle. Aber auch "Gesundheitskassen" bleiben "Krankenkassen". Nur dafür wurden sie vor über 100 Jahren gegründet. Herr Minister, schaffen Sie die Rabattverträge ab. Sie schaden allen.