Die Behandlung von chronischen Wunden braucht evidenzbasierte Forschung
Bei über 70 Prozent aller chronischen Wunden lässt sich als Ursache eine Gefäßerkrankung ausmachen, die sich im Rahmen einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit, chronischen Venenschwäche, eines Diabetes mellitus oder – seltener – einer immunologischen Erkrankung entwickeln kann. Hierbei nehmen Gewebe und Blutgefäße Schaden und sind in ihrer Funktion eingeschränkt. Das führt dazu, dass die Haut in den betroffenen Bereichen nur noch unzureichend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt wird. In der Folge verliert sie ihre Regenerationsfähigkeit und selbst kleine Verletzungen heilen nicht oder nur schwer ab.
„Chronische Wunden haben einen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität“, sagt Professor Dr. med. Ewa Stürmer, chirurgische Leiterin des Comprehensive Wound Center (CWC) und Leiterin für Translationale Wundforschung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Der Gewebedefekt juckt oft, nässt, schmerzt und kann durch eingeschränkte Mobilität und unangenehmen Geruch auch zu sozialer Isolation führen. Eine schwerwiegende Folge ist die Amputation: Jedes Jahr müssen in Deutschland mehr als 40.000 Zehen, Füße oder Unterschenkel aufgrund von Gewebedefekten abgenommen werden. Chronische Wunden sind damit die häufigste Ursache für einen Extremitätenverlust.
Der Notwendigkeit, chronische Wunden erfolgreich zu behandeln, steht ein gravierender Mangel an wissenschaftlichen, klinischen Studien gegenüber, in denen die verschiedenen Therapien erforscht werden. „Wir haben im Wundsektor eine beeindruckend niedrige Zahl an qualitativ hochwertigen Studien“, kritisiert Stürmer. „Bisherige Leitlinien stützen sich eher auf Expertenempfehlungen als auf wissenschaftliche Evidenz und sind für uns im Praxisalltag oft wenig hilfreich.“ Als einen der Gründe für die mangelhafte Studienlage sieht die Expertin das komplexe Krankheitsgeschehen selbst: Randomisierte klinische Studien seien notwendigerweise auf Vergleichbarkeit ausgerichtet, daher würden Patient:innen mit Begleiterkrankungen häufig ausgeschlossen, um eine homogene Studienpopulation zu erreichen. „Viele typische Wundpatient*innen fallen damit durch das Raster“, so die DGG-Expertin und fügt hinzu: “Die Studienergebnisse lassen sich deshalb nur schwer in die Praxis übertragen.“
Als Studienziel werde darüber hinaus meist die vollständige Heilung der Wunde festgelegt, was in vielen Fällen unrealistisch sei. Wichtige Behandlungserfolge wie Schmerzfreiheit, eine Zunahme der Lebensqualität oder eine Reduktion der Wundgröße oder des Antibiotikabedarfs würden dagegen kaum erfasst. Nicht zuletzt zeigen auch die Hersteller von Wundtherapeutika nur eine geringe Motivation, klinische Studien durchzuführen. Denn Wundtherapeutika werden als Medizinprodukte klassifiziert, für die – anders als für Arzneimittel – im Zulassungsprozess keine klinischen Studien gefordert werden. Aufwand und Kosten für solche Studien lohnen sich für die Hersteller damit kaum.
Nach Ansicht der DGG werden jedoch dringend groß angelegte klinische Studien mit einem hohen Evidenzniveau benötigt, um die wissenschaftliche Expertise in diesem Bereich zu verbessern. Die DGG fordert deshalb die Finanzierung dieser Studien zur Behandlung von chronischen Wunden. Sie begrüßt die Arbeit der European Wound Management Association (EWMA), die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Ausbildung und Forschung im Bereich des Wundmanagements zu fördern. „Nur wenn die verschiedenen Behandlungsoptionen systematisch untersucht und verglichen werden, können wir unseren Patient:innen eine individuelle, auf den jeweiligen Krankheitsverlauf abgestimmte Therapie anbieten“, betont Stürmer. „Das würde die Lebensqualität für viele Menschen steigern und die Zahl der jährlich notwendigen Amputationen senken.“