G-BA wird mit DMP Adipositas beauftragt
„Ein DMP Adipositas hat das Potential, die defizitäre Versorgungssituation von Menschen mit Adipositas in Deutschland nachhaltig zu verbessern und langfristig ihre Lebensqualität, die Krankheitslast und vorzeitige Todesfälle zu verringern“, so DAG-Präsidentin Professorin Martina de Zwaan.
Wie in der BMG-Stellungnahme weiter ausgeführt wird, haben DMPs zum Ziel, „den Behandlungsablauf und die Qualität der medizinischen Versorgung chronisch kranker Menschen zu verbessern“. In einem DMP Adipositas könnten Betroffene „dauerhaft, strukturiert, qualitätsgesichert, multimodal und transsektoral versorgt werden“; dazu gehörten „insbesondere qualifizierte multimodale und multiprofessionelle konservative sowie chirurgische Therapien, einschließlich modularer Schulungsprogramme“. 1
„Als maßgebliche medizinische Fachgesellschaft im Bereich Adipositas begrüßen wir diese neue Entwicklung außerordentlich“, so Professorin Dr. med. Martina de Zwaan, DAG-Präsidentin. „Nach dem Bundestag erkennt nun auch das BMG erstmals in einer schriftlichen Äußerung die Adipositas als chronische Krankheit mit zu regelndem Therapiebedarf an.“
„Wir haben heute ein breites Spektrum an therapeutischen Möglichkeiten sowie Behandlungsalgorithmen zur Verfügung, um jedem Patienten eine individuell adäquate Behandlung zukommen zu lassen. Die Forderung nach einem „multimodalen Programm“ schließt die Anerkennung der evidenzbasiert empfohlenen, konservativen Basistherapie ein, bestehend aus Ernährungs-, Bewegungs – und Verhaltenstherapie. Auch neuere Entwicklungen im Bereich der medikamentösen Adipositastherapie müssen mit aufgegriffen werden. Es gibt nun auch die berechtigte Hoffnung für PatientInnen, dass indizierte chirurgische Therapien der Adipositas nicht mehr willkürlich verweigert werden. Wir können nicht oft genug betonen, dass es eines lebenslangen Krankheitsmanagements bedarf“, führt de Zwaan aus.
„Die DAG bietet hier sehr gerne ihre Unterstützung und Expertise an. Gerade überarbeiten wir die wissenschaftlichen Leitlinien, damit sind wir auf dem aktuellen Stand der Empirie. Wir hoffen auf eine möglichst zügige Umsetzung.“, so de Zwaan weiter.
„Endlich tragen unsere jahrelangen Bemühungen um ein DMP Adipositas Früchte! Bereits 2015 haben wir einen Vorschlag für ein DMP Adipositas beim G-BA eingereicht; bislang hat jedoch das politische Signal gefehlt. Der entscheidende Anstoß für die aktuelle, sehr erfreuliche Entwicklung ist der Bundestagsbeschluss zum Start einer Nationalen Diabetes-Strategie vom 3. Juli 2020 – hier wird zur Prävention des Diabetes Typ 2 erstmals eine Regelversorgung der chronischen Erkrankung Adipositas vorgeschlagen“, erläutert der diesjährige DAG-Tagungspräsident, Professor Dr. med. Matthias Blüher.
Die Stellungnahme des BMG führt aus, dass gemäß § 137f Fünftes Buch Sozialgesetzbuch der G-BA die Aufgabe habe, „in Richtlinien geeignete chronische Krankheiten festzulegen, für die strukturierte Behandlungsprogramme entwickelt werden sollen, und deren konkrete inhaltliche Ausgestaltung festzulegen.“
Im Referentenentwurf des BMG für das Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz – GVWG) vom 23.10.2020 findet sich folgende maßgebliche Ergänzung zum Thema Adipositas: „39. § 137f Absatz 1 Satz 3 wird wie folgt gefasst: „Bis zum [einfügen: Datum des letzten Tages des vierundzwanzigsten auf die Verkündung folgenden Monats] erlässt der Gemeinsame Bundesausschuss insbesondere auch für die Behandlung von Adipositas entsprechende Richtlinien nach Absatz 2.“
Kosten-Nutzen-Analyse einer Regelversorgung der Adipositas 3
Im Jahr 2014 lebten rund 66,5 Mio Menschen im Alter von mind. 20 Jahren in Deutschland. 3 Auf der Basis der DEGS-1-Studie/RKI wurde ermittelt, dass 16 Mio (24,3%) von Adipositas (BMI größer als 30 kg/m2) betroffen waren (8,45 Mio Frauen, 7,6 Mio Männer). 3
Der DAK-Versorgungsreport Adipositas (2016) berechnete die durch Adipositas (Alter ab 20 Jahre) mitverursachte Krankheitslast auf der Basis von Daten aus 2014 (verlorene Lebensjahre durch vorzeitigen Tod = years of life lost (YLL), plus Jahre an Leben mit eingeschränkter Lebensqualität, gemessen in DALYS = disability adjusted life years sowie durch krankheitsassoziierte Behinderung verlorene Lebensjahre = years of life lost due to disability (YLD) anhand der Betrachtung von sieben Krankheiten (Brustkrebs, Darmkrebs, Arthrose, Ischämische Herzerkrankungen, Hypertensive Herzerkrankungen, Schlaganfall, Diabetes mellitus).
Als Basis für die Hochrechnung wurde ermittelt (Status quo 2014):
- Adipositas als Ursache: Bei im Mittel rund 15% der Krankheits- und Todesfälle der 7 betrachteten Krankheiten (im Einzelfall, z.B. Diabetes: bei rund 43%) (Tab. 14, S. 82)
- Durch Adipositas bedingte Krankheitslast: DALY = 15,2%, YLL = 51,7%, YLD = 48,3%
d.h. z.B.: Im Mittel rund die Hälfte der verlorenen Lebensjahre durch vorzeitigen Tod an diesen 7 Krankheiten ist durch Adipositas bedingt. Bei den beiden Krebsarten zu rund 95%, bei Diabetes mellitus zu rund 15%, hier erhöht die Adipositas jedoch die Zahl an Lebensjahren, die durch eine Behinderung eingeschränkt sind, um 85%. (Tab. 15, S. 83)
Anschließend wurde berechnet, wie sich eine regelrechte medizinische Versorgung der Adipositas (Ernährungsberatung/-therapie, Multimodales Programm/ Chirurgische Therapie) auf Krankheitslast, vorzeitige Todesfälle und die Kostensituation bei diesen sieben Krankheiten auswirkt, wenn 15 % (Szenario 1) bzw. 20 % (Szenario 2) der Menschen mit Adipositas therapiert würden.
Verbesserungen durch eine strukturierte Adipositas-Therapie bei einer Behandlungsquote von 15% bzw. 20% der Betroffenen (Hochrechnung):
→ Rückgang der Menschen mit Adipositas um 24% (- 3,9 Mio, von 16,14 auf 12,22 Mio) bzw. 33% (-5,36, von 16,14 auf 10,78 Mio)
→ Rückgang der durch Adipositas bedingten Krankheits- und Sterbefälle um 34,9% und 32,2% (Behandlungsquote 15%) bzw. 45,6% und 43,2% (Behandlungsquote 20%).
D.h.: Die durch Adipositas bedingten Krankheits- und Sterbefälle gehen stärker zurück als die Zahl der von Adipositas Betroffenen. Erklärung: Schwerere Adipositasgrade mit noch höherem Krankheitsrisiko werden vermieden, wenn die Adipositastherapie schon in jungen Jahren und bei niedrigen BMI-Graden einsetzt.
Weitere Hochrechnungen (Behandlungsquote von 15%, im Vergleich zum Status quo 2014):
→ Zeitlicher Rückgang der Adipositas-Prävalenz:
- Nach 5 Jahren: - 1 Mio Menschen mit Adipositas
- Nach 10 Jahren: - 2 Mio Menschen mit Adipositas
- Nach 20 Jahren: - 3 Mio Menschen mit Adipositas
→ Entwicklung der Therapiekosten:
- Anstieg von 535 Mio auf 1,28 Mrd Euro im ersten Jahr (+ 230 %)
- nach 5 Jahren: 1,15 Mrd, nach 10 Jahren 1,05 Mrd €, d.h. je länger die optimierte Behandlung fortgeführt wird, desto mehr sinkt die Anzahl der Betroffenen, die eine Adipositas-Behandlung benötigen und bei konstanter Behandlungsquote sinken auch die Behandlungskosten.
→ Rückgang von Krankheitsfällen, Krankheitslast und zeitliche Entwicklung:
- Krankheitsfälle: - 35% (Tab. 18, 19, S. 88-89)
- Verzögert, Absenkung nach ca. 5 Jahren zu erwarten (Abb. 21, S. 94)
- Krankheitslast (DALYS) nach ca. 20 Jahren halbiert
→ Rückgang der Todesfälle und zeitliche Entwicklung:
- Todesfälle: – 32% (Tab. 18, S. 88)
- Verzögert in den ersten 10 Jahren
- Nach 10 Jahren: - 300 adipositasbedingte Todesfälle/ Jahr
- Nach 20 Jahren: - 2300 Todesfälle/ Jahr
- Nach 30 Jahren: - 6000 Todesfälle/ Jahr
- Fazit: Da die Kosten für eine verbesserte Adipositas-Versorgung sofort, die positiven Wirkungen (weniger Krankheitsfälle, Krankheitslast und Todesfälle) jedoch erst verzögert eintreten, fehlten bislang Anreize für einzelne Kassen, Adipositastherapien in größerem Rahmen über Selektivverträge zu finanzieren. Damit an sich bereitwillige „first mover“ unter den Kassen keine Wettbewerbsnachteile befürchten müssen und damit eine optimierte Versorgung von Menschen mit Adipositas endlich in Gang kommen kann, ist es erforderlich, die Rahmenbedingungen für alle Krankenkassen gemeinsam anzupassen, wie es jetzt mit einem geplanten DMP auch realisiert werden wird.
Zahlen zu Adipositas in Deutschland:
- Menschen mit Adipositas in Deutschland (18-79 Jahre): 23-24% der Bevölkerung 6
- Belastbare Zahlen zu konservativen Therapien sind derzeit nicht bekannt
- Anzahl chirurgischer Eingriffe pro Jahr: Die Operationshäufigkeit bei Vorliegen einer morbiden Adipositas (Grad III = ab BMI 40; Grad II = BMI ab 35 + Begleiterkrankung, z.B. Diabetes Typ 2) liegt derzeit bei 10,5 pro 100 000 Erwachsene. In anderen europäischen Staaten ist sie um ein Vielfaches höher (Schweden: 114,8; Frankreich: 86,0; Schweiz: 51,9). 4
- Adipositas bei Kindern und Jugendlichen: rund 6 %, ca. 800.000 Betroffene 5
- Rückgang der Therapieeinrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Adipositas in den letzten 10 Jahren von fast 150 auf aktuell 44. 5
Quellen:
1. Bundesgesundheitsministerium: „Stellungnahme zu einem DMP Adipositas“ (Oktober 2020)
2. Referentenentwurf des BMG für das Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) vom 23.10.2020
3. Rebscher, H (Hrsg): DAK-Versorgungsreport Adipositas (2016)
https://www.dak.de/dak/download/versorgungsreport-adipositas-pdf-2073766.pdf
4. Stroh C: „Bariatrische Chirurgie: Magenbypass bevorzugte Operation“
Dtsch Arztebl 2016; 113(20): A-980 / B-826 / C-810
https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=179375
5. DAG-Pressemeldung: Neue S3-Leitlinie zur Prävention und Therapie der Adipositas im Kindes- und Jugendalter: Früher Therapiebeginn zeigt Erfolge, aber die Versorgung ist mangelhaft (25.02.2020)
6. Mensink G, Schienkiewitz A, Haftenberger M, Lampert T, Ziese T, Scheidt-Nave C:
Übergewicht und Adipositas in Deutschland (DEGS1)