Ludewig: „Als Thermometer oder Röntgen kamen, gab es auch Widerstand“
„Google Maps ist nicht deshalb erfolgreich, weil sie eine Aufklärungskampagne gemacht haben, sondern weil sie uns helfen, schneller von A nach B zu kommen oder leichter ein Restaurant in der Nähe zu finden. Und das haben sie geschafft, weil sie Nutzen gebracht haben, nicht weil sie in irgendwelchen aufwändigen Kampagnen erklärt haben, warum sie besser als der ADAC-Atlas sind“, so Ludewig heute in einer Video-Schalte beim Europäischen Gesundheitskongress München.
Angesprochen auf Widerstand aus Teilen der Ärzteschaft gegen den Digitalisierungskurs seines Ministeriums gab sich Ludewig gelassen: „Als das Thermometer eingeführt wurde oder das Röntgen, da gab es auch Widerstand. Auch da wurde gesagt: Behandeln sei nur mit Handauflegen möglich, man muss einen offenen Bruch fühlen - wofür braucht man Röntgengeräte? Trotzdem kann sich heute kaum einer das Röntgengerät wegdenken. Insofern: Das ist normal in einem Transformationsprozess!“
Ludewig betonte in seinem Statement, dass die Digitalisierung eine bessere Medizin ermögliche. So seien etwa die Optionen für Vor- und Nachsorge nachhaltiger. Sogar Mortalitätsraten sänken, Digitalisierung könne also Leben retten. Apps auf Rezept erlaubten ein wirkungsvolles Management chronischer Erkrankungen, etwa bei Diabetes, kardiovaskulären Erkrankungen oder Multipler Sklerose – das sei „keine Spielerei“, sondern ermögliche den Patienten eine bessere medizinische Begleitung.
Ludewig sprach sich für ein Umdenken aus: In der Digitalisierung seien agile Prozesse notwendig. So schwer es für den „deutschen Perfektionismus“ sei, man müsse sich daran gewöhnen, „Schritt für Schritt in Form eines lernenden Systems“ vorzugehen. Fortschritt finde in der Realität statt „und nicht im theoretischen Weltmeistertum“. Als gelungenes Beispiel einer Umsetzung innerhalb weniger Wochen nannte Ludewig das digitale DIVI-Register, das in deutschen Kliniken verfügbare Intensivbetten in Echtzeit registriere. In den USA basiere ein vergleichbares System bis dato auf Mitteilungen per Fax. Auch mit einem während der Pandemie erzielten Anschlussgrad deutscher Labore an digitalen Datenschaustausch von 90 Prozent sei Deutschland ebenfalls im internationalen Vergleich jetzt gut aufgestellt. „Wenn wir es schaffen, dieses Mindset zu behalten, dann können wir viele Hürden, die noch vor uns liegen, überspringen.“
Der Deutschlandchef des Medizintechnikunternehmens Siemens Healthineers, Dr. Stefan Schaller, sprach von der Digitalisierung als einem „riesengroßen Hebel, um Produktivität zu treiben“. Das ermögliche bessere Qualität bei gleichzeitig niedrigeren Kosten. Neue Versorgungsmodelle würden möglich, etwa zur medizinischen Überwachung von Kardiopatienten zu Hause, bei der je Patient 7.000 Euro Kosten pro Jahr eingespart werden könnten. Aber „remote arbeiten“ ermögliche auch, dass Mitarbeiter aus der Quarantäne heraus produktiv sein können. Künstliche Intelligenz könne dem Arzt lästige Routinearbeiten abnehmen, der Arzt habe dann mehr Zeit für den Patienten. Im Hinblick auf den Datenschutz forderte Schaller eine ethische Debatte: „KI nicht anzuwenden, ist unethisch!“ Künstliche Intelligenz werde aber ohne Daten nicht funktionieren. Die Industrie benötige daher Zugang zu Gesundheitsdaten, denn Fortschritt entstehe auch in den Unternehmen. Die Datenschutzgrundverordnung sei gut, aber der Flickenteppich aus weiteren Datenschutzregelungen, „der steht uns im Weg!“
Dr. Raimar Goldschmidt, Chief Digital Officer des Städtischen Klinikums Braunschweig, pflichtet dem mit einem Beispiel bei: Wenn es zu einem Datenaustausch seines Hauses mit einem Klinikum in einem anderen Bundesland käme, würden Patienten-IDs nicht übertragen. „Jeder Bürger, der geboren wird, bekommt eine eindeutige Steuernummer für sein Leben lang, aber im Gesundheitswesen haben wir das nicht.“ Goldschmidt warnte davor, bei der Digitalisierung das eigentliche Ziel aus den Augen zu verlieren. Oft gehe es um mehr: „Wir haben unglaublich alte analoge Prozesse. Die zu digitalisieren, bedeutet einen schlechten digitalen Prozess zu haben.“
Der kaufmännische Vorstand des Universitätsklinikums Mainz, PD Dr. Christian Elsner, hob die Bedeutung „hochwertig getaggter Daten“ hervor, mit denen digitale Systeme „richtig arbeiten“ können. Die Notwendigkeit einer Interoperabilität, die dies gewährleistet, wurde auch von anderen Referenten des Europäischen Gesundheitskongresses eingefordert. So kritisierte Dr. Katharina Ladewig, Geschäftsführerin von EIT Health Deutschland, dass bezüglich Interoperabilität „die Selbstorganisation im System an ihre Grenzen stößt“. Es bedürfe hier einer „koordinierenden Stelle“, denn letztendlich müsse man sich auf „einen Standard einigen“. Das könne national geschehen, „im Idealfall wäre es aber wichtig, dass man sich auf europäischer Ebene einigt.“ Solche Ansätze gebe es, auch wenn diese noch nicht im nächsten oder übernächsten Jahr spruchreif seien.
Bereits gestern hatte Andreas Storm, der Chef der drittgrößten deutschen Krankenkasse DAK, gemahnt: „Wir müssen bei Digitalisierung einen Zahn zulegen!“ Digitalisierung müsse die Versorgung verbessern. Beispielsweise könnten Videosprechstunden ein Instrument sein, doch bislang würden – trotz Corona - erst 4 Prozent der Behandlungsfälle per Video abgewickelt. Das müsse gesteigert werden.
Jörg Manthey, Teamleiter Krankenhausstrategie der Techniker Krankenkasse, wies darauf hin, dass es für telemedizinische Netzwerke, die insbesondere seit Corona einen Boom erleben, bislang keine Regelungen im Vergütungssystem gebe.
Vor dem Hintergrund des Investitionsstaus in deutschen Krankenhäusern beklagte der Vorstandsvorsitzende des Klinikums Nürnberg, Prof. Dr. Achim Jockwig: „Wir haben Krankenhaustechnik 0.1 und wollen das Krankenhaus 4.0. Das ist schon ein Spagat.“
Auf dem erstmals rein digital abgehaltenen Europäischen Gesundheitskongress München mit 1.200 Teilnehmern gab es in den vergangenen zwei Tagen neben dem Krankenhaussektor und der Digitalisierung auch folgende Schwerpunktthemen: die Lehren aus Corona für das Gesundheitswesen, das Vergütungssystem für stationäre Leistungen, die Standortpolitik bezüglich medizinisch relevanter Industriebranchen, die schwierige Situation der Reha in der Pandemie und die Lage in der Pflege.