Mittels Künstlicher Intelligenz Krankheitsverläufe vorhersagen und die Versorgung von Patienten verbessern
Von den im Kontext der Künstlichen Intelligenz (KI) eingesetzten Methoden kommt im Healthcare-Bereich dem maschinellen Lernen (ML) eine wachsende Bedeutung zu. Den Kern bilden dabei lernende Algorithmen, die mit zunehmender „Fütterung“ geeigneter1 digitaler Gesundheitsdaten Muster und Gesetzmäßigkeiten erkennen und nach einer entsprechenden Lernphase ein ML-Modell aufbauen. Die Anwendungszwecke von ML sind vielfältig und reichen von automatisierten Diagnoseverfahren über Prognosen von Krankheitsverläufen bis hin zu Therapievorschlägen, wobei verschiedene Merkmale wie z.B. Schweregrade oder Subformen von Erkrankungen berücksichtigt werden können.
Mögliche Vorteile für Patient und Behandler sind u.a. ein Zeitgewinn und damit früherer Einsatz der „richtigen“ Therapie, was zu einer Verlangsamung oder Verhinderung einer Erkrankung führen kann oder sogar noch Heilungschancen ermöglicht; entsprechende Erkenntnisse lassen sich z.B. auch für die Entwicklung von Diagnose- und Therapieleitlinien nutzen. Ärzte profitieren von einer besseren Unterstützung und Sicherheit bei Therapieentscheidungen. Vorhersagen, welche Patientengruppen von einer bestimmten Therapie profitieren, oder auch, welche Folgerisiken bei bestimmten Merkmalskonstellationen bestehen, nutzen der Verbesserung von Behandlungen ebenfalls. Für das Gesundheitssystem ergeben sich geringere Kosten infolge von gezielteren Behandlungen von Beginn an. Pharmazeutischen Unternehmen nutzen entsprechende Erkenntnisse z.B. bei der Durchführung klinischer Studien, um Prüfzentren gezielter auszuwählen, was gerade bei immer kleineren Patientenpopulationen und individuellen Therapien relevant ist. Für die Firmen lassen sich so ebenfalls Zeit und Kosten sparen.Der Einsatz von KI im Healthcare-Bereich nimmt derzeit sehr stark zu, Prognosen weisen in die Richtung einer Vervielfachung des Umsatzes durch die Anwendung KI-basierter Technologien in den nächsten Jahren.2 Das zeigt, dass die Erwartungen an die Technologien hoch sind.
Ein Verfahren aus dem Spektrum KI-basierter Analytik bilden prädiktive Analysen, mittels derer sich die Eintrittswahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse vorausberechnen lässt. IQVIA hat dies auf Basis kollektiver Daten aus dem Versorgungsalltag, sogenannter Real World-Daten, u.a. am Beispiel der Erkrankung Arthrose unternommen, um Erkenntnisse über die Wahrscheinlichkeit von Krankheitsverläufen in Abhängigkeit bestimmter Merkmalskonstellationen zu gewinnen. Die Ergebnisse können z.B. dazu verhelfen, Wahrscheinlichkeiten für Krankheitsverläufe zu bestimmen und Therapien besser an den individuellen Krankheitsverlauf eines Patienten anzupassen.
Arthrose ist eine degenerative Gelenkerkrankung, die sich typischerweise mit Anlauf- und belastungsabhängigem Schmerz manifestiert. Als weitere charakteristische Symptome gelten ein Gelenkerguss (aktivierte Arthrose), zunehmende Deformation des Gelenks und Gelenkgeräusche infolge zunehmender Unebenheiten der Knorpeloberfläche bei Bewegung. Unter der weltweit wie auch in Deutschland häufigsten Gelenkerkrankung leiden hierzulande etwa fünf Millionen Menschen, wobei die Arthrose am häufigsten im Kniegelenk lokalisiert ist; sie kann jedoch auch andere Gelenke betreffen3.Die Therapie der Arthrose verfolgt vor allem zwei Ziele, nämlich Schmerzfreiheit und endoprothetischen Ersatz der Gelenkfläche.
IQVIA-Forscher untersuchten, wie sich Krankheitsverläufe betroffener Patienten entwickeln und welche Einflussfaktoren dabei eine Rolle spielen. Insbesondere ging es darum, herauszufinden, welche Patienten einen endoprothetischen Ersatz der Gelenkfläche benötigen und wie hoch die Wahrscheinlichkeit für einen Bedarf bei diesen Patienten ist. Des Weiteren interessierte der Zeitabstand zwischen erster Diagnose und festgestelltem Bedarf für einen Gelenkersatz, um eine Vorhersage über den Zeitraum bis zur Operation zu treffen. Dies schloss auch ein, Aufschluss über die jeweils beste Behandlungsstrategie zu erhalten, um zu eruieren, welche Patientengruppe möglichst früh eine Therapie erhalten sollte, um den weiteren Krankheitsverlauf zu bremsen, welche vom „watchful waiting“ (beobachtendes Abwarten) am meisten profitiert, welche Betroffenen hinsichtlich weiterer Erkrankungen untersucht und behandelt werden sollten und welchen Erkrankten mit schwachen oder starken Schmerzmitteln am besten zu helfen ist.
Zu Grunde gelegt waren der Untersuchung anonymisierte longitudinale Diagnose- und Verordnungsinformationen auf Basis der retrospektiven Datenbank IMS® Disease Analyzer4. Diese beinhaltet Krankheitshistorien, welche die Basis für die Erkennung von Mustern bilden. In die Auswertung flossen die Behandlungsinformationen aus 2.500 allgemeinärztlichen Praxen in Deutschland ein. Die Ausgangsbasis bildete ein Pool anonymisierter Daten von über 2 Millionen Arthrose-Patienten. Nach einer mehrstufigen Kriterienselektion verblieben knapp 48.000 Patienten mit in die Analyse einbezogenen Behandlungsinformationen. Nach Erstellung verschiedener Patientenprofile mittels Cluster-Analysen wurden über Tools des maschinellen Lernens verschiedene Krankheitsverläufe berechnet.
Die Ergebnisse der KI-Analyse zeigen, dass das Alter der Patienten zum Zeitpunkt der Erstdiagnose und Multimorbidität, einschließlich früherer Infektionen, einen großen Einfluss auf den Krankheitsverlauf haben (Abbildung 1). So benötigen etwa ältere Menschen (> 68 Jahre) mit mehr als sechs Begleiterkrankungen einen Gelenkersatz bereits drei Jahre nach der ersten Diagnose. Bei jüngeren Patienten ohne oder mit nur wenigen Infektionen ist ein Gelenkersatz erst nach ungefähr zehn Jahren notwendig. Neben diesen vorrangigen Einflussfaktoren erwies sich auch der Umfang der Therapie mit allgemeinen Schmerzmitteln sowie mit niedrig- und hochpotenten Opioiden als bedeutsam.
Die Ergebnisse erlauben, die Patienten mit dem größten medizinischen Bedarf zu finden und entsprechend optimierte Behandlungsentscheidungen zu treffen. Sie ermöglichen darüber hinaus auch eine Optimierung klinischer Studien durch eine bewusste Bestimmung der Ein- und Ausschlusskriterien für Patienten.
Entmachtet die KI auf mittlere bis lange Sicht die Ärzte? Nein, meint Dr. Matthäus Rimpler, Leiter des Bereichs Real-World Insights & Commercial Analytics bei IQVIA Deutschland und selbst Mediziner. Vielmehr würden die Behandler unterstützt und entlastet, vorausgesetzt, es gelinge, die Ergebnisse aus
KI-Analysen entsprechend in der Arztpraxis-Software unkompliziert zur Verfügung zu stellen. Der behandelnde Arzt werde auch weiterhin die finale Therapieentscheidung treffen. Auch stelle die Vorhersage von Krankheitsverläufen nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Spektrum möglicher
Ergebnisse dar. „Über KI-Analysen lassen sich z.B. auch Vorhersagen zur Nicht-Adhärenz erstellen, die bekanntermaßen eine maßgebliche Komponente ist, wenn Therapien fehlschlagen. Informationen darüber können helfen, Gründe für Nicht-Adhärenz zu verstehen und passende Maßnahmen zu treffen, um sie zu verbessern. Ebenso lässt sich auch die optimale Dosierung herausfinden, die ja auch für die Adhärenz maßgeblich sein kann“, so Rimpler.
Derzeit stellen Methoden der Künstlichen Intelligenz noch keine Routineverfahren dar und manche gesetzlichen Fragen, z.B. der Haftung oder des Datenschutzes, sind je nach Anwendungsbereich noch zu klären. Das deutet eher auf schrittweise als auf sprunghafte Fortschritte hin. Doch mit der steigenden Verfügbarkeit adäquater „Big Data“, neuer Technologie und analytischer Expertise wachsen die Chancen, die Gesundheitsversorgung maßgeblich zu verbessern.
1 Eignungskriterien sind u.a. Qualität und Umfang der verwendeten Daten
2 https://bigdata-madesimple.com/artificial-intelligence-in-healthcare-worth-36-1-billion-by-2025-report/;
https://www.marketsandmarkets.com/PressReleases/artificial-intelligence-healthcare.asp
3 https://www.arthrose.de/index.php?id=89
4 IMS® Disease Analyzer ist eine Datenbank von IMS Health, die anonymisierte Therapie- und Behandlungsverläufe zeigt. Dadurch lassen sich Krankheits- und Therapieverläufe über viele Jahre darstellen. IMS® Disease Analyzer beruht auf einer repräsentativen Stichprobe von mehr als 2.500 Praxen mit 3.00 niedergelassenen Ärzten in der Bundesrepublik Deutschland, die mit EDV-Systemen ausgestattet sind.