Wissenschaftliche Kritik am Arzneimittelverordnungsreport
In einer vom BPI in Auftrag gegebenen Untersuchung verschiedener Berechnungen des AVR (und im Vergleich auch des Arzneimittelreports von Glaeske/Schicktanz der Barmer GEK) kommen die Ökonomen Prof. Dieter Cassel (Univ. Duisburg) und Prof. Volker Ulrich (Univ. Bayreuth) zu dem Ergebnis, dass „alleine die Komplexität der Ermittlung von Einsparpotenzialen vor allem im internationalen Kontext deren scheinbar exakte Bezifferung praktisch unmöglich macht.“ Ihre Kritik lautet, dass Berechnungen wie die zu Einsparpotenzialen und vor allem zu den Einsparpotenzialen im internationalen Vergleich „in die Irre führen“ und vor allem „keinen verlässlichen Maßstab für rationales Handeln im Gesundheitswesen darstellen“ können. Immerhin waren sie die argumentative Basis für so manche regulatorische Anstrengungen der Politik – und das seit nunmehr 27 Jahren.
„Einsparpotenziale zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ nannten Cassel und Ulrich nicht von ungefähr eine Headline in ihrer gemeinsamen Präsentation, deren Generalkritik in der Frage gipfelt, wie es trotz aller in den letzten Jahren durchaus auch erfolgreichen regulatorischen Maßnahmen der Politik auf dem Arzneimittelsektor sein kann, dass der AVR Jahr für Jahr hohe potenzielle Einsparpotenziale (ESP) ausweisen kann. So hätte der Report von Schwabe/Paffrath für die GKV im Jahr 2010 allein aus der Generikasubstitution ein ESP von 4,9 Mrd. Euro ausgewiesen, unter der Annahme, dass teure Produkte durch die jeweils billigsten Generika ersetzt und diese aus dem laut AVR noch preisgünstigeren Großbritannien (GB) importiert würden. Und über alle Arzneimittelkategorien und alle nationalen und internationalen Substitutionsmöglichkeiten hinweg komme der AVR sogar auf ein jährliches ESP von 12,1 Mrd. Euro, was im Jahr 2010 immerhin 41 % der gesamten GKV‐Ausgaben für Fertigarzneimittel in Höhe von 29,7 Mrd. Euro entspräche. Cassel: „Das ist ein Ding der Unmöglichkeit.“ Cassel und Ludwig, die in diesem Zusammenhang sogar von einer „Ergebnisgeleiteten“ Darstellung sprechen, weil „man Jahr für Jahr ein höheres Einsparpotenzial ausweisen“ möchte, bezweifeln, dass die Jahr für Jahr vorgetragenen ESP realistisch sind; zudem würde nie ausgeführt, wie man die ESP, wenn sie denn existierten, im deutschen Gesundheitssystem ermöglichen könne.
„Dazu habe ich im AVR noch nie etwas gelesen“, sagt Cassel, der auch gleich sagt, was ihm beim Lesen des AVR weiter fehlt: Der methodische Teil, der exakt beschreibt, wie die ESP – besonders im internationalen Vergleich – berechnet werden. Denn genau hier sieht das Professorenteam die größte Schwäche des AVR und die Erklärung dafür, warum die ihn ihm behaupteten potenziellen ESP Jahr für Jahr viel höher ausfallen als im Arzneimittelreport (AMR) der Barmer GEK, erstellt von einem Team rund um Prof. Dr. Gerd Glaeske und Dr. Christel Schicktanz (Uni Bremen).
Zum einen unterschieden sich AVR und der AMR der BarmerGEK in der populationsbezogenen Datenbasis und durch einen statistischen Bruch (hervorgerufen durch die Fusion GEK und BarmerGEK 2010), was beispielsweise deutlich werde, wenn man den ESP‐Anteil an den Arzneimittelausgaben im GEK/BarmerGEK-Report betrachte, der von 2005 bis 2008 kontinuierlich absinke und 2010 einen „kaum zu erklärenden Sprung“ von 4,9 % auf 7,7 % und 2012 auf 10,0 % mache. Cassel: „Immerhin bleibt dieser ESP damit noch deutlich unter dem vom AVR ausgewiesenen ESP‐Anteil am Fertigarzneimittelumsatz, der im Zeitraum von 2008 bis 2010 von 12,9 % auf 15,7 % anstieg und damit in 2010 mehr als doppelt so hoch wie im BarmerGEK‐Report.“ Diese Differenz wiederum kann sich laut Cassel und Ludwig nur daraus ableiten, dass die jeweils getätigten Substitutionsannahmen höchst unterschiedlich seien - hier zeige sich der zentraler Unterschied beider Reports.
Um den heraus zuarbeiten, warf das Ökonomen-Team einen Blick hinter die methodischen Kulissen von AVR und AMR und stieß denn auch auf „ergebnisrelevante Unterschiede in den Verfahrensweisen bei der unterstellten Arzneimittelsubstitution und hier insbesondere im generikafähigen Markt. Zu belegen sei dies beispielsweise anhand von vier Substitutionsvarianten (Pfannkuche et al.) bei omeprazolhaltigen Verordnungen nach GEK‐Daten für das Jahr 2005: Werden Präparate nicht wie in Methodik 1 nur nach DDD‐Durchschnittskosten substituiert, sondern werden auch sukzessive unterschiedliche Wirkstärken (Methodik 2) sowie verschiedene Packungsgrößen und Darreichungsformen (Methodik 3) rechnerisch berücksichtigt, fallen die ESP quantitativ immer geringer aus. Am geringsten sind sie, wenn die zum Verordnungszeitpunkt jeweils preisgünstigsten Substituenten unter Berücksichtigung aller anderen Parameter zum Zuge kommen (Goldstandard: Methodik 4). Hiernach hätte die GEK in 2005 nur mit einem Omeprazol‐ESP von rund 165 Tsd. Euro bzw. 2,9 % ihrer Omeprazol‐Ausgaben rechnen können, was gerade einmal 22 % des ESP nach Methodik 1 ausmache. Und hochgerechnet auf die GKV hätte das ESP statt 54 Mio. Euro nach AVR (Methodik 1) nur 12 Mio. Euro (Methodik 4) ergeben.
Positiv ist nach Cassel/Ulrich zu bewerten, dass der Arzneimittelreport der BarmerGEK dem methodischen „Goldstandard“, eben Methodik 4, folgt, wohin gegen die Vorgehensweise des AVR hinsichtlich der Kriterien, die bei der Arzneimittelsubstitution unterstellt werden, weitgehend intransparent blieben. Cassels Kritik: „Das ist wissenschaftlich unsauber.“ Und weiter: „Allem Anschein nach verwendet der AVR eine Methodik, die zu unrealistisch hohen ESP führt.
Das war nun der nationale Teil, der für Wissenschaftler noch relativ einfach zu analysieren ist. Ganz anders ist das indes bei der Berechnung von Einsparpotenzialen aus internationalen Preisvergleichen, die AVR und AMR ebenfalls anstellen, während dies der dritte im Bunde der Reports – der Arzneimittelatlas – aus methodischen Gründen nicht tut. Cassels Rat an die ersten beiden Report-Teams: „Angesichts der kaum zu überwindenden Schwierigkeiten, wenn nicht gar praktischen Unmöglichkeiten, belastbare Einsparpotenziale methodisch einwandfrei zu ermitteln, wäre es ein Gebot der Vernunft und Redlichkeit, auf derartige Versuche zumindest im internationalen Preisvergleich zu verzichten.“ In diesem Zusammenhang wandelte Cassel Wittgensteins berühmten Satz „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ ab und riet: „Was man nicht berechnen kann, muss man sein lassen.“