Charité nimmt die Versorgungsforschung in den Fokus
http://doi.org/10.24945/MVF.01.20.1866-0533.2198
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>> So gab Prof. Dr. med. Axel Radlach Pries, seit 2015 Dekan und Vorstandsmitglied der Charité, zu Protokoll, dass er von Anfang an der Meinung gewesen sei, dass Versorgungsforschung „ein Thema ist, das die Charité betreiben soll, muss und kann“. „Soll“ deshalb, weil seinen Worten zufolge die Anforderungen an ein Haus dieser Größe immer an der Güte der medizinischen Alltagsrealität gemessen werde. Und „muss“ deshalb, weil immer dann, wenn Medizin mit Forschung verknüpft worden sei, laut Pries „gewaltige Fortschritte möglich geworden sind, wofür im ganz besonderen Maße über die Hälfte der deutschen Nobelpreisträger für Medizin oder Physiologie stehen, die eng mit der Charité verbunden sind. Oder andere namhafte Forscher wie Prof. Dr. Rudolf Ludwig Carl Virchow, der – so Pries – mit eigenen Ideen gezeigt habe, dass „die
reale Wirklichkeit der Patienten zum Teil viel stärker durch Themen zu beeinflussen ist, die man eigentlich gar nicht mit der medizinischen Forschung in Verbindung bringt, wie zum Beispiel eine Wäscherei.“
Was nichts anderes ist, als eine sehr frühe Form der
Versorgungsforschung.
Dennoch war es ein durchaus langer und sicher auch kein einfacher Weg, diese immer noch recht junge Wissenschaftsrichtung in der Charité zu implementieren. Dies nicht etwa als bloßes Add-on, sondern durchaus als gleichwertiges Fach neben den vielen Fächern der Grundlagenforschung, die gleichsam in die DNA und Historie des größten Berliner und obendrein ebenso größten Universitätsklinikums Europas eingeschrieben sind.
Bliebe die Frage nach dem „kann“, die
Pries so beantwortete, dass Versorgungsfor-schung an der Charité „individuell durch die Erkenntnis der Notwendigkeit“ entstanden sei. Dies sei beileibe kein geleiteter, strategisch geförderter Prozess gewesen, mit dem sich die Fakultätsleitung schmücken könne, sondern „eine echte Graswurzelentwicklung“. Ebenso sei das Gras von ganz alleine „hier und da und dort aus dem Boden gesprossen“. Und wer etwas genauer hinschaue, entdecke „schon nahezu eine Wiese“, die vielleicht noch ein bisschen Düngung und Wässerung benötige. Dafür wäre die neu gegründete Plattform der richtige Ansatz, um die bereits vorhandene Projektvielfalt zu fördern; wobei er sich von der Menge und vor allem Qualität dieser „verschiedenen, individuell gestarteten Aktivitäten im Bereich Versorgungsforschung sehr beeindruckt“ zeigte.
150 Versorgungsforschungsprojekte aus nahezu allen Fachbereichen
Darauf kann die Charité, darauf können aber auch Dekan Pries und vor allem alle beteiligten Wissenschaftler und Ärzte aus nahezu allen Fachbereichen stolz sein. So fand das Team rund um Adelheid Kuhlmey auf den verschiedensten Homepages und Seiten der Charité weit mehr als 150 Versorgungsforschungsprojekte, von denen immerhin 40 auf dem 1. Charité-Versorgungsforschungskongress als Poster präsentiert wurden. Die Plattform – Charité Versorgungsforschung sieht es nun als Aufgabe an, diese gewachsene interdisziplinäre und interprofessionelle Basis, die bisher an der Charité „breit, aber auch breit verstreut“ aufgestellt ist, zu kartografieren, dann zu visualisieren und damit auch zu bündeln. Kuhlmeys Dank galt aber zuerst allen Kollegen, die der Idee der Plattform – Charité Versorgungsforschung „so überzeugt, mitgestaltend und kollegial“ gefolgt seien, was als „ein wichtiger Schritt in Richtung Vernetzung und ein wichtiger Erfolg für die Strukturentwicklung der Ver-
sorgungsforschung an der Charité und darüber hinaus gelten könne. Doch genauso wichtig wie die Vernetzung innerhalb der Charité ist Kuhlmeys Worten zufolge auch die „integrative Zusammenarbeit mit unseren Partnern aus Wissenschaft und Gesundheitswirtschaft, aus den Kassen und Verbänden sowie den Erbringern von Versorgungsleistungen.“
Das ist selbst im Haus keine leichte Aufgabe. An an vier Berliner Hauptstandorten untergebracht, ist die Charité in 17 Zentren (CharitéCentren) mit mehr als 100 Kliniken und Instituten unterteilt, die zwar größtenteils standortübergreifend organisiert sind, aber eine eigenständige Leitung mit Ergebnisverantwortung erhalten. Dazu zählt natürlich auch die Einwerbung von Drittmitteln, womit die Versorgungsforschung - auch im Blick auf die hohen Budgets des Innovationsfonds, aber auch anderer Förderer – auf einmal in den Fokus gerät. „Der Parameter, der für uns immer auch wichtig ist, ist die Förderung“, sagte Pries hinsichtlich der Versorgungsforschung, die bisher „vielleicht tendenziell leicht übersehen“ worden sei: „Die kritische Masse in der Charité ist eindeutig für dieses Thema gegeben.“ Und durch den 1. Charité-Versorgungsforschungskongress sowie der Plattform – Charité Versorgungsforschung nun auch – so Pries – „sichtbarer und auch schlagkräftiger“, dazu werde zur Zeit in der Fakultät auch ein „neuer Mechanismus der Darstellung unserer Forschungsschwerpunkte“ entwickelt. <<
von:
MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier und Martin Klein
Zitationshinweis:
Stegmaier, P., Klein, M.: „Charité nimmt die Versorgungsforschung in den Fokus“ (01/20), S. 28-29, doi: 10.24945/MVF.01.20.1866-0533.2198
Plattform – Charité Versorgungsforschung
Die „Plattform – Charité Versorgungsforschung“ bündelt Forschungsvorhaben, Weiterentwicklungen sowie Maßnahmen der Nachwuchsförderung im Bereich Versorgungsforschung. Der Plattform gehören bisher 20 Einrichtungen der Charité sowie die drei Forschungsnetze EMANet, NAVICARE und Fontane an. Ziel der Vernetzung ist es, Ressourcen besser zu nutzen, neue Synergien zu schaffen, wissenschaftliche Methoden gemeinsam weiterzuentwickeln und den wissenschaftlichen Nachwuchs besser zu fördern. Neue Möglichkeiten der Gesundheitsversorgung sollen so noch schneller für Patienten zum Einsatz kommen. Zu den Aufgaben der Plattform gehören deshalb:
• Die Schaffung einer gemeinsamen Forschungsinfrastruktur durch Bündelung vorhandener Ressourcen;
• Die Vernetzung methodischer und klinischer Expertise für die Versorgungsforschung;
• Die Förderung von Methoden- und Theorieentwicklung in der Versorgungsforschung sowie der Translation empirischer Ergebnisse in die Versorgungspraxis;
• Die Vernetzung mit lokalen Akteuren genauso wie
• Die Etablierung einer umfassenden Nachwuchsförderung;
• Die Etablierung einer gemeinsamen Fortbildungslandschaft.
Zunächst soll die Plattform, wie Prof. Dr. phil. Adelheid Kuhlmey, in der Begrüßung zum 1. Charité-Versorgungsforschungskongress ausführte, auf vier Schwerpunktthemen fokussieren:
1. Ambulante und sektorenübergreifende Versorgung
Die Versorgungsforschung sucht hier vor allem nach dem besten Übergang zwischen den Sektoren des Gesundheitswesens – mit dem Ziel, die Patienten bestmöglich durch die notwenigen Diagnostik- und Behandlungsschritte zu leiten.
2. Vulnerable Gruppen und Personen mit chronischen Erkrankungen
Insbesondere sehr hoch betagte Menschen, Personen mit Migrationshintergrund oder unzureichender Gesundheitskompetenz haben eingeschränkten Zugang zu sozialen Dienstleistungen, Gesundheitsbildung und Gesundheitsversorgern. Multimorbidität sowie funktionelle Einschränkungen bei chronischen Erkrankungen erschweren ebenfalls eine optimale Versorgung.
3. Notfall- und Akutversorgung
Die Versorgungsforschung in der Notfall- und Akutmedizin ermittelt Kennzahlen zur tatsächlichen Häufigkeit der Inanspruchnahme von Notfallversorgungsstrukturen, sowie Ursachen für die steigende Inanspruchnahme unter Berücksichtigung der Patienten- wie auch der Systemperspektive.
4. Telemedizin und Digital Care
Die Versorgungsforschung untersucht in der Telemedizin u. a. die Anwendungstauglichkeit sowie Nutzerfreundlichkeit unter Alltagsbedingungen und überprüft die Wirtschaftlichkeit und Qualität der angebotenen telemedizinischen Leistung.
Prof. Kuhlmey, Direktorin des Instituts für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft, sowie Sprecherin der neuen Plattform, erklärte dazu: „Dank der einmaligen Interdisziplinarität der Versorgungsforschung an der Charité, der Einbeziehung Studierender unterschiedlicher Fachrichtungen sowie junger Nachwuchskräfte wird die neue Plattform einen wichtigen Beitrag dazu leisten, das Forschungsgebiet fachlich, inhaltlich, aber auch methodisch weiterzuentwickeln und den benötigten wissenschaftlichen Nachwuchs dafür auszubilden.“ Ergänzend betonte Prof. Dr. Martin Möckel, Ärztlicher Leiter der Notfall- und Akutmedizin am Campus Charité Mitte und Campus Virchow-Klinikum sowie stellvertretender Sprecher der Plattform, dass „mit der Plattform und unseren klinischen Partnern innerhalb und außerhalb der Charité, den Krankenkassen und Verbänden wir eine produktive Vernetzung von Forschung, Versorgungspraxis und -gestaltung haben, die es ermöglicht, neue Versorgungsmodelle zu pilotieren, zu erforschen und für die Umsetzung vorzubereiten“.