„Wir müssen das Patientenwohl gesetzlich verankern“
http://doi.org/10.24945/MVF.01.20.1866-0533.2195
>> Sehr geehrte Frau Prof. Woopen, wie empfinden Sie es als ehemalige Vorsitzende der Deutschen Datenethikkommission und amtierende Vorsitzende des Europäischen Ethikrates, wenn Ihr Hauptthema aktuell meist nur in der Konnotation zum Begriff der künstlichen Intelligenz oder Big Data aufscheint? Ist es nicht etwas schade, wenn Ethik auf diese Schlagworte verkürzt wird?
Künstliche Intelligenz ist ein dominierendes Thema unserer Zeit. Die durch die Digitalisierung ausgelösten, schnellen und tiefgreifenden Wandlungsprozesse zwingen uns geradezu, uns verstärkt auf ethische Fragen zu besinnen. Ich bin der Überzeugung, dass wir dafür keine neuen ethischen Prinzipien oder Maßstäbe brauchen, da diese sowohl auf deutscher als auch auf europäischer Ebene bereits grundrechtlich verankert sind. Was indes nicht heißt, dass wir uns über die konkrete Ausgestaltung keine Gedanken machen müssten.
Wie etwa in Form der Grundrechte-Charta.
Die Grundrechte-Charta der Europäischen Union ist eine wichtige Grundlage, das aktuelle Gutachten der deutschen Datenethikkommission eine Art Konkretisierung. Es ist wichtig zu erkennen, was aktuelle Entwicklungen, die auch und vor allem durch Digitalisierung getriggert werden, für die ethische Gestaltung vieler Prozesse und Strukturen in so ziemlich allen gesellschaftlichen Bereichen bedeuten. Unter anderem natürlich auch für die gesundheitliche Versorgung und das Gesundheitssystem.
Die Datenethikkommission hat sich dazu entschieden, sich aktuell nicht auf künstliche Intelligenz zu konzentrieren, sondern auf algorithmische Systeme insgesamt.
Die künstliche Intelligenz oder KI ist ein Hypebegriff, der per se Aufmerksamkeit erhält, während der Begriff der algorithmischen Systeme zunächst etwas sperrig und damit sicher auch unattraktiver ist. Gleichwohl sind algorithmische Systeme das eigentlich Relevante, was man künstliche Intelligenz nennt, ist nur ein Teilbereich davon.
Wobei Algorithmen und darauf basierendes maschinelles Lernen schon in vielen Bereichen Einzug halten.
Algorithmische Systeme – egal ob sie regelbasiert gleichsam fest einprogrammiert oder mit mehr oder weniger selbstlernenden Elementen versehen sind – können insbesondere, wenn sie in großen Netzwerken und breit skaliert angewendet werden, mit einem hohen Schädigungspotenzial verbunden sein. Wenn wir unsere Gesellschaft gestalten und grundlegende Rechte und Freiheiten schützen wollen, müssen wir daher algorithmische Systeme in ihren jeweiligen Anwendungen nicht nur aus ökonomischer, sondern auch aus ethischer Sicht analysieren und bewerten.
Was aber im Endeffekt in allen gesellschaftlichen Bereichen zeitlich lange vor der KI gemacht wurde und wird, so auch in der Medizin. Man bräuchte doch nichts Neues, wenn man bestehende Grundrechte anwenden und durchdeklinieren würde, wie etwa die Würde des Menschen, die doch implizit das Patientenwohl an oberste Stelle stellt, oder?
Wo steht denn das?
Im deutschen Grundgesetz: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Das Patientenwohl ist etwas anderes als die Würde des Menschen. Die Würde des Menschen im Grundgesetz wird – je nachdem, wie man das verfassungsrechtlich sieht – als eine Fundierung für alle anderen Grundrechte oder selbst als ein abwägungsresistentes Grundrecht angesehen. Da die Würde des Menschen ein sehr allgemeiner und unbestimmter Rechtsbegriff ist, schlägt sich dieser nicht unbedingt oder gar primär darin nieder, dass aus ihm Ansprüche auf ganz bestimmte Leistungen entwickelt werden könnten, womöglich noch auf eine besonders umfassende Gesundheitsversorgung.
Ist § 12 SGB V mit seinem Gebot der „ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen“ und damit nicht der bestmöglichen Versorgung ethisch?
Die Zweckmäßigkeit und das Ausreichende sind allgemeine Maßstäbe für einen Anspruch, den jeder gesetzlich Versicherte im Hinblick auf eine solidarisch finanzierte Gesundheitsversorgung hat. Genau dafür bildet dieser Paragraf die ethische Grundlage, aus der sich jedoch nicht schon ableiten ließe, wie das Gesundheitssystem genau auszusehen hat. Auch das Bundesverfassungsgericht hält sich in seinen Urteilen sehr zurück, wenn es darum geht, Ansprüche an eine optimale Gesundheitsversorgung festzulegen. In der Formulierung des Wirtschaftlichkeitsgebots im SGB V erkennt man zudem deutlich, dass die Ansprüche der Versicherten nicht grenzenlos sind. In diesem Spannungsfeld ist es umso wichtiger, unser Gesundheitssystem mit all seinen Strukturen und Prozessen konsequent auf das Patientenwohl auszurichten und den Patienten in den Mittelpunkt zu stellen.
Warum ist das so?
Weil der Alltag in einem ökonomisierten Gesundheitssystem es den Menschen in den Gesundheitsberufen immer wieder äußerst schwer macht, das Patientenwohl als den handlungsleitenden Maßstab zur Geltung zu bringen. Und auch die Sektoren mit ihren Grenzen stellen nicht wirklich den Patienten und seine bruchlose Versorgung ins Zentrum.
Was würden Sie als ausgewiesene Ethikexpertin empfehlen, nach welchen ethischen Prinzipien das Sozialgesetzbuch genauer auszuformulieren wäre?
Ich persönlich halte die ausdrückliche gesetzliche Verankerung des Prinzips des Patientenwohls als zentralen Maßstab für das Gesundheitswesen in der Ausgestaltung all seiner Strukturen und Prozesse für sinnvoll. Das würde das Primat des Patienten im Gesundheitswesen verankern, und allein schon der Versuch würde eine überfällige Diskussion im Gesundheitswesen fördern. Was aber wiederum nicht heißt, dass man sich damit um Fragen der Wirtschaftlichkeit nicht mehr kümmern muss – das ist damit auf keinen Fall gemeint.
Das Patientenwohl hat der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme zur Krankenhaus-Versorgung in drei Kriterien der Operationalisierung ausgeformt.
Das ist auch sinnvoll, weil man nur in dieser Trias das Patientenwohl konkretisieren kann. Das beginnt als erstes bei der die Selbstbestimmung des Patienten ermöglichenden Versorgung, geht über die Gewährleistung einer guten Versorgungs-Qualität – was den Anspruch einschließt, nach dem aktuellen medizinischen Standard behandelt zu werden – bis hin zum dritten Kriterium, das die Gewährleistung einer Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit umfasst.
Und dennoch ist zu konstatieren, dass bestimmte Patientengruppen im derzeitigen Gesundheitswesen den Kürzeren ziehen.
Leider ist das so. Mittlerweile halte ich es angesichts der teilweise heftigen Ökonomisierung der Medizin für empfehlenswert, die Ausrichtung auf das Patientenwohl gesetzlich zu verankern und als Leitzielbestimmung in die Sozialgesetzgebung einzuführen. Dann würde sich auch an dem traurigen Zustand etwas ändern, dass bestimmte vulnerable Gruppen benachteiligt werden.
Im Endeffekt wird dazu wohl eine Gesetzesinitiative nötig sein. Oder könnte das auch ein untergesetzlicher Normgeber wie der G-BA festlegen?
Tatsächlich kann das jeder Einzelne und jede Organisation im Gesundheitswesen auch jetzt schon umsetzen. Ausreichend verbindlich aber wird es wohl erst, wenn der Gesetzgeber aktiv wird. Auf der Grundlage muss dann u.a. der Gemeinsame Bundesausschuss konkretisieren, wie ein Leitprinzip wie das des Patientenwohls im Alltag ausgestaltet werden kann und muss.
Das wäre dann wohl die endgültige Festschreibung der Abkehr vom paternalistischen System.
Wir haben kein festgeschriebenes paternalistisches System.
Aber sicherlich ein immanentes.
Aus diesem Grund sollte man Beteiligung und Mitbestimmung der Versicherten stärken. Dazu gehört die Förderung von Gesundheitskompetenz (Health Literacy) in der Bevölkerung und im Gesundheitswesen, aber auch ganz zentral Stimmrechte im Gemeinsamen Bundesausschuss und sonstigen Gremien.
Was nicht so einfach ist, weil das komplizierte Gesundheitssystem kaum überschaut werden kann.
Dazu gibt es eine sehr interessante Publikation von Rechtsanwalt Christian Dierks, der klar herausarbeitet, dass Vertreter von Versicherten und Patienten zuerst einmal entsprechend ausgebildet und damit befähigt werden müssen, um sich in solchen Gremien kundig behaupten, mitsprechen und mitentscheiden zu können.
Was nahezu unmöglich ist, wenn Patientenvertretung fast nur ehrenamtlich organisiert bleibt.
Um diese komplexe Aufgabe der Mitentscheidung erfüllen zu können, brauchen Patienten- und Versichertenvertreter nicht nur eine angemessene Ausbildung, sondern auch entsprechend gut ausgebildete, hauptberufliche Mitarbeiter.
Alle Stakeholder leisten sich Kammern. Nur die Patienten haben weder einen Rat, noch eine entsprechende Institutionalisierung, die gleichberechtigt auf einer gewissen argumentativen Höhe ihre Stimme erheben kann. Brauchen wir vielleicht eine Nationale Patientenkammer, ebenso wie wir eine Ärzte-, Apotheker- oder seit kurzem auch (zumindest regionale) Pflegekammern haben?
Es ist wohl nicht möglich und auch nicht sinnvoll, Patienten in einer Kammer zu organisieren. Man ist ja nicht Patient als Beruf. Doch sollte man über eine Form der Institutionalisierung nachdenken, die zum einen eine starke Außenwirkung, zum anderen eine hohe demokratische Legitimierung hat.
Gesetzt den Fall, wir hätten irgendwann, womöglich schon in naher Zukunft, eine starke Form der Institutionalisierung des Patientenwohls ...
… dann würde das vieles ändern. Wer es mit einer patientenzentrierten Gesundheitsversorgung wirklich ernst meint, muss das Gesundheitssystem um den Patienten herum organisieren und nicht weiterhin versuchen, den Patienten in das System hineinzubiegen.
Und auch nicht mehr passieren, dass Patienten durch die Sektoren und über deren Grenzen hinweg geschleust werden müssen.
Richtig. Abgesehen davon halte ich das in Sektoren strukturierte Gesundheitssystem sowieso für reformbedürftig. Wenn hinten Menschen- und Patientenwohl rauskommen soll, müssen sich vorne die Akteure und Leistungserbringer anders als bisher aufstellen.
Dazu gibt die Datenethikkommission in Ihrem Vorschlag, wie man mit der Digitalisierung insgesamt und damit auch in der Medizin umgeht, Hinweise.
Indem sie zum Beispiel vorschlägt, dass Behörden, die in den unterschiedlichen Bereichen wie Finanzen, Verkehr oder Gesundheitswesen über algorithmische Systeme entscheiden sollen, Beiräte bestellen sollen. Darin sollen neben Unternehmen auch Vertreter der Zivilgesellschaft vertreten sein, damit diese sicherstellen können, dass ihre Interessen auch berücksichtigt werden. Im Gesundheitssystem würden etwa der G-BA, das BfArM, das PEI, das RKI oder auch das IQWiG Beiräte haben, in denen auch die Versicherten und Patienten vertreten wären.
Ist das eine Vision?
Die Datenethikkommission hat ein ganzes Bündel an Maßnahmen vorgeschlagen, die zusammengenommen einen erheblichen Fortschritt bringen würden. Dazu zählt neben der Mitbestimmung auch der Aufbau eines sogenannten lernenden Gesundheitssystems. Das wiederum beginnt bei den entsprechenden Infrastrukturen, bei der Standardisierung der Datenerhebung, geht über die generelle Frage der Datenverfügbarkeit, Interoperabilität und Interkonnektivität bis hin zu Themen wie innovativen Formen der Einwilligung, um Gesundheitsdaten der Forschung zur Verfügung zu stellen.
Zugang zu den Daten, ein gutes Stichwort: Den gibt es umfassend erst ab 2025!
Wir benötigen aber nicht nur die technische Möglichkeit des Datenzugangs, sondern auch ein innovatives Einwilligungsmodell. Hier haben wir als Datenethikkommission den „Meta-Consent“ in die Diskussion eingebracht. Dieser Consent bedeutet, dass ein Versicherter entweder von vorneherein seine Einwilligung geben kann, bestimmte Daten für bestimmte Kontexte und Forschungszwecke freizugeben, oder bei anderen Kontexten und anderen Datenarten im Sinne eines dynamic consent um seine spezifische Einwilligung gefragt werden will. So etwas kann mit einem Datentreuhandsystem verwaltet werden, das alle Rechte von Versicherten – seien es Selbstbestimmungs- und Privatheitsrechte oder Schutzansprüche – garantiert.
Die Ethikkommission hat auch gefordert, dass bestimmte Verwertungsverbote gesetzlich festgeschrieben werden und hat obendrein ein strafbewährtes Verbot der De-Anonymisierung vorgeschlagen. Das hat den renommierten Wissenschaftler und Versorgungsforscher Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann aus Greifswald beim letzten MVF-Kongress zu „Real World Data“ zu der sicher rein rhetorischen Frage gebracht: „Sitzen hier im Raum irgendwo Verbrecher?“
Dieser Vorschlag zielt nicht nur auf die Wissenschaft, sondern auch andere, die aus der De-Anonymisierung eigene Vorteile ziehen könnten. Es ist nun einmal so, dass Erkenntnisse aus dem Gesundheitsbereich nicht nur der Forschung dienen können, sondern auch zum Nachteil des Individuums auf dem Arbeitsmarkt oder beim Abschluss von Versicherungen herangezogen werden können. Das ist jedoch nichts Neues, dieses Thema gibt es beispielsweise auch schon im Gendiagnostikgesetz bezüglich genetischer Daten. Den hier verankerten Schutz brauchen wir in viel umfangreicherem Maße für Gesundheitsdaten im allgemeinen. Nur dann kann der Einzelne sicher sein, dass ihm keine Nachteile entstehen, wenn er seine Daten – wie es ja wünschenswert ist – für Forschungszwecke und für ein lernendes Gesundheitssystem zur Verfügung stellt. Das sollte doch gerade in einem solidarisch finanzierten System in unser aller Interesse sein.
Befürchten Sie derartigen Datenmissbrauch?
Es liegt in der Natur der Sache, dass zum Beispiel Versicherungen, die Risiken jedes Versicherten bestmöglich einschätzen können wollen, um darauf aufbauend auch die Prämien zu gestalten.
Was uns zum „Recht auf Nichtwissen“ führt.
Nehmen wir konkret den Fall eines jungen Menschen an, der 20 Jahre alt ist und gerne über sein Risikoprofil Bescheid wissen möchte, nach dem er seine Lebensplanung, Freizeitgestaltung, sportlichen Aktivitäten, Ernährungsgewohnheiten und sogar seine Berufswahl ausrichten möchte. Nun kommt es aber darauf an, wie man damit umgeht! Oder umzugehen hat! Muss ein Patient, der nach einer Auswertung seiner Gesundheitsdaten ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf- oder neurodegenerative Erkrankungen hat, das seinem Arbeitgeber oder seiner Versicherung zur Kenntnis bringen? Will er das überhaupt wissen, wenn ihm dieses Wissen über sein Risikoprofil später zum Nachteil gereichen könnte? Hier gibt es ganz offensichtlich einen Konflikt zwischen der Selbstbestimmungsmöglichkeit auf der einen und den Verwertungsmöglichkeiten auf der anderen Seite.
Könnte man diesen Konflikt in einem Gesetz implementieren?
Natürlich kann man das gesetzlich lösen. Das ist beispielsweise im Gendiagnostikgesetz schon erfolgt, aber eben nur für genetische Daten, was nicht ausreicht. Wichtig ist, dass auf einen Interessensausgleich aller Beteiligten geachtet wird.
Inwiefern?
Man kann jemanden, der über ein massiv erhöhtes Risiko Bescheid weiß, keine extrem hohe Lebensversicherung abschließen lassen, wenn er der Vesicherung dieses Wissen vorenthält. Hier steht das Individualinteresse gegen das Interesse der Versicherung und der hinter ihr stehenden Versichertengemeinschaft, die einseitige Ausnutzungsverhältnisse nicht zulassen können.
Dieser Ausgleich ist sicherlich ein sehr schwieriger Akt.
Indes einer, der zum Beispiel im Gendiagnostikgesetz dadurch gelöst worden ist, indem bestimmt wurde, dass erst ab einer bestimmten Höhe der Lebensversicherung ein gekanntes erhöhtes Risiko zur Kenntnis gebracht werden muss. Es lassen sich immer Mittel und Wege finden, einen Ausgleich herbeizuführen. Wenn man es denn will.
Der Umgang mit dem Recht auf Nichtwissen ist auch eine umstrittene Angelegenheit, wenn man alleine die im SGB formulierte Mitwirkungspflicht zur Gesundheitserhaltung bedenkt.
Es gibt immer die Spannungen zwischen dem Gut der Gesundheit und dem Gut der Freiheit. Dieser Konflikt zieht sich durch viele Bereiche im Gesundheitssystem, wenn man nur einmal an Bonussysteme der gesetzlichen Krankenversicherung denkt.
Was ist für Sie höherrangig?
Als Ethikerin halte ich das Gut der Freiheit für höherrangig als dasjenige der Gesundheit. Wenn ein Mensch etwa für sich selbst bestimmt, dass er etwas nicht wissen möchte, dann ist das sein gutes Recht, aus welchen Gründen auch immer; und sei es darum, weil er sein Leben einfach nicht mit einem bestimmten Wissen belasten möchte. Das muss die Gesellschaft akzeptieren, auch wenn er mit dem Wissen etwas für seine Gesundheit tun könnte.
Was ist hiervon höherrangiger: Das Gut des Datenschutzes oder der Gesundheitsschutz?
Datenschutz ist kein Gut.
Sondern?
Der Datenschutz ist ein Mittel, um Privatheit und Selbstbestimmung zu schützen.
Auch wenn beispielsweise ein Mensch nicht wissen möchte, dass er ein hohes Risiko hat, an Demenz zu erkranken, weil er dann den Eindruck hat, sein Leben freier und unbelasteter führen zu können?
Das ist sein gutes Recht. Aber auch umgekehrt, wenn ein Mensch alles ganz genau wissen will, weil er erst dann den Eindruck hat, sein Leben besser ausrichten und planen zu können. Das sollten wir dem Einzelnen als Gesellschaft ebenso gewährleisten. Letztlich geht es um die freie Lebensgestaltung.
Freiheit als oberstes Gut.
Genau!
Was ist, wenn jemand durch eine bestimmte Lebensführung sein individuelles Risiko erhöht, zu erkranken oder – zum Beispiel bei Extremsportarten – Unfälle zu erleiden? Es gibt sicher einige, die der Auffassung sind, dass die Gesellschaft nicht dafür zuständig sein kann, solche Risiken solidarisch zu tragen, sondern die jeder selbst bezahlen soll, wenn er sich sehenden Auges solchen Risiken aussetzt.
Ich bin der Auffassung, dass es sich eine Gesellschaft schon etwas kosten lassen sollte, Freiheit zu gewährleisten. Es gibt zudem andere Wege des Ausgleichs als Menschen notwendige medizinische Versorgung selbst bezahlen zu lassen. Man kann z.B. höhere Steuern auf gesundheitsschädliche Lebensmittel erheben und diese Einnahmen ins Gesundheitssystem lenken. Außerdem können wir auf vielen anderen Wegen Menschen dazu einladen und motivieren und ihnen die Möglichkeit eröffnen, sich möglichst gesundheitszuträglich zu verhalten. Doch ist Gesundheit aus ethischer Sicht nicht das oberste Gebot.
Das müssen Sie bitte erklären.
Das Leben ist nicht dann besonders gut, wenn es besonders gesund ist. Das Leben wird von den Menschen dann als gut empfunden, wenn es für sie sinnvoll und lebenswert ist. Der Sinn des Leben erschöpft sich nun einmal nicht darin, gesund zu sein.
Aber gesund und frei.
Vor allen Dingen frei. Das sieht man im besonderen Maße dann, wenn man Menschen betrachtet, die von vorneherein nicht gesund sind, weil sie zum Beispiel mit schweren Beeinträchtigungen, Behinderungen oder Erkrankungen auf die Welt gekommen sind. Diese Menschen führen kein weniger sinnvolles Leben als die Menschen, die ihr ganzes Leben lang gesund sind. Ich halte die Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht nur deswegen für ethisch besonders wichtig, weil wir damit allen Menschen einen Zugang zur Gesundheitsversorgung gewährleisten, sondern gerade deswegen für wichtig, weil diese Solidarität uns gegenseitig ein freies Leben ermöglicht. Gesundheitliche Bedingungen prägen die Möglichkeit, ein freies Leben zu führen, in durchaus beträchtlichem Maße. Darum sind für mich als Ethikerin gesundheitliche Bedingungen vor allem bedeutsam für die Vermeidung von Leiden und die freie Lebensgestaltung. Damit hat das solidarische Einstehen der Gesellschaft für die Gesundheitsversorgung letztlich einen Freiheitsbezug.
Nehmen wir den Datenschutz, den Sie als Mittel bezeichnen, gegenüber dem Gesundheitsschutz. Nun wurde seitens der Ärzteschaft über Jahrzehnte der Datenschutz über den Gesundheitsschutz gestellt. Damit wurde jahrzehntelang auch der Aufbau der elektronischen Patientenakte verhindert, mit deren Daten-Akkumulation und Zurverfügungstellung tatsächlich auch Leben gerettet werden können.
Der Aufbau der elektronischen Patientenakte ist in Deutschland tatsächlich eine bittere Geschichte. Selbstverständlich muss der Datenschutz gewährleistet sein und es ist darauf zu achten, dass jeder Patient für sich entscheiden kann, ob er eine solche elektronische Patientenakte für sich nutzen möchte oder nicht. Sie kann jedoch enorme Vorteile für die Sicherheit, für die Gesundheitskompetenz und für die Selbstbestimmung des Patienten bringen. Dabei müssen wir zwischen den Daten unterscheiden, die ein Patient selbst generiert und jenen, die der Arzt oder das Krankenhaus beisteuert, einschließlich aller Röntgen- und sonstigen Aufnahmen sowie Arztbriefen und Befunden. Alle Daten können für den Patienten von außerordentlich hohem Wert sein.
Das aber – ein nächstes Thema – nach ökonomischen Grundprinzipien funktioniert. Wie kommen wir von der überbordenden Ökonomisierung der Medizin weg?
Darauf sind pauschale Antworten schwierig, doch führt uns die Antwort zurück auf das Patientenwohl als obersten Maßstab. Wenn eine konsequente Verankerung des Patientenwohls als leitender Maßstab in unserem Gesundheitswesen verankert ist, führt das im Gesamtsystem, aber auch in einzelnen Fachbereichen wie beispielsweise der Pädiatrie oder der Geriatrie dazu, dass einzelne Vergütungssysteme und auch Versorgungsstrukturen angepasst werden müssen.
Sie haben sicher diese beiden Disziplinen herausgestellt, weil sie quasi als Synonym für die sprechende Medizin stehen.
Unter anderem. Zum einen muss die sprechende Medizin ge-
stärkt werden, zum anderen aber auch die abwartende Medizin. Beide Ansätze dürfen nicht durch eine Erlösorientierung vernachlässigt werden. Es muss ökonomisch auch einträglich sein, wenn man nach vernünftigen Maßstäben auf den Einsatz von Technik oder Eingriffen verzichtet und stattdessen abwartet und beobachtet.
Damit also nicht länger Pay-per-Outcome oder Pay-per-Performance, sondern Pay-per-Patient‘s welfare?
Wenn es so etwas gäbe, gern – zumindest als regulative Idee. Wobei das individuelle Patientenwohl natürlich schwierig als Outcome zu operationalisieren ist.
Eine rhetorische Frage: Warum gibt es so viele Rettungswageneinsätze, die im Krankenhaus enden? Und gleich die Antwort: Weil nur dann ein Rettungswageneinsatz abgerechnet werden darf, wenn eine ärztliche Leistung im Krankenhaus dahintersteht.
Man kann Leistungserbringern nur begrenzt vorwerfen, wenn sie ihre Leistungserbringung nach wirtschaftlichen Kriterien ausrichten. Ich bin natürlich aus ethischer Sicht der Auffassung, dass sich ein Leistungserbringer primär am Patientenwohl orientieren und wirtschaftliche Erwägungen in den Hintergrund stellen muss. Gleichwohl kann das möglicherweise existenzgefährdend sein. Leider hat sich die Ökonomisierung auf eine Art und Weise durchgesetzt, die an einigen Stellen die Alarmglocken laut bimmeln lässt, so dass wir endlich unser Gesundheitssystem im Hinblick darauf überdenken müssen, wie eine patientenzentrierte Versorgung effizient strukturell verankert werden kann.
Steht dahinter nicht generell das Problem, dass in ein solidarisch orientiertes Grundsystem das Thema Wettbewerb eingebracht wurde?
Wettbewerb fördert Effizienz und Kreativität, dagegen ist nichts einzuwenden. Gleichwohl müssen Solidarität und Wettbewerb in einen Ausgleich gebracht werden, da es letztlich in ihrer Logik zwei widerstreitende Systeme sind. Ein Solidarsystem ist per se nicht darauf ausgerichtet, dass Berufsgruppen – etwa Ärzte oder Apotheker – oder Institutionen – z.B. Krankenhäuser oder Pharmaunternehmen – ihren Profit maximieren. Deswegen halte ich sehr viel von gemeinnützigen Einrichtungen, die gerne Aktiengesellschaften sein können – aber eben gemeinnützige. Damit kann das Erwirtschaftete in eine bessere Ausstattung und in innovative Versorgungsmodelle zurückfließen.
Sollte man aus ethischer Sicht den Wettbewerbsgedanken im quasi Markt Gesundheit zurückdrängen?
Man muss ihn zumindest klug einführen. Wettbewerb nach neoliberalem Verständnis hat in einem solidarisch finanzierten System keinen Platz. Ein Wettbewerb zur Effizienzgenerierung im Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft hingegen sehr wohl.
Dann müsste sich aber auch die Gesellschaft darauf besinnen, bestimmte Forschungsaufgaben selbst zu übernehmen. Man kann doch der Pharmaindustrie nicht vorwerfen, Gewinne abzuschöpfen, wenn sie vorher mit unbestimmter Aussicht auf Erfolg hohe Forschungsgelder investieren muss.
Einen gemeinsamen Weg zwischen öffentlicher und privatwirtschaftlicher Aktivität zu finden, ist hier wahrscheinlich am erfolgversprechendsten. Die Detailinteressen, sich in einem Wettbewerb zu positionieren, sind durchaus ehrenwert und in einer freien Gesellschaft selbstverständlich, gleichwohl müssen wir die systemischen Wirkungen bedenken. Wenn zum Beispiel die Erforschung von Medikamenten zur Behandlung seltener Erkrankungen zu kurz kommt, braucht es öffentliche Programme, um genau das zu tun. Man kann nun einmal die Verantwortung nicht in den privatwirtschaftlichen Bereich abschieben, wenn eine bestimmte Aufgabe erkennbar nicht einträglich sein kann. Wir können keine privatwirtschaftlichen Unternehmen dazu zwingen, zugrunde zu gehen, nur um irgendwelche öffentlichen Aufgaben zu erfüllen, die die Gesellschaft eigentlich selbst ermöglichen müsste. Hier kann man sich durchaus einige kooperative Modelle vorstellen, in denen gesellschaftliche Interessen mit effizient gestaltetem Fortschritt zusammengebracht werden können.
Eine andere Möglichkeit könn-ten doch auch Preisgestaltungs-Modelle sein.
Preisgestaltungs-Modelle werden schon seit langem angewendet und diskutiert. Auch hier müssen öffentliche und privatwirtschaftliche Interessen in Ausgleich miteinander gebracht werden. Wobei es durchaus verschiedene öffentliche Interessen gibt; wie dem Interesse, dass unsere Mittel im Gesundheitswesen effizient ausgegeben werden, sowie dem, dass Fortschritt stattfindet und Pharmaunternehmen auch in Zukunft gute Medikamente produzieren und Innovationen auf den Markt bringen können.
Welche Themen sind derzeit auf der europäischen Ebene für Sie wichtig?
Der Europäische Ethikrat hat von der EU-Kommission den Auftrag erhalten, eine Stellungnahme zur Geneditierung zu verfassen, die sowohl den menschlichen als auch den pflanzlichen und tierischen Bereich betrifft. Das wird eine thematisch sehr umfangreiche Stellungnahme, die vermutlich in der ersten Hälfte 2020 vorliegen wird.
Das ist durchaus ein enger Zeitrahmen für ein derart komplexes Thema.
Wir sind ja auch schon seit rund einem Jahr damit beschäftigt. Zudem haben wir bereits einen internationalen Round Table veranstaltet, zu dem Verbände, Interessensorganisationen, Stakeholder und NGOs geladen waren. Die haben uns viele gute Gedanken und Materialien an die Hand gegeben. Ohnehin ist das Thema aber so umfangreich, dass uns in Europa und auf der ganzen Welt die Diskussion über die nächsten Jahre begleiten wird. Dazu möchte der Europäische Ethikrat einen wertvollen Beitrag leisten.
Auf der europäischen Ebene interessiert auch die Digitalisierung. So hat der Europäische Ethikrat kürzlich eine Stellungnahme zur künstlichen Intelligenz verfasst, in der von einer „vertrauenswürdigen künstlichen Intelligenz“ die Rede ist.
Das war nicht der Europäische Ethikrat, sondern die High-Level Expert Group (AI HLEG1), die von „trustworthy AI“ gesprochen hat. Ich finde den Begriff schwierig, weil man keiner Technik an sich, sondern nur jemandem vertrauen kann, der moralisch Verantwortung übernehmen kann. Vertrauenswürdig können für mich nur die Menschen und die von ihnen geschaffenen Regeln und Institutionen sein, die die Anwendung künstlicher Intelligenz prägen. Die künstliche Intelligenz selbst kann hingegen nicht würdig sein, dass ihr vertraut wird.
Demnach falsch und schwierig formuliert.
Ja, eigentlich unsinnig. Gleichwohl hatte die High-Level Expert Group den Auftrag, ihre Empfehlungen auf der kurzen und grundsätzlichen Stellungnahme des Europäischen Ethikrates zu Robotik, künstlicher Intelligenz und „autonomen“ Systemen aufzubauen. Das ist auch teilweise gelungen.
Was halten Sie denn von den Key Requirements, die die High-Level Expert Group formuliert hat?
Die sieben zentralen Forderungen entsprechen dem, was der
Europäische Ethikrat schon gefordert hat. Für den Alltag entscheidend werden dann darauf aufbauend die Bewertungskriterien in der Assessment List. Ich persönlich halte das kanadische Algorithmic Impact Assessment2 für die praktische Umsetzung für einen guten Ansatz, aber der Vorschlag der High-Level Expert Group ist ja auch noch in der Diskussion mit Praxispartnern.
Was hat die High-Level Expert Group genau vorgeschlagen?
Sie hat in den Policy Recommendations eine risikoadaptierte Vor-gehensweise vorgeschlagen – ein Ansatz, den auch die deutsche Datenethikkommission empfiehlt. Es gibt hier aber einen wichtigen Unterschied. Beschrieben wird, dass bei unvertretbaren Risiken („unacceptable risks“) ein prinzipienbasiertes Vorgehen („principle-based precautionary approach“) gewählt und nach dem Vorsichtsprinzip vorgegangen werden soll. In dem risikobasierten Regulierungsmodell mit seinen fünf Stufen, das die Datenethikkommission vorgeschlagen hat, sind hingegen die unvertretbaren Risiken auf der fünften Stufe mit Verboten oder Teilverboten verknüpft – was schon aus dem Begriff „unvertretbar“ folgt. Die High-Level Expert Group sieht hingegen Verbote gar nicht vor, was ich persönlich für hochproblematisch halte. Wenn ich ein Schädigungspotenzial für unvertretbar halte, heißt das für mich: Eine Abwägung hat ergeben, dass die Schädigung im Verhältnis zum möglichen Nutzen so hoch ist, dass es nicht mehr vertretbar ist. Dann reicht es nicht, wenn man vorsichtig ist, sondern muss es dann eben unterlassen.
Schaden vom Patienten abwenden, ist das oberste Gebot des Mediziners.
Das ist nicht das oberste Gebot.
Sondern?
Bei jeder medizinischen Behandlung werden Schädigungen in Kauf genommen, weil der zu erzielende Nutzen für höher erachtet wird. Auch weiß jeder Mensch, der Medikamente nimmt, dass er damit automatisch auch das Risiko von Schädigungen eingeht. Gleiches gilt für jede Operation. Demnach geht es nicht darum, vor allem Schäden zu vermeiden, sondern darum Schäden, soweit es irgend möglich ist, zu vermeiden oder zu minimieren. Aber es ist nicht das oberste Gebot.
Dann ist die Nutzenabwägung das oberste Gebot.
Die Sorge für den Patienten gemeinsam mit der Förderung und Achtung seiner Selbstbestimmung. Wenn ein Arzt zu der Überzeugung kommt, dass eine bestimmte Therapie für den Patienten die beste ist, doch dieser – Einsichts- und Urteilsfähigkeit vorausgesetzt – diese Therapie aus welchen Gründen auch immer ablehnt, dann ist das zu respektieren.
Was ist mit der Patientenverfügung?
Die Patientenverfügung hat inzwischen durchaus einen hohen Stellenwert bekommen. Es gibt immer mehr Menschen, die sich mit Fragen der medizinischen Behandlung bei Einwilligungsunfähigkeit auseinandersetzen und eine Patientenverfügung haben. Ich persönlich glaube jedoch, dass man darüber hinaus eine umfassendere vor-ausschauende Planung („Advance Care Planning“3) braucht – gerade auch im Kontext von Pflegeheimen. Da reicht eine bloße Patientenverfügung meiner Meinung nach noch nicht vollständig aus.
Wie könnte so etwas aussehen?
Im „Advance Care Planning“ trifft das Pflegeheim mit den entsprechenden Ärzten, mit dem Rettungssystem und den Pflegenden entsprechende Vereinbarungen, die immer auf den einzelnen Menschen bezogen und auf seine individuellen Bedürfnisse und Wünsche abgestimmt sind. Zudem wird in den Kooperationen der Versorgenden vor Ort in einer gemeinsamen Vereinbarung verankert, wie der Willen des Patienten bestmöglich berücksichtigt werden kann. Dazu gehört dann auch die Patientenverfügung, aber nur als eines von mehreren Elementen. Idealerweise werden rechtzeitig Gespräche mit dem Patienten und gegebenenfalls seiner Familie oder Freunden geführt – je nachdem, wen der Patient zu seinem engeren sozialen Feld zählt und wen er gegebenenfalls auch bevollmächtigen möchte, seinen Willen zur Geltung zu bringen.
Sie sind auch Mitglied in der Expertengruppe Medizin und Standard, in der definiert werden soll, wann denn eine Behandlung gut ist.
Diese Expertengruppe haben Professor Katzenmeier vom Kölner Institut für Medizinrecht und ich gemeinsam ins Leben gerufen und geleitet. Es ging uns um das Spannungsverhältnis zwischen dem Begriff des medizinischen Standards im Haftungsrecht, im Sozialrecht, in der Ethik und in der Medizin. Dazu haben wir aus jeder dieser Disziplinen einen Wissenschaftler und einen Praxisvertreter eingeladen. Dann haben wir die Standardbegriffe nebeneinander gestellt und jeweils die fachspezifische Logik hinter dem Verständnis des Begriffs und seine normative Funktion bestimmt. So haben wir die Spannungen zwischen den Sichtweisen deutlich gemacht und Wege zu einem Ausgleich der Spannungen aufgezeigt.
Wann ist denn eine Behandlung oder Versorgung gut?
Wir Mediziner sagen natürlich, dass eine Behandlung dann „gut“ ist, wenn sie dem Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht und idealerweise das Beste für den Patienten erbringt. Ein Haftungsrechtler denkt ähnlich, weil für ihn die Behandlung dann „gut“ ist, wenn sie dem medizinischen Standard entspricht, der wiederum durch die Medizin festgelegt wird. Für das Sozialrecht kommt mit der Formulierung in § 12 „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich“ zum ersten Mal die Wirtschaftlichkeit ins Spiel. Für die Ethik hingegen ist „ein guter Standard“ das Beste, was für den Patienten unter gerechten Verhältnissen geleistet werden kann, womit auch hier ökonomische Aspekte letztlich schon berücksichtigt sind.
Dann kann der Patient selbst jedoch noch lange nicht entscheiden, ob die angeratene Therapie gut ist oder nicht. Deswegen gibt es die Zweitmeinung. Oder braucht es gar eine Drittmeinung in Zeiten, in denen das Vertrauen zu den Halbgöttern in Weiß schwindet?
Normalerweise sollte ein Patient seinem Arzt vertrauen können, dass dieser ihn nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnis behandelt. Wenn er den Eindruck hat, dass das nicht der Fall ist, oder aus anderen Gründen unsicher ist, hat er ein Recht auf eine Zweitmeinung. Er kann sich zudem an die unabhängige Patientenberatung wenden, sich mit den entsprechenden Leitlinien befassen, oder generell im Internet informieren, was allerdings seine eigenen Herausforderungen mit sich bringt.
Wäre das nicht eine Bringschuld des Systems, die Menschen zu befähigen, damit sie wissen, wie ein System funktioniert? Und dass ein Arzt trotz weißen Kittels nicht unbedingt das Beste für den Patienten macht, sondern womöglich auch auf sein Einkommen schaut?
Gesundheitskompetenz wird derzeit intensiv diskutiert und ihre Förderung ist ein wichtiges Anliegen. Dazu gehören die Motivation und Fähigkeit, adäquat mit Gesundheitsinformationen umgehen zu können und sich im Gesundheitssystem zurecht zu finden. Das beinhaltet aber auch die Verantwortung, das System so zu gestalten, dass man sich darin zurecht finden kann.
Gibt es aktuell Themen, die am Horizont der Ethik aufscheinen?
Da wäre die Thematik der sich auflösenden Grenzen zwischen Konzepten, die wir bisher immer für selbstverständlich gehalten haben. Wie etwa die Grenze zwischen Prävention und Therapie. Unser aktuelles Gesundheitssystem ist zum einen Teil therapieorientiert, zu einem anderen rehabilitationsorientiert, doch machen wir nur vorsichtige Schritte im Bereich der Prävention. Durch die Digitalisierung lösen sich die bisher nahezu strikt getrennten Bereiche von medizinischer Versorgung und allgemeiner Lebensführung auf, was ich vor dem Hintergrund eines biopsychosozialen Gesundheitsverständnisses auch für richtig halte. Doch müssen wir uns nun aus ethischer Sicht damit befassen, was das für die Verteilung von Verantwortung, für das Solidarsystem und ganz allgemein für das Selbstverständnis und die Lebensführung der Menschen bedeutet.
Wie etwa auch mit Disease Interception4?
Dazu gehört ganz sicher auch die Disease Interception im Sinne einer vorausschauenden Gesundheitsfürsorge, die sich mit den individuellen Risikokonstellationen befasst. Das Problem dabei ist, dass wir oft noch nicht wissen, welche Auswirkungen das auf den Menschen hat. Wir haben zum Beispiel bei ceres eine Studie zum Umgang mit Risikovorhersagen bei psychischen Erkrankungen durchgeführt. Hier gibt es zwei etwa gleich große Gruppen von Patienten: Die einen, die ihr Risikoprofil nicht wissen wollen, weil die Kenntnis ihre Selbstbestimmung beeinträchtigen würde, und die anderen, die sagen, dieses Wissen würde sie in ihrer Selbstbestimmung stärken.
Dazwischen gibt es nichts, oder?
Das heißt vor allem, dass die Diagnostik von Risikoprofilen nicht immer automatisch wünschenswert ist, sondern man sich mit jedem einzelnen Patienten auseinandersetzen muss, um mit ihm gemeinsam das für ihn geeignete Vorgehen zu finden.
Und wie wird in der Ethik bewertet?
Oft wird ein Vier-Prinzipien-Modell aus der amerikanischen Bioethik angewandt, das Wohltun (beneficence), Nicht Schaden (nonmaleficence), Autonomie und Gerechtigkeit umfasst. Ich verwende diesen Ansatz nicht, weil die Prinzipien in dieser Zusammenstellung so nicht weiterführen. Es ist die Grundlage der Ethik zu sagen: Es ist Gutes zu tun und Böses zu unterlassen. Hier Beneficence und Nonmaleficence als zwei Prinzipien neben (!) Autonomie und Gerechtigkeit auszuweisen, halte ich dementsprechend für verquer.
Was wäre denn für Sie sinnvoller?
Ich fände es sinnvoller, die ethisch hochrangigen Güter und Werte – über die Begriffe kann man natürlich streiten – in den Blick zu nehmen und zu analysieren, welche Strukturen und Handlungsweisen sich daraus ableiten lassen. Dabei muss immer die Würde und Freiheit des Menschen an oberster Stelle stehen. Weitere Güter und Werte können dann danach bewertet werden, welche Funktion sie für die Ermöglichung eines freien und als sinnvoll erlebten Lebens haben.
Sicherheit als ein Mittel, um Freiheit zu gewähren.
Sicherheit kann Freiheit stärken, man kann, wenn man es will, aber auch auf Sicherheit verzichten, um frei zu sein. Man kann etwa durchaus Abstriche bei der Sicherheit in Kauf nehmen, wenn sie durch ein umfassendes staatliches Überwachungssystem gewährleistet wird, das gleichzeitig ein freies Leben unmöglich macht. Andererseits sehe ich, dass es Menschen gibt, die für die Sicherheit eine persönliche Totalüberwachung durch den Staat nicht ablehnen, weil sie meinen, nur unter diesen Umständen gut leben zu können.
Das ist die Wahl jedes Einzelnen, oder wie der Kölner sagt: „Jeder Jeck is anders“.
Zumindest hat jeder – in Deutschland bis zu einer gewissen verfassungsrechtlichen Grenze – die Wahl. Diese Grenze aber ist wichtig, denn so kann sich beispielsweise niemand selbst versklaven, weil das gegen seine eigene Würde verstoßen würde. Die Grenzen der eigenen Selbstbestimmung sind grundsätzlich dort, wo die Würde verletzt oder in die Freiheit anderer eingegriffen wird. Generell gilt für mich: Die Würde als fundierendes Prinzip und letzter Maßstab, die Freiheit als oberstes Gut, und danach alle anderen Güter und Werte in ihrer Funktion, Freiheit und ein als sinnvoll empfundenes Leben überhaupt erst zu ermöglichen – oder zu fördern.
Könnten Sie ein Beispiel nennen, an dem man diese hierarchische Sichtweise erläutern kann?
Nehmen wir die Präimplantationsdiagnostik, also die genetische Untersuchung von Embryonen in vitro. Hier muss man als Erstes entscheiden, ob ein Embryo unter dem Würdeschutz steht oder nicht, wobei man schon an dieser Stelle durchaus unterschiedlicher Auffassung sein kann. Aus ethischer und auch aus rechtlicher Sicht ist das die grundlegende Entscheidung, die getroffen werden muss. In der zweiten sich daran anschließenden Entscheidung geht es um den Konflikt zwischen dem Schutz des Lebens des Embryos auf der einen, und dem Schutz der Gesundheit der Mutter auf der anderen Seite. Analog zu dem, was man bei der medizinischen Indikation zum Schwangerschaftsabbruch tut, stellt sich die Frage: Ist es erlaubt, dem Schutz der Gesundheit des entwickelteren Lebens der Frau Vorrang zu geben vor dem Schutz des Lebens eines Embryos im Stadium weniger Zellen?
Wie steht es denn um die Sterbehilfe bei schwerstkranken Menschen?
Aus ethischer Sicht hat die Selbstbestimmung Vorrang vor dem Lebenserhalt. Diese Abwägung ist aber sehr voraussetzungsreich.
Warum darf ein schwerstkranker Mensch das denn in Deutschland – abgesehen von historischen Gründen – nicht?
Der Deutsche Ethikrat hatte eine Stellungnahme im Rahmen der Diskussion zur organisierten Beihilfe zum Suizid verabschiedet. Darin wurde empfohlen, dass der Gesetzgeber besser ein umfassendes Suizidpräventionsgesetz erlassen solle als ausschließlich die geschäftsmäßig organisierte Suizidbeihilfe strafrechtlich zu verbieten. Das Ergebnis ist letztlich leider der neue Paragraf 217 geworden, wobei alle gespannt sind, was das Bundesverfassungsgericht dazu in Bälde sagen wird. Hier gilt es eine durchaus schwierige Balance zwischen der Autonomie des Menschen zu finden, der sich nach reiflicher Überlegung wegen allzu großen Leidens sein Leben nehmen möchte, und der Pflicht der Gesellschaft, Leben zu erhalten und auch einen noch vorhandenen Lebenswillen ernsthaft zu fördern. Zudem sollte meines Erachtens eine Gesellschaft nicht eine Suizidbeihilfe als gleichsam völlig normale Option anbieten und strukturell zur Verfügung stellen.
Ist es nicht ganz explizit die Aufgabe des Europäischen Ethikrates, dies immer und ständig einzufordern, wenn es angezeigt ist, auch zu ermahnen, und das auf nationaler wie europäischer Ebene?
Auf europäischer Ebene weniger, weil dieser Bereich in die Hoheit der Mitgliedstaaten fällt. Darum wird sich der Europäische Ethikrat angesichts von noch 28, bald 27 Mitgliedstaaten sicher nicht so schnell mit Themen wie der Sterbehilfe befassen. Auch ist die Landschaft innerhalb Europas angesichts unterschiedlicher kultureller, rechtlicher und geschichtlicher Hintergründe viel zu heterogen. Da kann es durchaus seine Berechtigung haben, dass bei solch schwierigen Themen unterschiedliche Regulierungen existieren.
Und in einem einzelnen Land wie Deutschland?
Hier sollte der Deutsche Ethikrat durchaus wachsam sein und seine Stimme erheben, falls es problematische gesellschaftliche Fehlentwicklungen geben sollte. Bei der Diskussion um die Suizidbeihilfe hat der Deutsche Ethikrat sich ja auch eingeschaltet und den Vorschlag eines Suizidpräventionsgesetzes eingebracht.
Das in das gesetzgeberische Vorhaben eingeflossen ist?
Leider nicht. Der Deutsche Ethikrat hatte sich mehrheitlich gegen eine strafrechtliche Regulierung wie im Paragrafen 217 gestellt.
Da zuckt man die Schultern und geht zum nächsten Thema über?
Der Ethikrat ist ein beratendes Gremium – das ist ja auch richtig so. Gleichwohl wäre ich ausgesprochen dankbar und froh, wenn das Bundesverfassungsgericht die damalige Stellungnahme in seinem Urteil berücksichtigen würde. Es gibt schon gute Gründe dafür, als Ethikrat einen langen Atem zu haben, denn manche Empfehlungen werden erst nach ein paar Jahren umgesetzt. So beispielsweise die Empfehlung zur anonymen Kindesabgabe, die erst vier Jahre später in das Gesetz zur vertraulichen Geburt eingeflossen ist.
Nach dem allgegenwärtigen Prinzip Hoffnung.
Ethische Fragestellungen sind meistens sehr langfristige Fragestellungen. Und gesellschaftliche Debatten dauern eben auch ihre Zeit. So hatte zum Beispiel der Nationale Ethikrat 2007 einvernehmlich die Widerspruchslösung bei der Organspende empfohlen; zu einer Zeit übrigens, in der es vollkommen undenkbar war, dieses Thema parlamentarisch zu diskutieren. Jetzt ist es soweit. Es gibt also gute Gründe, nicht zu verzweifeln, wenn Empfehlungen nicht unmittelbar aufgenommen werden. Das liegt aber auch darin begründet, dass ethische Fragen meist keine Fragen empirischer Evidenz sind, und es auch oft nicht die eine eindeutige und wahre Antwort auf eine ethische Frage gibt. So ist es für einen Ethiker in einer Beratungsaufgabe umso wichtiger, möglichst frühzeitig wichtige Fragestellungen zu erkennen, stetig die Diskussion zu beleben, ein öffentliches Bewusstsein für wichtige Themen zu fördern und gegebenenfalls Regulierungsvorschläge zu unterbreiten. Ethik behandelt nicht nur Grenzen oder Probleme, sondern will gerade auch Potenziale fördern und Fortschritt ermöglichen. So hat man aktuell bei der Arbeit in der Datenethikkommission gesehen, dass schon ein Teil der Empfehlungen von der Politik zügig in den Eckpunkten zur Datenstrategie der Bundesregierung aufgenommen wurden.
Frau Prof. Woopen, vielen Dank für das Gespräch. <<
Das Interview führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.
Literatur:
1: https://ec.europa.eu/digital-single-market/en/high-level-expert-group-artificial-intelligence
2: https://canada-ca.github.io/aia-eia-js/
3: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2880881/
4: https://www.monitor-versorgungsforschung.de/DI
Zitationshinweis:
Woopen, C., Stegmaier, P.: „Wir müssen das Patientenwohl gesetzlich verankern“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (01/20), S. 6-13; doi: 10.24945/MVF.01.20.1866-0533.2195