„Generalisierung auf den Einzelfall eines Klienten“
>> Die Generalisierung von Forschungsergebnissen ist nach Meinung von Prof. Dr. Johann Behrens, Professor für Soziologie, Sozialökonomie und Gesundheitswissenschaften am Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft in Halle, ein häufiges Problem empirischer Wissenschaften. Dabei zitierte er zu Beginn seines Vortrags sich selbst (und zwar seinen bereits 2005 erschienenen Artikel in der Fachzeitschrift „Soziale Welt“ zu „Natürlichkeit“ und „Generalisierbarkeit“ sozialwissenschaftlicher Feldexperimente: Verallgemeinerungen zu externer und interner Evidence“) und den Einladenden, Prof. Dr. Jürgen Windeler, dem Leiter des IQWiG, der drei Jahre später, 2008, im „Deutschen Ärzteblatt“ einen Artikel veröffentlich hatte, der die bis heute unbeantwortete Frage gestellt hatte: „Warum dann nicht alle Schwierigkeiten der Generalisierung (über unterschiedliche Kontexte und Ziele hinweg) vermeiden, indem wir die Untersuchungen nur an unserem jeweils einzigartigen Klienten durchführen?“
Doch „alles an sich auszuprobieren“, überstünde auch niemand, wie Behrens meinte, und dabei Husserl zitierte, der den Unterschied zwischen ‚Um-Zu-Kausalität“ und „Weil-Kausalität“ deutlich gemacht hätte: „Alltagsleben unterstellt Kausalität, wissenschaftliche Erfahrung verlangt Beweise.“ Generell sei bei jedweder Generalisierung, zu der Behrens zwei Stufen vorschlug, zu hinterfragen, ob die Theorie die Anwendung leitet, oder Anwendung die Theorie. Für kontemplative Wissenschaften reiche Stufe 1, die er „Generalisierung einer Erfahrung auf eine Population“ nennt. Doch für Handlungswissenschaften, zu der er Medizin, Pflege- und therapeutische Wissenschaften, aber auch die beratende Ökonomie, Regional-und Bildungswissenschaft zählt, sei die „Generalisierung auf den Einzelfall eines Klienten“ nötig.
Gegenstand der Handlungswissenschaften ist nach Behrens die zukunftsunsichere, aber vernünftige innovative Krisenentscheidung im jeweiligen einzigartigen Fall, und das nur zu oft „unter Handlungsdruck und Begründungszwang“ , aber immer gemeinsam mit den je einzigartigen Klienten. In diesem Kontext nennt er den seiner Ansicht nach „berühmtesten, gescheiterten“ Lösungsvorschlag, der da heißt und den er gleich mit zwei Fragezeichen versehen will: „Je natürlicher die Kontext-Bedingungen sind, umso leichter sind Ergebnisse von Feldexperimenten zu generalisieren, umso eher entspricht die interne der externen Validität??“ Laut Keuschnigg /Wolbring (2015) sollen, um die externe Validität zu erhöhen, in natürlichen Designs „wahrgenommene Kontextbedingungen trotz Eingreifen der Forschenden nicht von realweltlichen Gegebenheiten abweichen“. Nur dann seien Lee Cronbach (1982) folgend, (natürliche) Feldexperimente generalisierbar. Und zwar dann, „wenn Feldstudie und Zielkontext im UTOS übereinstimmen: Units für Probanden, Treatments für Interventionen, Observering für Operations und Beobachtungen und Messungen sowie Setting für Kontext. Doch cave: Weicht laut Behrens auch nur eine der vier Dimensionen vom Zielkontext ab, auf den man generalisieren will, so ist „diese Extrapolation nicht mehr vom Design selbst gedeckt“.
Das Problem dabei ist Behrens Worten zufolge, dass man „ohne neue Studie gar nicht erkennen“ könne, ob alle U,T,O,S in der Situation, auf die man verallgemeinern möchte, ähnlich sind, dies vor allem wegen des Problems unbeobachteter Heterogenität. Generell gelte: „Je spezifischer eine Studie die U,T,O,S erfasst, umso weniger ist zu erwarten, dass man die Ergebnisse auf eine andere Situation verallgemeinern kann.“ Daher sein Vorschlag, passend zum Standort des IQWiG in Köln: „Wir drehen die Fragerichtung um und beginnen bei der Kölner Weisheit, statt bei der Suche nach grenzenloser externer Validität.“ (Anm. Kölner Weisheit: „Jede Jeck ist anders.“)
Wenn aber jeder Jeck, sprich Patient, anders ist, welchen Sinn machen dann RCT? Behrens Antwort: „RCT bewältigen den Auswahl-Bias“. Doch keine RCT kompensiere die Wahl eines unpassenden individuellen Outcome-Indikators, Fehler bei der Erfassung einer Intervention oder gar Verzerrungen durch eine nicht bevölkerungsrepräsentative Grundgesamtheit. Seine neun Schlussfolgerungen dazu:
1) Jede Jeck is anders – in Teilhabezielen, Interpretanten, Wahrnehmungen, Ressourcen, Umwelten und Umgebungen
2) Interventionen sollen explizit jedem nach seinen Bedürfnissen gerecht werden und jeder hat sie nach seinen Fähigkeiten zu finanzieren.
3) RCT wurden gerade nicht für den Einzelfall, sondern für den Durchschnittsfall erfunden (RCT: Durchschnittliche Wirkung des gleichen Samens auf unterschiedlichen Böden)
4) Aufbau interner Evidenz ist unverzichtbar zur Nutzung externer Evidenz
5) Statt zentrale Entscheidungen über dezentrale Anwendungen dezentrale Entscheidungen mit zentralen Informationen über externe Evidenz
6) Eine grenzenlose externe Validität von Häu-figkeits-Ergebnissen ist ausgeschlossen. Aber: Durch Abstriche bei der internen Validität gewinnt man noch keine externe Validität.
7) Alles Handeln ist Entscheiden unter Unsicherheit und Ungewissheit. Das ist kein Grund, nicht zu handeln. „Nihil nocere“, „Risikovermeidung“, schadet oft.
8) Warranted assetabilities (John Dewey, C. Peirce): Eine Entwicklung kann dann vorläufig als evidenzbasiert kausal bewirkt gelten, wenn alle anderen Erklärungen und Verzerrungsmöglichkeiten mit „mixed methods“ ausgeschlossen wurden (vgl. Carlo Ginzburgs „Indizienwissenschaft“
9) „Wer sich nicht an Standards hält, wird sich verantworten müssen“ ist falsch: Auch wer sich an Standards hält, wird sich dafür verantworten müssen, dass ein Standard für seinen Klienten zutraf.
„Wenn Daten bei Erwachsenen verfügbar werden, können Bayesianische Verfahren, die auf der Posteriorverteilung der Effekte bei Erwachsenen beruhen, angewandt werden, um das geplante pädiatrische Entwicklungsprogramm anzupassen.“
Prof. Dr. Martin Posch, Professor für Medizinische Statistik an der Universität Wien
„Unterschiede in Körperzusammensetzung und Reifezustand der Organe können in der Regel nicht durch Gewichtsadaptation der Arzneimitteldosis kompensiert werden. Den Dosisbedarf vorauszusagen bedarf daher kontrollierter Studien in der entsprechenden Alters-oder Entwicklungsgruppe. Darüber hinaus werden Therapieschemata von möglichst kurzer Dauer und mit langen
Dosierungsintervallen benötigt.“
Dr. Edith Pfenning, Abteilungsleiterin Methodenbewertung und veranlasste Leistungen des G-BA
„Der Einsatz von pharmakokinetischen und pharmakodynamischen Modellen, insbesondere von Populationsverfahren und Physiologie-basierten Verfahren eröffnen für die heterogenen kleinen pädiatrischen Patientengruppen mit ihren hohen ethischen Anforderungen geeignete Möglichkeiten zur kindgerechten Durchführung von klinischen Studien und zum notwendigen Erkenntnisgewinn für eine kindgerechte Dosierung.“
Prof. Dr. med. Stephanie Läer, Institut für Klinische Pharmazie und Pharmakotherapie der
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
„Extrapolation of data is already an established scientific and regulatory principle that has been exercised for many years, for example, in the case of major changes in the manufacturing process of originator biologicals. In such cases, clinical data are typically generated in one indication and, taking into account the overall information gained from the comparability exercise, may then be extrapolated to the other indications.“
Dr. Martina Weise, BfArM, Bonn
„Es gibt tragfähige Methoden kontextuelle Aspekte bei der Übertragung von Evidenz zu berücksichtigen.“
Prof. Dr. med. Ansgar Gerhardus, M.A., MPH, Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen
Zitationshinweis : Stegmaier, P.: „Generalisierung auf den Einzelfall eines Klienten“, in „Monitor Ver-sorgungsforschung“ (01/18), S. 24-25; doi: 10.24945/MVF.01.18.1866-0533.2059