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Patientenorientierung in Pharmaunternehmen

06.12.2017 10:20
Zunächst hilft die Wiederholung einer Selbstverständlichkeit: Das Gesundheitswesen ist für die Bürger da, insbesondere soweit sie Patienten sind, und nicht umgekehrt. Patientenzentrierung ist somit die konsequente Ausrichtung aller Akteure und ihrer Leistungen/Beiträge sowie Prozesse an den Bedürfnissen von Patienten und Patientinnen1. Es kann nicht verkannt werden, dass der Begriff der Patientenzentrierung durch eine inflationäre Verwendung entwertet wurde. Die Autoren dieses Beitrages bevorzugen daher den Begriff der Patientenorientierung. Diese ist der Weg zu einem Gesundheitswesen, das tatsächlich seine Leistungen, einschließlich der Arzneimittelversorgung, an den Bedürfnissen der Patienten ausrichtet und einen zielgerichteten und leichten Zugang zu diesen Leistungen für die Patienten ermöglicht. Der Begriff wird auch in der Literatur heterogen interpretiert.

http://doi.org/10.24945/MVF.01.18.1866-0533.2066

Abstract

Patientenorientierung ist der Weg hin zu einem patientenzentrierten Gesundheitswesen, das die Bedürfnisse von Patienten in den Mittelpunkt stellt. Sie ist eine von Zulassungsbehörden, Erstattungsinstitutionen und nicht zuletzt von den Patienten selbst geforderte Markterfordernis. Auf der Ebene des pharmazeutischen Unternehmers hat Patientenorientierung fünf Dimensionen: (i) Strategie und Organisation, (ii) Forschung bzw. Portfoliomanagement, (iii) Entwicklung und Marktzugang, (iv) Leistungen und Servicedesign sowie (v) transparente und respektvolle Kommunikation. Die systematische Einbeziehung von Patientenexpertise in alle diese Dimensionen bedeutet einen Paradigmenwechsel. Sie muss systematisch und regelmäßig erfolgen und kann in unterschiedlichen Formen geschehen. Eine Umfrage unter Mitgliedsunternehmen des Bundesverbands der pharmazeutischen Industrie (BPI) e.V. hat ergeben, dass für die meisten Unternehmen der Gewinn von Erkenntnissen über die Bedürfnisse der Patienten und die Optimierung ihrer Produkte bzw. Leistungen im Vordergrund der Patientenarbeit stehen. Bisher haben bereits 30 % der Unternehmen einen „Patient Officer“ (oder ähnliche Bezeichnung). Dieser wird als erforderlich angesehen, um eine nachhaltige Patientenorientierung im Unternehmen zu bewirken. Echte Patientenorientierung kann nur gelingen, wenn sie kein „Beiwerk“ darstellt, sondern als unabdingbare Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg gelebt wird.

Patient-orientation in pharmaceutical companies: contradiction or prerequisite for innovation and economical success?
Patient-orientation is the path towards a patient-centered health-care system that puts the needs of patients in the center of its entire activities. Regulators, pricing & reimbursement authorities and last but not least the patients themselves make patient-orientation a key success factor in the marketplace. At the level of pharmaceutical companies, patient-orientation has five dimensions: (i) strategy and organization, (ii) research and portfolio-management, (iii) development and market-access, (iv) services and service-design and (v) respectful and transparent communication. Including patient expertise in all of these dimensions reflects a paradigm-change. It must be both systematic and continuously and can be realized by various approaches. A survey amongst the membership of the German pharmaceutical industry association BPI revealed that for most of the companies gaining insights into the needs of patients and the optimization of their products/services is of utmost importance to them. Still, only 30% of the PC reported to have a special patient-liaison function in place. Such function was seen as instrumental to make patient-orientation work and translate into sustainable operation. True patient-orientation can only be translated into practice if not seen as a “nice-to-have“-feature but taken seriously as a prerequisite for future success in business.

Keywords
patient-orientation, patient-centricity, survey, patient-liaison, competitiveness, independence, transparency, patient-needs

Dr. phil. nat. Andreas L.G. Reimann, MBA - Philipp von Gallwitz - Laura Harzheim, MSc. - Katharina Kolbe, MSc - Ulrike Nowak, B.Sc.- Dr. rer. oec Katja Gehrke

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Zitationshinweis: Reimann et al.: „Patientenorientierung in Pharmaunternehmen“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (01/18), S. 58-65; http://doi.org/10.24945/MVF.01.18.1866-0533.2066

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Plain-Text:

Patientenorientierung in Pharmaunternehmen - Widerspruch oder Bedingung für Innovation und ökonomischen Erfolg?

Zunächst hilft die Wiederholung einer Selbstverständlichkeit: Das Gesundheitswesen ist für die Bürger da, insbesondere soweit sie Patienten sind, und nicht umgekehrt. Patientenzentrierung ist somit die konsequente Ausrichtung aller Akteure und ihrer Leistungen/Beiträge sowie Prozesse an den Bedürfnissen von Patienten und Patientinnen1. Es kann nicht verkannt werden, dass der Begriff der Patientenzentrierung durch eine inflationäre Verwendung entwertet wurde. Die Autoren dieses Beitrages bevorzugen daher den Begriff der Patientenorientierung. Diese ist der Weg zu einem Gesundheitswesen, das tatsächlich seine Leistungen, einschließlich der Arzneimittelversorgung, an den Bedürfnissen der Patienten ausrichtet und einen zielgerichteten und leichten Zugang zu diesen Leistungen für die Patienten ermöglicht. Der Begriff wird auch in der Literatur heterogen interpretiert.

>> Die Grundlage einer patientenorientierten Gesundheitsversorgung ist das Empowerment, die Selbstbefähigung, welche Menschen „zur Entdeckung eigener Stärken ermutigen und ihnen Hilfestellung bei der Aneignung von Selbstbestimmung und Lebensautonomie“ vermitteln soll (Herringer 2016). Eng an dieses Konzept ist das Shared Decision Making geknüpft, bei dem Patient und Arzt auf Basis der verfügbaren kollektiven und auch patientenindividuellen Evidenz gemeinsam eine Entscheidung treffen (Elwyn et al. 2010). Mit Patient-Centredness ist eine Ausrichtung auf die Entscheidung des Patienten gemeint, in der die Patientenbedürfnisse vor die Sichtweise des Leistungserbringers gestellt werden (Charles & Bardes 2012). Das umfassendste Konzept ist die Patient-Centricity. Hierbei steht der Patient im Zentrum des Denkens und Handelns der Akteure des Gesundheitswesens und die gesundheitliche Versorgung wird aus seiner Sicht gedacht und umgesetzt (Robbins et al. 2013). Der Patient kann innerhalb eines dynamischen Prozesses entscheiden, welche Informationen, wie z. B. medizinische Informationen, persönliche Präferenzen, Werte oder Ansichten, er preisgeben möchte. Die genannten Konzepte basieren aufeinander, wobei ein Patient-Empowerment die Basis für die weitere Patientenzentrierung darstellt. Jedoch sind nicht alle Patienten in vergleichbarem Umfang zu einem Empowerment fähig und es kann deshalb erschwert werden, den Patienten in den Versorgungsprozess und die Therapieentscheidung einzubeziehen. Immer wieder wird gefordert, dass Patienten über eine Health Literacy verfügen sollen, die sie in die Lage versetzt, angebotene Informationen auch einzuordnen (Gaissmaier 2011). Der Zugang zu valider Gesundheitsinformation und die Fähigkeit, diese effektiv zu nutzen, sind nach dieser Definition die Grundlage des Patient-Empowerment. Dessen Erfolg ist jedoch abhängig von den Ressourcen des Patienten, da dieser als Koproduzent seiner eigenen Gesundheit einen maßgeblichen Faktor darstellt. Von Bedeutung ist dies insbesondere deshalb, weil die Erkrankung eines Patienten seine kognitiven und sozialen Fähigkeiten stark einschränken oder reduzieren kann. Tatsächliches Empowerment auf Patientenebene muss daher inklusiv sein, d. h. der Patient muss im Rahmen seiner Möglichkeiten und in der für ihn geeigneten Weise ermächtigt werden, selbstständige Entscheidungen zu treffen.
Mit der zunehmenden Digitalisierung des Lebens erfahren Patienten neue Möglichkeiten der Partizipation. Sie sind keinesfalls mehr nur Empfänger von Informationen, vielmehr können sie gezielter Angebote selbst vergleichen, auswählen und auch ihrerseits strukturierte Informationen, beispielsweise über ihren Gesundheitsstatus oder ihre Präferenzen, mitteilen. So können neuartige, mehr an der Realität der Patienten ausgerichtete Daten (z. B. Patient-Reported-Outcomes) in den Evidenzkörper eines Arzneimittels integriert werden. Auf diese Weise verändert sich vollständig die Rolle der Patienten vom Behandelten zum Selbst-Handelnden. Die Digitalisierung ist der wesentliche Treiber eines Paradigmenwechsels im Gesundheitswesen.
Über die individuelle Patienten-Arzt-Beziehung hinaus verlangt Patientenorientierung den Einbezug von Patientenperspektiven auch auf gesundheitssystemischer Ebene. Schon deshalb ist die pharmazeutische Industrie hierbei gefragt. Ein breit akzeptiertes Konzept für einen systematischen Patienteneinbezug gibt es in der pharmazeutischen Industrie bislang jedoch nicht (Hoos et al. 2015). Dass aber Patientenorientierung in allen Phasen von der Forschung, über die Produkt-Entwicklung bis zur Vermarktung nicht nur ein bloßes Lippenbekenntnis darstellen darf, sondern vielmehr eine Voraussetzung für ökonomischen Erfolg in der Zukunft sein wird, ist bei pharmazeutischen Unternehmen, letztlich jedoch auch bei Ärzten und anderen Leistungserbringern und bei den Krankenkassen, akzeptiert. Damit ist nicht die alleinige Einbeziehung von Patientendaten im Entwicklungsprozess (z. B. bei klinischen Studien) oder in der Vermarktungsphase (z. B. bei der Pharmakovigilanz) gemeint, denn Patientendaten garantieren noch keine Orientierung an den für den Patienten relevanten Bedürfnissen. Vielmehr lässt sich der Grad der Innovation eines Produktes am Patientennutzen messen. Und dieser wiederum kann nur bestimmt werden, wenn tatsächliche Probleme der Patienten erkannt und geeignete Ansätze zu deren Lösung auch angeboten werden. Patientenorientierung geschieht nicht von alleine. Sie bedarf der Organisation und Umstrukturierung von Prozessen im Gesundheitssystem und bei den Unternehmen selbst. Die Einbeziehung von Patientenperspektiven kann auf verschiedene Weisen erfolgen, die sich gegenseitig nicht ausschließen, sondern ergänzen: Zum einen können kollektive Präferenzen und Patientensichtweisen quantitativ und qualitativ systematisch erfasst und in den Forschungs- und Entwicklungsprozess bzw. in die Patientenkommunikation eingesteuert werden. Zum Zweiten kann Patientenexpertise in Form von Patient-Advisory-Boards oder Expertise-Panels regelmäßig in Form eines Co-Creation Prozesses abgerufen und zum beiderseitigen Nutzen zugänglich gemacht werden. Dabei ist es wichtig, tatsächlich Betroffene (dies schließt auch stets Angehörige mit ein) wesentlich zu Wort kommen zu lassen. Drittens ist auch der Dialog mit der verfassten Selbsthilfe und deren Einbezug, sehr sinnvoll und erforderlich.

Systemperspektive
Das Konzept der Patientenorientierung gewinnt sukzessive auf sämtlichen Ebenen an Konkretheit. Systemische (Re-) Strukturierungen, durch den Ausbau des Mitspracherechts von Patienten bei maßgeblichen Entscheidungen, auf gesetzlicher und regulatorischer Ebene, bedeuten potenziell bereits ein Mehr an Patientenorientierung im Gesundheitswesen. Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) wurde in Deutschland 2004 eine institutionalisierte Form der Patientenbeteiligung eingeführt, wodurch Patientenvertretern Informations-, Anhörungs-, Antrags- und Mitberatungsrechte an der untergesetzlichen Normgebung der Selbstverwaltung im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) eingeräumt wurden. Die Patienten nehmen damit an Entscheidungen teil, die sich direkt auf die Versorgungsstrukturen, -prozesse und die -qualität auswirken. Ob diese Form der Patientenbeteiligung ausreichend ist oder ob sie modifiziert werden muss, beispielsweise durch die Einführung eines eigenen Stimmrechts für Patientenvertreter, ist Gegenstand der laufenden gesundheitspolitischen Diskussion. Hierfür werden auch Vergleiche mit anderen europäischen Staaten und mit der Patientenbeteiligung in Institutionen der Europäischen Union, so z. B. der European Medicines Agency, herangezogen werden müssen. Sowohl auf der Ebene der Zulassung neuer Arzneimittel als auch bei Entscheidungen über Kosten/Nutzen-Bewertungen und Erstattungen wird in Europa, den USA, Kanada und Australien nicht mehr nur die Einbeziehung von Patientenvertretern praktiziert, sondern der für den Patienten relevante Nutzen explizit als wesentliches Entscheidungskriterium herangezogen.
Ein patientenorientiertes Gesundheitswesen ist volkswirtschaftlich erforderlich, um eine effiziente Ressourcenallokation sicherzustellen (Porter 2013).
Schwerpunkt des vorliegenden Beitrags ist jedoch nicht diese institutionelle, makroökonomische Perspektive, sondern die Betrachtung der Rolle der Patientenorientierung für pharmazeutische Unternehmer auf mikroökonomischer Ebene.

Akademische Perspektive
Die Versorgungsforschung berücksichtigt zunehmend die Perspektive von Patienten bei der Evaluation von Versorgungsleistungen. Gegenstand der Diskussion ist, wie valide patientenrelevante Kriterien bei der Bewertung von Gesundheitsleistungen herangezogen werden können, mit denen die unterschiedlichen Bedürfnisse verschiedener Patientengruppen abgebildet werden. Eine alleinig auf klinischen fremdberichteten, sogenannten „objektiven“ Parametern beruhende Gesundheitstechnologiebewertung wird zunehmend in Frage gestellt. Gerade Patientenvertreter fordern eine methodische Erweiterung, die den Präferenzen und Bedürfnissen, die von den Patienten selbst berichtet werden, mehr Raum gibt und der Versorgungsrealität besser gerecht wird. Methodische Ansätze werden derzeit nicht mehr nur rein wissenschaftlich diskutiert, sondern finden sich bereits in der praktischen Erprobung.
Dimensionen der Patientenorientierung im
pharmazeutischen Unternehmen
Patienteneinbezug auf allen Ebenen – nicht nur in der Kommunikation
Häufig wird unter „Patientenarbeit“ im Zusammenhang mit pharmazeutischen Unternehmen ausschließlich die Kommunikation mit einzelnen Patienten sowie mit der verfassten Selbsthilfe, also den Patientenorganisationen, den Selbsthilfeorganisationen und/oder den Selbsthilfegruppen, verstanden. Diese ist oft Gegenstand umfassender medialer und politischer Aufmerksamkeit. Patientenorientierung im Unternehmen ist jedoch deutlich umfassender zu verstehen, nämlich die Ausrichtung des Unternehmens an den Bedürfnissen von Patienten. Unter keinen Umständen darf der Patient als Zielgruppe des Marketings missverstanden – oder angesprochen – werden.
Es bedarf vielmehr einer grundlegenden kulturellen Umorientierung im Unternehmen. Diese kann nur gelingen, wenn Patienten tatsächlich – wie andere Experten auch – bei wesentlichen Entscheidungen angehört und einbezogen werden und ihre Sichtweise eine Chance hat, beispielsweise bei Forschungsansätzen und dem Design von klinischen Studien einbezogen zu werden. Dazu genügt es nicht, punktuell „Patientenarbeit“ durchzuführen, vielmehr ist ein holistischer Ansatz erforderlich, der eine systematische Einbindung der Patientenperspektive ermöglicht. Patientenorientierung im pharmazeutischen Unternehmen hat daher im Wesentlichen fünf Dimensionen (Abb.1).

Strategie & Organisation
Die Patientenperspektive muss bereits bei der Strategie und der Organisation des Unternehmens eingenommen werden. Welche Patientenbedürfnisse sollen mit welchen Produkten oder Dienstleistungen befriedigt werden und in welcher Form können und werden in allen Stadien der Entwicklung und Vermarktung Patienten einbezogen? Diese grundlegende Führungsaufgabe muss dann auch in der Organisation und im Zielsystem (Key Performance Indi-
cators) abgebildet werden. Sie zieht sich durch die gesamte Wertschöpfungskette von der Forschung bzw. dem Portfoliomanagement über die Entwicklung und dem Marktzugang bis hin zur Vermarktung. Sie erfordert nicht zuletzt ein durchgehendes Patient-Engagement-Management, das sich als Verantwortlicher der Patientenorientierung versteht (Abb. 2).

Forschung und Portfoliomanagement
Es ist wesentlich für die Unternehmensziele und den Fokus bereits frühzeitig Patientenbedürfnisse zu kennen, potenziellen Nutzen zu identifizieren und entsprechende Lösungen für diagnostische und therapeutische Probleme bereitzustellen. Hierzu gehört insbesondere die Festlegung, auf welche Erkrankungen sich das Unternehmen fokussiert und mit welchen Zielen (z. B. kurativ, symptomatisch, adjuvant). Dies gilt dann auch für Entscheidungen zur Wertoptimierung des Produktportfolios, bspw. bei Ein- bzw. Auslizensierungen. Portfolioentscheidungen müssen sich der kritischen Frage stellen, in welchem Umfang die betroffenen Arzneimittel eine Lösung zu einem konkreten patientenrelevanten Problem in der Zukunft darstellen. Dies gilt nicht nur unter dem Aspekt einer zweckmäßigen Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln, sondern gerade auch unter betriebswirtschaftlichen Aspekten. Zunehmend wird nämlich patientenrelevante Evidenz entscheidend für das Preisniveau eines neuen Arzneimittels. Für einige Unternehmen ist dies noch ungewöhnlich: Bereits zu Beginn ist ein systematischer Einbezug der Patientenperspektive äußerst sinnvoll, denn es ist nahezu unmöglich, später einen patientenrelevanten Nutzen zu zeigen, wenn bereits die grundlegende Produktkonzeption an den eigentlichen Problemen der Patienten vorbeigeht. Insbesondere können Patienten aber auch als Innovatoren selbst wichtige Impulse geben (s. u.).

Produktentwicklung und Marktzugang
Die Patientenbeteiligung ist insbesondere bei der Arzneiformenentwicklung, dem Design und der Durchführung der klinischen Prüfungen sowie in der Phase der Zulassung und der Nutzenbewertung von größter Bedeutung. Teilweise ist sie sogar bereits Teil des Marktzugangsverfahrens (z. B. Usability-Tests bei Drug/Device-Kombinationen). Nicht zuletzt ist die Darstellung eines patientenrelevanten Nutzens im Bewertungsverfahren, so bei der Frühen Nutzenbewertung gem. § 35a SGB V, in Deutschland Voraussetzung für einen späteren Markterfolg. Ist der Nachweis des Zusatznutzens bereits von vorneherein „vom Patienten her“ konzipiert und durchgeführt, wird nicht zuletzt auch für Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss, die Argumentation zugunsten einer echten Innovation gestärkt. Wichtig ist hier die Einbeziehung von persönlich betroffenen Menschen als Patienten oder als Angehörige, um auch jene Nutzendimensionen zu berücksichtigen, die zurzeit noch nicht ausreichend Eingang finden. Dies gilt beispielsweise für orale Liquida als Neuformulierung von bislang nur in festen Darreichungsformen verfügbaren Arzneimitteln bei Erkrankungen, die mit starken Schluckbeschwerden einhergehen.
Die weite Verbreitung von mobilen Endgeräten bei Patienten bietet die Chance, patientenberichtete Outcome Kriterien (PRO) zu identifizieren und realitätsnah zu erfassen. Diese können sowohl in herkömmlichen Studiensettings, insbesondere randomisierten kontrollierten Studien (RCT), aber auch in „Real-World-Settings“ erhoben werden. Auf diese Weise kann der Evidenzkörper gerade dann gestärkt werden, wenn Produktmodifikationen, z.B. Änderungen der Darreichungsform oder der Applikationsfrequenz oder die fixe Kombination von Arzneimitteln bei komplexer Pharmakotherapie, einen Einfluss auf die langfristige Therapieadhärenz und auf den langfristigen Outcome haben, dies aber bislang nicht praktikabel belegt werden konnte. Hierbei sind die einschlägigen Datenschutzbestimmungen personenbezogener Daten selbstverständlich zu beachten. Anonymisierte Daten zur Wirkung von Therapien und zu Krankheitsverläufen ebenso wie zu Patientenpräferenzen bieten eine Chance, Therapien zu optimieren und auf einzelne Patientengruppen zuzuschneiden. Darüber hinaus sind sie die Grundlage für die Erforschung und Entwicklung neuer Diagnoseverfahren und Arzneimittel. Wichtig ist es in diesem Zusammenhang, Patienten zukünftig viel früher in Studien einzubeziehen. Beispiele zeigen, dass dies schon bei der Fragestellung und dem Design der Studien gelingen kann (Nourissier 2015; Reimann 2015). Ein für Patienten akzeptables Design einer Studie ist nicht nur für die Aussagekraft der Studie, sondern auch für die Rekrutierungsgeschwindigkeit, den protokollgerechten Verbleib in der Studie und letztlich damit für die Zeit bis zum Markteintritt, bedeutsam.

Services und Servicedesign
Immer mehr pharmazeutische Unternehmer erkennen, dass es zusätzlich zur „Hardware“ des Produktes selbst erforderlich ist, Leistungen rund um das Arzneimittel anzubieten, um damit seine Anwendung sicherer, effektiver und patientenfreundlicher zu gestalten. Dies kann von reinen Informationen zur Erkrankung, über Hilfestellungen bei der Bewältigung von krankheitsbedingten Einschränkungen bis hin zu Patient-Support-Programmen gehen, welche die Anwendung des Arzneimittels durch Dritte, z. B. Heimtherapiedienstleister, unterstützen. Auch medizintechnische Zusatzprodukte, die gegen Entgelt angeboten werden, können zu diesen Leistungen gehören, welche oft unter dem Trendwort „beyond-the-pill services“ zusammengefasst werden. Gemeinsam ist diesen Leistungen, dass sie nur dann einen Patientenimpact haben werden, wenn sie Lösungen für reale Probleme darstellen. Dies kann erreicht werden, wenn zuvor eine eingehende Auseinandersetzung mit den Patientenbedürfnissen im Zusammenhang mit dem Arzneimittel stattgefunden hat. Hierzu ist eine gute Kenntnis der Patientjourneys (Behandlungspfade) sowie verschiedener Patiententypologien erforderlich. All dies kann nicht an Patienten vorbei, sondern nur zusammen mit Patienten systematisch erarbeitet werden.
Kommunikation
Die Kommunikation mit Patienten ist für Unternehmen eine große Chance, nicht etwa nur, um Informationen weiterzugeben, sondern auch, um wichtige Informationen zu erhalten. Dabei ist zwischen der Kommunikation mit einzelnen Patienten bzw. Angehörigen und der Kommunikation mit Patientenorganisationen zu unterscheiden (Abb. 3). Der Dialog sollte „auf Augenhöhe“ geführt werden, hierzu gehören gegenseitiger Respekt, die Bereitschaft zum Zuhören und die ehrliche Beteiligung der Patienten in allen Phasen der Wertschöpfungskette. Dabei dürfen nicht die besonderen Herausforderungen übersehen werden: es ist nicht einfach, Patientenexpertise richtig einzuordnen. Handelt es sich um generalisierbare Aussagen oder sind es punktuelle Sichtweisen? Sind die geäußerten Auffassungen repräsentativ für eine bestimmte Patientengruppe oder eher anekdotisch? Ist der Dialog fair und ausbalanciert oder bietet er Ansatzpunkte für eine Gefährdung der Reputation des Unternehmens und der beteiligten Patienten? Für diese Herausforderungen gibt es jedoch Lösungen. Gerade durch einen richtigen Mix verschiedener Ansätze, z.B. dem Gespräch mit der verfassten Selbsthilfe, systematischen Befragungen, e-Patientpanels, Patient-Advisory-Boards, Social-Media-Analysen etc., kann es gelingen, eine vielfältige und doch systematische Sicht der Patienten zu gewinnen und relevanten, „harten“, Input für das eigene Unternehmen zu erhalten.
Pharmazeutische Unternehmer können so – allerdings in Kooperation mit anderen Stakeholdern, insbesondere Patientenorganisationen – einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass Patienten qualitätsgesicherte, zuverlässige und validierte Informationen über einen möglichst barrierefreien, niedrigschwelligen Zugang erhalten.
Umsetzung von Patientenorientierung beim
pharmazeutischen Unternehmen
Ergebnisse einer Umfrage bei BPI-Mitgliedern
Eine im Januar und Februar 2016 durchgeführte Umfrage bei Mitgliedsunternehmen des Bundesverbands der pharmazeutischen Industrie (BPI) e.V. befasste sich mit der Umsetzung und Verankerung von patientenorientierten Maßnahmen im Unternehmen.
Teilgenommen haben 27 Teilnehmer. Als Motiv für die Einrichtung einer speziellen Funktion für Patientenbelange im Unternehmen stand an erster Stelle die Optimierung der Produkte und Dienstleistungen (1,60 ± 0,82). Dagegen war das Absatzinteresse (durchschnittlicher Rang 2,56 ± 1,00) oder auch die Steigerung des Ansehens (2,44 ± 1,00) nur nachrangig. Vorrangig war ferner die Verbesserung der Kommunikation mit Patienten und Selbsthilfe (1,68 ± 0,80) Hierzu passt, dass die Gewinnung von Erkenntnissen über die Bedürfnisse von Patienten in der Wichtigkeit weit vor anderen Themen rangiert (1,40 ± 0,68), denen sich spezielle Patientenfunktionen im Unternehmen widmen sollten. Bei dieser intensiveren Patientenkommunikation möchten Unternehmen sowohl einzelne Patienten aber auch Patientenorganisationen bzw. Gruppen von Patienten ansprechen. Bisher nutzen Unternehmen hierfür vorwiegend die Wege der Online-Kommunikation sowie Broschüren und Informationskataloge und auch den persönlichen, individuellen Kontakt zu Patienten. Weniger etabliert sind Patientenprogramme oder Veranstaltungen bei denen Unternehmen sich systematisch und regelmäßig direkt mit Patienten austauschen.
Auffällig ist angesichts der hohen Bedeutung, die der Patienten-arbeit in Zukunft beigemessen wird, dass zum Zeitpunkt der Befragung 70 % der teilnehmenden Unternehmen noch keine gesonderte Funktion („Patientenbeauftragter“, „Patient Officer“, „Patient Manager“ o.ä.) benannt hatten, welche sich ausschließlich oder schwerpunktmäßig mit Patientenbelangen im und außerhalb des Unternehmens befasst. Bei den übrigen Unternehmen ist eine solche Position bereits etabliert worden. Hierbei handelt es sich überwiegend um kurz zurückliegende Entwicklungen (Abb. 4).
Die Position der Patientenfunktion ist sehr unterschiedlich im Organigramm verankert: Zu etwa gleichen Teilen ist sie direkt der Geschäftsführung, den Bereichen Public Affairs, Corporate Affairs oder dem Market Access zugeordnet. Nicht genannt wurde das Marketing. Dieses gilt bei vielen Unternehmen als wenig geeignet, glaubwürdig Patientenbelange im Unternehmen mit zu vertreten. In vielen Unternehmen wird bewusst eine klare Trennung zwischen dem Zugang zu Patienten und Funktionen der Vermarktung von Arzneimitteln verfolgt.
Die vom BPI gemeinsam mit „admedicum“ durchgeführte Befragung zeigt, dass die Grundsteine für eine verstärkte Patientenorientierung in einigen Unternehmen der pharmazeutischen Industrie bereits gelegt wurden. Auf dem Weg zu ihrer glaubhaften und nachhaltigen Umsetzung ist noch Potenzial. Hier stehen viele Unternehmen noch eher am Anfang oder sind auf dem Weg, das Thema Patientenorientierung künftig anzugehen. Patientenarbeit muss aktiv und kontinuierlich praktiziert werden, um Patientenbedürfnisse zielführend zu identifizieren und langfristig erfolgreich zu befriedigen. Voraussetzung für die konsequente Umsetzung von Patientenorientierung ist die Übernahme dieses Leitbildes in die Unternehmenskultur, in Prozesse, Ziele und personelle Strukturen. Es bedarf einer verbindlichen Verantwortung in Unternehmen für die bedeutsame Arbeit der Patientenorientierung. Patient-Engagement-Manager bzw. Patientenbeauftragte, die einen systematischen, effektiven und kontinuierlichen Austausch mit Patienten, Patientengruppen und/oder Patientenorganisationen herstellen und aufrechterhalten, sind von zentraler Bedeutung dafür, dass Patientenorientierung kein theoretisches Konzept bleibt. Diesen Weg zu gehen, benötigt gleichzeitig sorgfältige Planung und Zeit.

Risiken und Nebenwirkungen der Patientenorientierung
Welche Risiken gibt es für Unternehmen die sich auf den Weg der Patientenorientierung begeben? Exponieren sie sich nicht möglicher Kritik, „Patienten zu kaufen“ oder lediglich „Lippenbekenntnisse“ abzuliefern? Die Beziehungen zu Patienten und zur verfassten Selbsthilfe seitens der Industrie steht immer unter besonderer Beobachtung, weshalb es unabdingbar ist, sich an den Grundsätzen des gegenseitigen Respekts, der Transparenz und der Achtung der Unabhängigkeit der Patientenseite zu orientieren. Dabei bieten die einschlägigen Kodizes der pharmazeutischen Industrie (in Deutschland: FSA2, AKG3) für die Unternehmensseite sowie die „Leitsätze zur Zusammenarbeit der Selbsthilfe mit Wirtschaftsunternehmen im Gesundheitswesen“4 für die Patientenseite eine gute Grundlage für einen rechtssicheren Umgang beider Seiten miteinander. Jeder ernsthafte und ehrliche Ansatz zu einer Verankerung von Patientenorientierung in pharmazeutischen Unternehmen sollte sich auf die dort niedergelegten Grundsätze stützen. Ihre Missachtung schadet sowohl den Unternehmen als auch der Selbsthilfe, deren höchstes Gut eine glaubwürdige Mandatierung ist. Für eine nachhaltige, glaubwürdige und für alle Beteiligten nutzenstiftende Beziehung zwischen pharmazeutischen Unternehmen und Patienten sowie Patientenorganisationen braucht es aber mehr als eine Kodifizierung von Geboten und Verboten. Erforderlich sind vielmehr Leitlinien für eine Good Patient Engagement Practice, die auf den Prinzipien einer tragfähigen, respektvollen Partnerschaft, eines sorgsamen Zuhörens und einer fairen Involvierung basiert. Zurzeit laufen Bestrebungen, solche Leitlinien in einem Multi-Stakeholder-Prozess zu erstellen.
Patientenorientierung als Wettbewerbsvorteil
Patienten als Innovatoren – Patientenbedürfnisse als Innovationstreiber
Patienten und ihre Angehörigen sind – gerade wenn sie chronisch mit einer Erkrankung leben – sehr oft Experten ihrer eigenen Erkrankung. Fehlende oder unzureichende Versorgungsangebote zwingen sie teilweise dazu, eigene Lösungen zu finden. Das aufmerksame Zuhören und das Verstehen von unerfüllten Patientenbedürfnissen kann eine Quelle von innovativen Entwicklungen werden. Immer mehr gehen Patientenorganisationen, insbesondere in den USA (z.B. bei Krebs, Demenz, Parkinson, Mukoviszidose, Duchenne-Muskeldystrophie und anderen seltenen Erkrankungen), aber auch in Europa, dazu über, selbst zu Innovatoren zu werden und vielversprechende Erkenntnisse der Grundlagenforschung in eine systematische Entwicklung zu überführen. Diese dann später fortzusetzen, bedarf erfahrener pharmazeutischer Partner. Hieraus ergeben sich nicht nur Chancen für pharmazeutische Unternehmen, neue therapeutische Optionen zu entwickeln und später zu vermarkten. Ferner können unzureichende Therapieadhärenz oder ein fehlender erlebbarer Nutzen bestehender Produkte für pharmazeutische Unternehmer Ausgangspunkt für Produktmodifikationen oder „beyond-the-pill“-Leistungen sein. Pharmazeutischen Unternehmen, die sich konsequent an den Bedürfnissen von Patienten orientieren und somit die traditionelle Produktorientierung neu denken, kann es besser gelingen einen nachhaltigen Patientennutzen zu erzielen. Ein solcher Patientennutzen kann beispielsweise durch Befriedigung des Bedürfnisses nach einer leichter einnehmbaren Darreichungsform, die dem individuellen Gesundheitsstatus des Patienten besser gerecht wird, erzielt werden. Eine ganz andere Frage ist allerdings, ob dieser Nutzen dann auch als patientenrelevanter Zusatznutzen i.S. der Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses, bspw. durch eine Verbesserung der Lebensqualität, abbildbar ist.

Verbesserung der Produktivität
Die Mitarbeit an der Verbesserung des Lebens von Menschen, die mit einer schweren Erkrankung leben müssen, ist ein starker Motivationsfaktor für die Mitarbeiter in der pharmazeutischen Industrie. Erleben sie, dass das eigene Unternehmen dies nicht nur kommuniziert, sondern in allen Bereichen lebt und somit der Patientennutzen tatsächlich im Mittelpunkt der Unternehmung steht, hat dies Auswirkungen auf die Motivation der einzelnen Mitarbeiter im Unternehmen selbst und schlussendlich auch auf die Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber und dessen Attraktivität sowie auf die Produktivität der Mitarbeiter. Unternehmen, denen es gelingt, ihre Mitarbeiter, aber auch ihre Investoren über finanzielle Anreize hinaus zu begeistern, sind erfolgreicher als ihre Mitbewerber (McGregor 2015).

Wertsteigerung des Produktportfolios
Pharmazeutische Unternehmer müssen wirtschaftlich nachhaltig erfolgreich sein. Diesen Umstand sollten sie auch offen kommunizieren. Denn nur so können sie eine Wertschöpfung für ihre Kapitalgeber, ihre Mitarbeiter, ihre Kunden und das Gemeinwesen generieren. Ausreichend Finanzmittel sind erforderlich, um die Entwicklung neuer diagnostischer oder therapeutischer Optionen anzugehen. Ein an den Bedürfnissen von Patienten ausgerichtetes Produktprofil und ein evidenzbasierter und für den Patienten erlebbarer Nutzen sind unerlässlich, um eine strategisch günstige Ausgangsposition
z.B. bei Pricing und Reimbursement-Verhandlungen zu erreichen. Eine am Patienten orientierte klinische Entwicklung ermöglicht Rekrutierungsziele für klinische Studien zu erfüllen und somit potentiell auch die Zeit bis zum Markteintritt zu verkürzen. Diese Faktoren zahlen aber direkt auf den Kapitalwert (Net Present Value) des Produktportfolios und somit auf den Unternehmenswert an sich ein.

Erhöhung der Reputation
Schließlich ist eine Unternehmenspolitik, die sich konsequent an den Bedürfnissen von Patienten ausrichtet, für das Ansehen des Unternehmens bei Patienten und Angehörigen, bei Ärzten und Krankenhäusern und nicht zuletzt bei den Krankenkassen förderlich. Gerade bei Preisverhandlungen und bei Entscheidern im Gesundheitswesen kann dieses Ansehen den entscheidenden Unterschied ausmachen. Voraussetzung ist allerdings, dass sich Unternehmen die Patientenorientierung nicht wie eine Maskerade auferlegen, um sie bei erster Gelegenheit wieder zu vergessen, sondern dass sie tatsächlich glaubwürdig gelebt wird.
Grundlage der Patientenorientierung: Bedürfnisse der Patienten verstehen und umsetzen
Unabdingbare Voraussetzung für die oben dargestellte unternehmensinterne Umsetzung von Patientenorientierung ist es allerdings zunächst überhaupt zu wissen, was Patienten wollen. Es ist die Frage nach ihren Bedürfnissen, Wünschen, Prioritäten und Präferenzen. Dies wird zunehmend in der pharmazeutischen Industrie anerkannt. So hat der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) e.V. in seinem jüngsten Positionspapier zur Patientenorientierung gerade dieser Frage große Bedeutung eingeräumt5.
Aber wie die Patientenbedürfnisse identifizieren? Wie „vom Patienten her denken“? Und wie anhand gewonnener Erkenntnisse Produkte und Dienstleistungen bedarfsgerecht optimieren? Wesentlich hierbei ist die ganzheitliche Wahrnehmung des Patienten als in Anspruch nehmender, wählender und finanzierender Konsument, als Objekt des Versorgungsprozesses, aber auch als Ko-Produzent mit individuellem Gesundheits- und Krankheitsverhalten, mit subjektiven Wünschen und Erwartungen (vgl. Grande 2014). Statt über den Patienten ausschließlich mit Dritten, z.B. Ärzten und Experten, zu sprechen, wird zunehmend die – eigentlich selbstverständliche – Tatsache anerkannt, dass es weit sinnvoller ist, mit den Patienten selbst zu sprechen. Hierfür stehen wissenschaftlich fundierte Methoden (qualitative und quantitative Befragungen, conjoint-Analysen, mixed-methods Ansätze) zur Verfügung (Mühlbacher 2015). Ebenso sind die Einbindung und der transparente und faire Dialog mit der Selbsthilfe erforderlich. Es kann allerdings nicht übersehen werden, dass der Organisationsgrad der Selbsthilfe in den einzelnen Indikationsgebieten sehr unterschiedlich ist. Während in einzelnen seltenen Erkrankungen (z.B. Mukoviszidose) sehr hohe Selbsthilfe-Beteiligungen (z.T. deutlich über 50 % der prävalenten Patienten bzw. ihrer Angehörigen) erreicht werden, ist dies bei Volkskrankheiten nicht der Fall. So sind nur ca. 0,8 % aller Diabetiker in Deutschland Mitglied in einer Selbsthilfeorganisation. „Mit Patienten kommunizieren“ ist daher nicht gleichzusetzen mit dem stets erforderlichen Dialog mit der verfassten Selbsthilfe. Vielmehr müssen Patientensichtweisen auch außerhalb verfasster Strukturen aufgerufen und in die Arbeit von pharmazeutischen Unternehmen integriert werden. Zunehmend an Bedeutung gewinnen daher auch spontane Äußerungen von Patienten in Sozialen Medien oder anderen internet-basierten Kommunikationsformen (Foren, Chatrooms etc.). Während hier nicht befriedigte Bedürfnisse von Patienten sehr deutlich artikuliert werden und diese Medien daher eine wertvolle Quelle von Informationen darstellen, müssen pharmazeutische Unternehmen aber darauf achten, die Grundregeln von Transparenz und Respekt stets zu beachten. Schließlich müssen auch adäquate Prozesse zur Detektion von Pharmakovigilanz-Signalen und deren adäquate Prozessierung vorgehalten werden.6 Nicht zuletzt bieten auch Patient-Advisory Boards oder Patientenbotschafter die Möglichkeit, mit konkreten Ansprechpartnern „offline“ oder auch in Form von e-Patientpanels „online“ patientenrelevante Fragen zu diskutieren.
Der pharmazeutische Unternehmer muss sich fragen, in welcher „Umlaufbahn“ er sich um den Patienten bewegt (Abb. 5). Dabei sind nicht die Unternehmensgröße und ihre materiellen Ressourcen entscheidend, sondern die Fähigkeit, sich den Erfahrungen, Meinungen und Bedürfnissen von Patienten systematisch zu öffnen.
Fazit
Das Gesundheitswesen der Zukunft sieht den Patienten im Mittelpunkt des Geschehens und spricht mit ihm und nicht über ihn, bindet ihn damit wirklich ein. Vor allem aber fordern dies Patienten zunehmend ein und praktizieren nicht zuletzt durch digitale Möglichkeiten Patientenorientierung ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Patienten werden zu einem aktiven mitwirkenden Bestandteil eines innovativen Versorgungssystems, in dem Patientenorientierung, partizipative Entscheidungsfindung und ein offener Dialog der Akteure eingefordert, gefördert und gelebt werden. Hier kommunizieren alle Beteiligten auf Augenhöhe, vertrauensvoll und transparent und im Bewusstsein der manchmal gegensätzlichen Interessen unter Achtung der Souveränität und Unabhängigkeit miteinander. Um diese Vision in die Realität umzusetzen, braucht es Geduld, Respekt und eine nachhaltige ökonomische Basis. Für pharmazeutische Unternehmen bietet die konsequente Patientenorientierung die große Chance, Produkte und Dienstleistungen anzubieten, die einen echten Patientennutzen haben und somit einen Vorteil gegenüber Wettbewerbern vermitteln, die dies nicht tun. Immer mehr wird aber die bestmögliche Befriedigung von Patientenbedürfnissen schlichtweg eine Voraussetzung zum Verbleib im Markt. Sie ist daher die zentrale strategische Aufgabe eines pharmazeutischen Unternehmers. Nicht morgen, sondern bereits heute. <<

Ausgabe 01 / 2018

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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