Technische Assistenz zur Alltagsbegleitung
>> Die geplante Erfassung erfolgt vor dem Hintergrund der persönlichen Lebenssituation bzw. Biographie der Patienten in der Vergangenheit. Das System soll Patienten, Angehörige und Pflege unterstützen, den täglichen Alltag des Patienten besser zu meistern und durch einen besseren Informationsfluss zwischen dem Patienten und seinen Angehörigen bzw. Betreuern eine individuell gezielte Alltagsunterstützung zu geben. Ein Hauptanliegen von Perlen ist die frühestmögliche Erfassung und Nutzbarmachung von persönlichen Alltagsroutinen, Ritualen und Strukturen, Aktivitäten und Gewohnheiten, sowie Informationen zum Krankheits- und Therapieverlauf. Durch die technische Verknüpfung mit der Pflegesoftware ist zugleich eine Verbesserung des Betreuungs- bzw. Pflegeprozesses zwischen den verschiedenen Versorgungsphasen (alleine/mit Angehörigenpflege zu Hause lebend, ambulante Pflege, stationäre Pflege) angestrebt. Für den Erkrankten selbst soll sich das Erleben der eigenen Situation damit deutlich verbessern.
Seit Juli 2015 entwickeln verschiedenste Partner auf der Basis einer Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung das „Perlen“-System. Diese Akteure sind das auf Softwareentwicklung spezialisierte DAI-Labor der TU Berlin, die Johanniter-Unfall-Hilfe (Konsortialleitung, Projektexpertise im Bereich der ambulanten Pflege), das Arzneimittelunternehmen Sanofi-Aventis, der auf den Bereich der Pflege fokussierte Software-Anbieter euregon, ProCurand mit Projektexpertise im Bereich der stationären Pflege, das Innovationzentrum Connected Living und das SIBIS-Institut für Sozialforschung und Projektberatung. Hinzu kommt ein Beirat aus Ärzten und Pflegewissenschaftlern mit besonderer Expertise in den Bereichen Geriatrie, Demenz und Diabetes. Neben seiner spezifischen Expertise hat jeder Projektpartner einen eigenständig zu erarbeitenden Teilauftrag im Gesamtvorhaben. So betrachtet Sanofi den Zusammenhang zwischen den beiden Indikationen Diabetes und Demenz im Hinblick auf die Gestaltung einer Diabetes(Insulin) therapie, die einerseits Unterzuckerungen verhindert und andererseits den Patienten unterstützt, seine Arzneimitteltherapie möglichst lange selbständig durchzuführen. Themenfelder hierin sind die Aspekte Therapietreue & -dokumentation, Therapiewechsel im Hinblick auf die Eigen- und Fremdmedikation sowie die Motivation des Patienten zur eigenständigen und korrekten Therapiedurchführung. Dem „Diabetes-Teilmodul“ innerhalb des „Perlen“-Projektes widmen sich die weiteren Ausführungen des vorliegenden Beitrags.
Der geriatrische Diabetiker erfordert eine besondere Aufmerksamkeit aufgrund seiner Alterssymptome. So erfordern Faktoren wie Immobilität, Inkontinenz, intellektueller Abbau, Mangelernährung, Hör- und Sprachstörungen, Depression oder iatrogene Einflüsse aufgrund multifaktorieller Erkrankungen und damit einhergehender Polypharmazie eine engmaschige Betreuung des Patienten. Der Umsetzung einer leitliniengerechten Therapie mit einem Zielblutzuckerwert eines HbA1c von z.B. 7% - 8%, bzw. in einem geriatrisch individuell adaptierten Zielbereich [Vgl. A.-K. Meyer, Zeitschr. Gerontol. Geriatrie, 2012, 45, S. 109-118] steht die Problematik gegenüber, dass der geriatrische Patient mit seiner Therapieumsetzung häufig und ganz besonders in Situationen beginnender und fortschreitender Demenz überfordert ist.
Um eine demenzorientierte Diabetestherapie im Versorgungsalltag umsetzen zu können, müssen Situationen, Schwierigkeiten und Verhaltensmomente im Alltag erfasst werden, die daran hindern, dieses Ziel zu erreichen. Elementare Versorgungsfragen sind daher: Wie erleben und erfahren Demenz-Patienten und deren Angehörige oder Pflegepersonen spezifische Situationen einer nachlassenden Therapietreue und mögliche Risiken bei der Durchführung der Diabetestherapie sowie mögliche damit einhergehende kognitive Verschlechterungen der Patienten? Welche Implikationen haben solche Ereignisse auf die Gestaltung der Arzneimitteltherapie (insbes. einfach durchzuführende Insulintherapie) und deren Umsetzung im Hinblick auf deren Wirksamkeit, Sicherheit und praktischen Handhabbarkeit für den Patienten? Welche Implikationen haben diese Konstellationen für die Begleitung des Patienten bei seiner Diabetestherapie und die Verlässlichkeit auf eine korrekte Umsetzung des ärztlich verordneten Therapieregimes durch den Patienten und auf die Entscheidung, eine pflegerische Unterstützung hinzuzuziehen? Diese Möglichkeiten und Fähigkeiten des Patienten werden im Projekt als Wissen zur Durchführung der Diabetestherapie bzw. die sogenannte Diabetestherapiekompetenz umrissen und im Weiteren beleuchtet.
Die beiden Leitfragen in der Entwicklung der „Perlen“-App lauten entsprechend:
1: „Wie kann die Diabeteskompetenz des Patienten kontinuierlich im Alltag des Patienten ermittelt werden?“ und
2: „Welche Ereignisse führen zur Situation, die Verantwortung zur Therapiedurchführung – insbesondere bei der Insulintherapie – vom Patienten an seine Angehörigen oder Pflegepersonen weiterzugeben?“
Die Ermittlung der Diabeteskompetenz basiert im „Perlen“-System auf dem kontinuierlichen Abgleich objektiv – technischer Faktoren mit subjektiven Faktoren zur persönlichen Wahrnehmung und Selbsteinschätzung bei der Durchführung der Diabetestherapie. Die objektiven Faktoren beinhalten die technische Dokumentation der durchgeführten Diabetestherapie bzgl. der Spritz- und Messzeitpunkte sowie der Werte der Blutzuckermessung. Diese Werte kommen idealerweise über eine drahtlose Datenübertragung automatisch ins System. Die subjektiven Faktoren beinhalten Fragen zur Selbsteinschätzung hinsichtlich potentieller Hindernisse oder Schwierigkeiten bei der Durchführung der Diabetestherapie. Die dabei gewonnenen Angaben werden einander anschließend gegenübergestellt. Die folgende Abbildung 2 veranschaulicht diesen Zusammenhang:
Die Programmierung dieser Vergleiche be-ginnt mit einem aufwendigen Definitionsprozess der medizinisch objektiven und subjektiven Faktoren. Ein erster Entwicklungsschritt widmet sich zunächst theoretisch den verschiedensten Verhaltenskonstellationen. Die Systementwicklung startet mit einer Vielfalt potentieller Situationen, um das spätere „Real-Life“ der Umsetzung zunächst möglichst breit abzudecken und außerdem als lernendes System möglichst genau abzubilden. Die Software-Entwickler beschreiben diese Phase als Entwicklung von „Personas“ und „Use Cases“. In einem zweiten Schritt geht es dann darum, verschiedene theoretisch mögliche Kombinationen der objektiven und subjektiven Faktoren auf wahrscheinliche Konstellationen zu reduzieren. Diese Konstellationen werden zu Prototypen möglicher Patientensituationen und von Therapie-Experten bzgl. der Alltagsrelevanz betrachtet. Das System nähert sich dadurch den Alltags-Situationen von Patienten weiter an.
In dem gerade genannten zweiten Schritt, der Annäherung potentieller Situationen an den Patienten-Alltag, ist es erforderlich, praktische Erfahrungen von Angehörigen, Ärzten und Pflegepersonen im Umgang mit den „Zielpatienten“ zu kennen und abzubilden. Im Prozess der Projektentwicklung erfolgt dies durch Interviews, Fallbeschreibungen und Workshops der Experten, in denen diese eigene Erfahrungen im Umgang mit Patienten beschreiben, Kasuistiken diskutieren und auch Zukunftsszenarien für die technische Unterstützung der Patienten generieren. Exemplarische Diskussionsfragen hier sind:
• wie lässt sich (technisch) ermitteln, ob zu viel Insulin gespritzt wurde?
• wie lässt sich (technisch und rechnerisch), ggf. spielerisch die Rechenfähigkeit des Patienten erheben?
• wie lassen sich (technisch) falsche Spritzzeiten oder Fehler im Spritz/Ess-Abstand ermitteln?
• welche (technischen) Möglichkeiten stehen zur Verfügung, um den Patienten an die Insulingabe und Blutzuckermessung zu erinnern?
• inwieweit lassen sich Signale erheben im Hinblick darauf, dass der Patient Mühen hat, das Alltagsleben selbständig zu meistern; z.B. Essen brennt an, Wasserhahn läuft, Patient und Wohnung schmuddelig?
• inwieweit können weitere Hinweise abgeleitet werden, dass der Patient Fehler in der Insulintherapie macht; z.B. falsche Insulindosis ermittelt, Teststreifen zur Blutzuckermessung falsch in das System einführt?
Auf der Basis der hier ermittelten Szenarien geht das „Perlen“-System nun in den Dialog mit dem Patienten. Werden beispielsweise gehäuft fehlende Insulininjektionen vom System registriert, seitens des Patienten bei der Selbsteinschätzung jedoch nicht mehr wahrgenommen, so wäre dies ein deutlicher Anhaltspunkt, mit dem Patienten in den Dialog zu treten und bei Vorliegen einer nachlassenden Diabetestherapiekompetenz über eine Anpassung der Insulintherapie zur Erhöhung der Patientensicherheit nachzudenken.
Das „Perlen“-Projekt befindet sich innerhalb der laufenden Projektentwicklung aktuell in diesem Abschnitt der Ermittlung von Faktoren der individuellen Diabeteskompetenz. Neben den inhaltlichen Fragen geht es um eine an den Bedürfnissen der jeweiligen Akteure orientierte technische Gestaltung, so dass beispielsweise die Patienten die Fragen zur Selbsteinschätzung spielerisch durchführen können und gerne beantworten, wohingegen die für die pflegerische oder ärztliche Tätigkeit wichtigen Informationen in einem entsprechend systematisch strukturierten und schnell erfassbaren Rahmen gestaltet sein müssen. Zum Einsatz kommen dazu verschiedenste Bildschirme mit simulierten Anwendungen. Diese sollen im nachfolgenden Anwendertest dann geprüft und validiert werden.
Es folgen im Rahmen der BMBF-Förderung die Fertigstellung eines Prototyps, wissenschaftliche Publikationen und die kommerzielle Begutachtung der Perlen-App für die spätere technische Fertigstellung und Markteinführung. Auch wenn die Entwicklung des Systems bei der Erstellung von Prototypen endet und eine Weiterentwicklung zur Marktreife nicht im vorliegenden Projektvorhaben inbegriffen ist, so hilft der „Perlen“-Ansatz, den Patienten und seinen Angehörigen bereits heute in der Betrachtung der Diabetes-Kompetenz im Alltag. <<
von: Katja Schneuer und Thomas Kehl, MHMM*
Zitationshinweis : Schneuer, K., Kehl, T.: „Technische Assistenz zur Alltagsbegleitung“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (01/18), S. 30-32; doi: 10.24945/MVF.01.18.1866-0533.2060