Auf der Spur des Patientenwillens
>> Der Real-World-Nutzen eines Arzneimittels kann, wie Prof. Dr. Thomas Wilke von der Hochschule Wismar (Ingress-Health Wismar/IPAM e.V.), zu Protokoll gab, „erheblich von dem theoretischen Potenzial“ eines Arzneimittels abweichen, wie er typischerweise in klinischen Studien abgebildet wird.
Das hat vielfältigste Gründe, angefangen bei den festzustellenden Unterschieden zwischen Real-World und klinischen Studien, als da sind: Ein-/Ausschlusskriterien von klinischen Studien, Real-World-Behandlung versus Behandlung in Studienzentren und nicht zuletzt Non-Adhärenz sowie patientenseitige Therapieabbrüche.
Ein-/Ausschlusskriterien
In einer US-amerikanischen Registerstudie wurde beispielsweise untersucht, wie viele Patienten des Registers die Ein- und Ausschlusskriterien von klinischen Studien beim neudiagnostizierten Multiplen Myelom erfüllt hätten und an diesen Studien hätten teilnehmen können. Laut einer Publikation von Shah et al.1 hätten 40% (563 der 1406 Registerstudienpatienten) aufgrund der Ein- und Ausschlusskriterien nicht an neueren klinischen Studien zu diesem Kontext teilnehmen können. Wenn man aber noch striktere Kriterien, d.h. beispielsweise einen Hämoglobin-Wert von mind. 8g/dl sowie einen M-Protein-Spiegel von mind. 1g/dl angewandt hätte, wäre der Anteil nicht geeigneter Patienten sogar auf 56,8% gestiegen. Die häufigsten Gründe, dass Patienten in der Praxis von klinischen Studien ausgeschlossen wurden, war eine zu weit fortgeschrittene Erkrankung, oder aber eine vorherige Krebserkrankung, da mit manchen onkologischen Therapeutika das Risiko für ein erneutes Auftreten einer neuen Krebserkrankung außer dem Multiplen Myelom erhöht sein kann. Ferner war das Bestehen anderer Komorbiditäten (z.B. Leberwert-Erhöhung) oder einer Infektionserkrankung auch häufig ein Ausschlusskriterium.
Das alles führt das Autorenteam um Shah zu dem Kernfazit, dass „die strikten Ausschlusskriterien klinischer Studien beim Multiplen Myelom die Rekrutierung jener Patienten begrenzen, die eine allgemeine Patientenpopulation reflektieren“ und es außerdem angeraten sei, die Standardkriterien von RCT zu modifizieren, um zu einem verbesserten RCT-Design zu kommen.
Das bestätigt auch Wilke, indem er sagt, dass es „generell einen Unterschied“ gibt zwischen dem Potenzial, das ein Medikament in einer klinischen Studie zeige und den praktischen Nutzen, den ein Medikament in der Realität zeige. Das könne zum einen, wie das Autorenteam um Shah feststellte, mit den Ein- und Ausschlusskritieren von klinischen Studien zu tun haben, aber eben auch an den unterschiedlichen Settigns liegen, die man in Studienzentren vorfinde und den vielen, vielen anderen, die in der normalen Alltagsversorgung anzutreffen seien. Wilke: „Besonders bei Therapien, bei denen es darauf ankommt, wie die Patienten eine Therapie annehmen, sind große Unterschiede zwischen der Compliance in Zentren und in der Realität festzustellen.“ Auch das habe wiederum verschiedenste Gründe, die oft in einer sehr engen Verbindung zu Patientenpräferenzen stünden.
Patientenpräferenzen
Es mache laut Wilke in fast jedem Indikationsgebiet Sinn, zu hinterfragen, was die Patienten wollen. Denn nur so könne man herausfinden, welche Therapieempfehlungen den Patientenpräferenzen näher kommen und welche nicht. Das ist vor allem darin begründet, dass nicht nur die Umsetzung, sondern auch die Therapietreue in hohem Maße davon abhängt, ob – so Wilke – „der Patient daran glaubt, dass er eine gute Therapie bekommt“. Vice versa sei auch bekannt, dass die Therapien, die Patienten nicht mögen, eine geringere Wahrscheinlichkeit hätten, umgesetzt und lang fortgesetzt zu werden, da die erste Nebenwirkung zum Anlass genommen werde, eine Medikation abzusetzen und mit der Therapie – selbst einer lebenserhaltenden – aufzuhören. Wilke: „Andererseits wird eine Therapie, von der der Patient überzeugt ist, eine bessere Adhärenz haben, weil damit ein höheres Durchhaltevermögen verbunden ist.“
Auf die Spur dessen, was Patienten wollen und was nicht, kommt man, wenn man inzwischen durchaus validierte Instrumente der Präferenzmessung einsetzt, wie Analytic Hierarchy Process (AHP) oder ein Discrete Choice-Experiment (DCE), wie es von Wilke für Patientenpräferenzen bei der RRMM-Therapie2 angewandt wurde.
Im ersten Schritt der Studie4 wurden die diversen Attribute zweiter Generation der in dieser Therapie verwandten Proteasom-Inhibitoren (Carfilzomib, Marizomib, Oprozomiboder Ixazomib) aufgezählt, danach in ein studienverträgliches Maß verdichtet und diese schließlich in Fokusgruppendiskussionen nach Wichtigkeit sortiert. Es kristallisierten sich sieben wichtigste Attribute heraus, angefangen bei Anämie, Zeit ohne Fortschreiten der Erkrankung, Neutropenie, Thrombozytopenie, Gabemodus inkl. notwendige Arztbesuche, Hypokalämie und Herzinsuffizienz.
Da einige von diesen Attributen dem „Blut“ zuzuordnen waren, wurden sie zu einem Groß-Attribut „Nebenwirkungen, die das Blut betreffen“ zusammengefasst, so dass in das DCE nur mehr vier Attribute eingingen, eine Attributs-Zahl, die Wilke für ein Experiment dieser Art als sinnvoll erachtet, da die befragten Patienten mit noch mehr Entscheidungsvariationen überfordert seien. Auch so schon haben die vier ausgesuchten Attribute genug Entscheidungsvariaten, da sich alleine die Gabeform in drei Ausprägungen darstellt, welche die adressierten Präparate repräsentieren: „1 Tablette täglich – plus 1 Tablette wöchentlich plus ein 2-Std. Arztbesuch per Monat“, „1 Tablette täglich – plus 2 Tabletten wöchentlich plus ein 2 Std. Arztbesuch per Monat“ sowie „1 Tablette täglich – plus 1 Tablette wöchentlich plus zwei wöchentliche 3-4 Std. Arztbesuche mit Infusion“.
Aber auch die Zeit ohne Fortschreiten der Erkrankung hat drei Unterkategorien: von 17 über 20 zu 26 Monaten. Hingegen hat die Wahrscheinlichkeit des Auftretens schwerer Nebenwirkungen, die das Blut betreffen, nur zwei (12 und 10%), ebenso die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Herzinsuffizienz (2 und 4%).
Alle zusammen ergeben immerhin ein Entscheidungsset von 36 theoretischen Möglichkeiten, die dann noch einmal auf ein Entscheidungsset vom 10 Möglichkeiten minimiert wurde, damit die befragten 84 Patienten damit besser umgehen konnten. Heraus kam bei der Befragung, dass RRMM-Patienten vor allem jene Behandlungsoptionen bevorzugen, die ihnen einen vollständig oralen Anwendungsmodus ermöglichen, und erst danach jene, die eine längere krankheitsfreie Zeit versprechen, gefolgt von jenen, die eine geringere Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen nahelegen, und ganz am Schluss erst jene, die die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Herzinsuffizenz minimieren. Um all das zu erhalten, sind Patienten durchaus bereit, etwas weniger Wirksamkeit zu akzeptieren, was Wilke zu dem Fazit führt, dass für die Therapie eines jeden einzelnen Patienten die Vorlieben des Patienten im Entscheidungsprozess eine Schlüsselrolle spielen sollten. In diesen gebe die von ihm im Auftrag von Takeda durchgeführte Studie wichtige Einblicke. Wilke: „Die Patientenpräferenzen sollten von behandelnden Ärzt immer dann berücksichtigt werden, wenn eine Entscheidung in Bezug auf eine RMMM-Behandlung getroffen werden muss.“ <<
von:
MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier
Zitationshinweis : Stegmaier, P.: „Auf der Spur des Patientenwillens“, in „Monitor Versorgungs-
forschung“ (01/18), S. 18-19; doi: 10.24945/MVF.01.18.1866-0533.2058