Entwicklung der Antibiotikaverordnungen bei Kindern und Jugendlichen
http://doi.org/10.24945/MVF.01.18.1866-0533.2065
Die Gefahren eines unangemessen hohen Antibiotikagebrauchs im Hinblick auf Arzneimittelnebenwirkungen sowie der Entstehung von Antibiotikaresistenzen haben hohe Relevanz, sowohl auf individueller als auch gesellschaftlicher Ebene. Auf Grundlage der anonymisierten Routinedaten von rund 200.000 bei der AOK Nordost versicherten Kindern und Jugendlichen von 0 bis 16 Jahren wurde die Entwicklung der Antibiotikaverordnungen in den Jahren 2010 und 2016 analysiert. Die Ergebnisse zeigen einen deutlichen Rückgang des Antibiotikagebrauchs von 7,8% auf 29,5% für die Region Nordost (Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern). Zusätzlich weist der überdurchschnittlich hohe Rückgang bei der Verordnung von Reserveantibiotika auf eine Zunahme der Verordnungsqualität im Kindes- und Jugendalter hin.
Development of antibiotic prescrip-tions in childhood and adolescence in the northeastern Region of Germany between 2010 and 2016
Broad use of antibiotics is associated with an increasing resistance to antibiotics in a population as well as adverse effects on the individual level. Development of antibiotic prescriptions between 2010 and 2016 among children and young adolescents (0 to 16 years) was analyzed using data from a major regional German statutory health insurance in Northeastern Germany. Results are indicating a substantial reduction from 37,2% to 29,5% in the Northeastern region of Germany encompassing the federal states Berlin, Brandenburg and Mecklenburg-Western Pomerania. Above average reduction of second- or third-choice antibiotics also suggests a more specific and reasonable prescription of antibiotics.
Keywords
Antibiotics, Antibiotic prescriptions, AOK Nordost, GeWINO, infectious diseases, paediatrics, care research
Dipl.-Psych. Christine Witte, MPH - Dr. rer. nat. Sabine Ludwig - Prof. Dr.-Ing. Thomas P. Zahn
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Zitationshinweis: Witte, C., Ludwig, S., Zahn, T.: „Entwicklung der Antibiotikaverordnungen bei Kindern und Jugendlichen“, in „Monitor Versorgungsforschung“ 01/18, S.51-57, doi: 10.24945/MVF.01.18.1866-0533.2065
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Entwicklung der Antibio-tikaverordnungen bei Kindern und Jugendlichen - Erhebung in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern zwischen 2010 und 2016
Im Rahmen des 1. Kinderreports Nordost des Gesundheitswissenschaftlichen Instituts Nordost der AOK Nordost wurde auch die Entwicklung des Antibiotikagebrauchs im pädiatrischen Setting untersucht (Witte et al. 2017). Im allgemeinen Sprachgebrauch und auch im klinischen Kontext sind mit Antibiotika Wirkstoffe gemeint, die das Wachstum von Bakterien hemmen oder diese abtöten. Durch einen jahrzehntelangen, übermäßigen und ungezielten Antibiotikaeinsatz hat sich die Zunahme von Unempfindlichkeiten bakterieller Erreger weltweit zu einer bedeutenden Public-Health-Problematik entwickelt. Immer häufiger werden Patienten und Ärzte mit Bakterienstämmen konfrontiert, die eine Resistenz gegenüber vielen gängigen antibiotischen Wirkstoffen aufweisen (WHO 2011). Als Folge der Zunahme sogenannter multiresistenter Erreger steigen Behandlungsdauer, Erkrankungsschwere und das Sterberisiko durch schwerwiegende Infektionen. Gleiches gilt für die daraus resultierenden Kosten einer angemessenen medizinischen Versorgung (Aloush et al. 2006; Maragakis et al. 2008; Song et al. 2003; Qavi et al. 2005).
>> Die Höhe des ambulanten Antibiotikagebrauchs ist ein wichtiger Faktor bei der Entstehung von Antibiotikaresistenzen. Regionen und Länder mit hohem Verbrauch zeigen höhere Resistenzhäufigkeiten bei klinisch bedeutenden Keimen (Bell et al. 2014; Goossens et al. 2005). Eine große Rolle spielt auch die Auswahl verordneter Wirkstoffe. Je breiter das Wirkspektrum der eingesetzten Arzneimittel, desto stärker ist auch der sogenannte Selektionsdruck, der auf bakterielle Erreger ausgeübt wird (Bätzing-Feigenbaum et al. 2016).Da das Erkrankungsspektrum bei Kindern durch akute Infektionen dominiert wird (RKI 2008), kommen Antibiotika bei ihnen besonders häufig zum Einsatz (Holstiege et al. 2014). Ausschlaggebend ist dabei eine alterstypische Häufung von akuten Atemwegs-infektionen. Erkrankungen wie die akute Bronchitis, Mandel- und Rachenentzündungen und auch Erkältungskrankheiten im Allgemeinen sind gerade bei Kindern im Kindergarten- und Vorschulalter deutlich häufiger als bei Erwachsenen (RKI 2008). Allerdings heilen die meisten Atemwegsinfekte von selbst aus und werden in der großen Mehrheit von Viren und nicht von Bakterien hervorgerufen (Mäkelä et al. 1998; Monto 1995; van Gageldonk-Lafeber et al. 2005). Aus diesem Grund weisen Antibiotika, die ausschließlich gegen Bakterien, nicht aber gegen Viren wirken, bei der Behandlung der meisten akuten Atemwegsinfektionen nur einen geringen Nutzen auf. Demgegenüber steigt jedoch das Risiko, die Entstehung und Ausbreitung von Resistenzen unnötig zu beschleunigen (Ahovuo-Saloranta et al. 2014; Kenealy/Arroll 2013; Lemiengre et al. 2012; Smith et al. 2014; Venekamp et al. 2013). Zudem sind Antibiotika häufig mit Nebenwirkungen verbunden (Kenealy/Arroll, 2013). Deutsche und internationale Behandlungsleitlinien empfehlen deshalb einen zurückhaltenden Einsatz von Antibiotika bei akuten Atemwegsinfektionen (AkdÄ 2014; DEGAM 2008, 2009, 2014a; Hersh et al. 2013; NICE 2008).
Aktuelle Verbrauchsdaten deuten darauf hin, dass deutsche Mediziner vermehrt die entsprechenden Leitlinienempfehlungen im Versorgungsalltag anwenden. Gerade bei Kindern und Jugendlichen ging die Verordnungshäufigkeit von Antibiotika deutschlandweit bis 2014 deutlich zurück. Dennoch unterscheidet sich die Neigung, im pädiatrischen Setting Antibiotika zu verordnen, zwischen den deutschen Bundesländern (Bätzing-Feigenbaum et al. 2016). Es kann angenommen werden, dass die Erkrankungslast je Altersgruppe durch bakterielle Erreger keine grundlegenden regionalen Unterschiede aufweist. Über die kleinräumige Entwicklung des Antibiotikaeinsatzes im pädiatrischen Setting unterhalb der Bundeslandebene liegen bislang nur wenige Erkenntnisse vor. Die detaillierte Kenntnis der regionalen Verordnungspraxis kann jedoch eine wichtige Basis für die gezielte Entwicklung von Programmen zur Förderung rationaler Verordnungsmuster unter Berücksichtigung der regionalen Gegebenheiten sein.
Methodik und Studienpopulation
Grundlage der Analysen waren anonymisierte Routinedaten der AOK Nordost über die Abrechnung der medizinischen Versorgung ihrer rund 1,75 Mio. Versicherten. Diese Daten können sowohl jahresübergreifend als auch in Verbindung mit den ebenfalls
anonymisierten Stammdaten der gesetzlichen Krankenversicherung analysiert werden.
Da Antibiotika in Deutschland sowohl verschreibungspflichtig als auch erstattungsfähig sind, ermöglichen die anonymisierten Abrechnungsdaten der ambulanten Arzneimittelversorgung eine Voll-erfassung aller durch Apotheken an die Versicherten abgegebenen Antibiotika. Zur Ermittlung der Höhe des Antibiotikagebrauchs im Kindes- und Jugendalter wurde die Ein-Jahres-Prävalenz des Antibiotikagebrauchs, d.h. der Anteil an Kindern und Jugendlichen mit Antibiotikaverordnung(en) in einem Kalenderjahr, als Verbrauchskennzahl verwendet.
Für eine weiterführende Analyse des Antibiotikagebrauchs wurden systemische Antibiotika in Wirkstoffgruppen unterteilt (ATC-Code in Klammern). Dabei haben nicht alle aufgeführten Wirkstoffe Bedeutung in der Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland:
• Schmalspektrumpenicilline (J01CE, J01CF)
• Breitspektrumpenicilline (J01CA, J01CR)
• Ältere Makrolide (J01FA01, J01FA02, J01FA07)
• Neuere Makrolide (J01FA06, J01FA09, J01FA10, J01FA15)
• Cephalosporine der 2. Generation (J01DC)
• Cephalosporine der 3. Generation (J01DD)
• Sulphonamide und Trimethoprim (J01EB, J01EE, J01EA)
• Tetracycline (J01AA)
• Andere Antibiotika (alle anderen Wirkstoffe der ATC Hauptgr. J01)
Die Analysen wurden auf unterschiedlichen geographischen Ebenen durchgeführt, der Region Nordost gesamt, differenziert nach den 3 Bundesländern und differenziert nach 26 Landkreisen beziehungsweise kreisfreien Städten sowie den 12 Berliner Stadtbezirken. Zusätzliche Untersuchungen wurden auf Basis der Eurostat1 Gemeindetypen vorgenommen. Dabei wird die auf EU-Richtlinien basierende und vom Statistischen Bundesamt umgesetzte Klassifikation der Gemeinden in ländlich, halbstädtisch und städtisch angewandt. Mittels dieser Klassifikation lässt sich auch in den oft heterogenen Landkreisen Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns der Einfluss eines ländlichen oder städtischen Wohnumfeldes auf die Versorgung analysieren.
Die Stammdaten der Versicherten enthalten Informationen zur Nationalität. Die 20 am häufigsten in der AOK Nordost vertretenen Nationalitäten wurden separat betrachtet. Alle weiteren Nationen wurden zu sechs Gruppen zusammengefasst. Es werden nur Ergebnisse von Nationalitäten (‑gruppen) berichtet, der mindestens 200 Kinder und Jugendliche angehören. Die Nationalität kann, wenn auch mit Einschränkung, als Operationalisierung des Migrationshintergrunds angesehen werden. Es muss jedoch angenommen werden, dass deutlich mehr Kinder einen Migrationshintergrund aufweisen als anhand ihrer Nationalität ermittelt werden kann.
Als Studienpopulation wurden alle Kinder und Jugendlichen bis 16 Jahre in die Analysen einbezogen, die in den Jahren 2010 und 2016 vollständig bei der AOK Nordost versichert oder Neugeborene waren und die in den drei Bundesländern Berlin (BE), Brandenburg (BB) und Mecklenburg-Vorpommern (MV) lebten. Im Jahr 2006 umfasste die Studienpopulation ca. 182.000 (51,3% Jungen) und im Jahr 2016 rund 205.000 Kinder und Jugendliche (davon 51,2% Jungen) (Tabelle 1).
Die Nationalität der Kinder und Jugendlichen wurde entsprechend der Nationalität des Pflichtversicherten eines Kindes bestimmt. Im Jahr 2016 besaßen die bei der AOK Nordost versicherten Kinder mit 83,8% (2015: 85,5%) am häufigsten die deutsche Staatsbürgerschaft, 3,5% waren türkischer (2015: 4,1%) und 1,9% syrischer Nationalität (2015: 0,6%).
Die Studienteilnehmer wurden pro Kalenderjahr in Abhängigkeit alterstypischer Entwicklungsphasen und in Anlehnung an internationale Empfehlungen den folgenden Altersgruppen zugeordnet (Williams et al., 2012): 0 bis 1 Jahr: Babys, 2 bis 5 Jahre: Kleinkinder, 6 bis 10 Jahre: Grundschulkinder und 11 bis 16 Jahre: Jugendliche.
Ergebnisse
Nach Altersgruppen
In den Jahren 2010 bis 2016 zeigte sich ein deutlicher Rückgang in der Häufigkeit der Antibiotikaverordnungen in Nordostdeutschland. Während in 2010 noch 37,2% der gesamten Studienpopulation mindestens ein Antibiotikum verordnet bekam, bezifferte sich dieser Wert in 2016 auf nur noch 29,5% (Abb 1.)
Trotz des allgemeinen Rückgangs wird deutlich, dass ein unterschiedliches Verbrauchsniveau zwischen den Altersgruppen vorlag (Abb. 1). Kleinkinder wiesen mit 53,5% im Jahr 2010 und 41,9% im Jahr 2016 jeweils die höchsten Anteile von mindestens einer Antibiotikaverordnung auf, verzeichnen aber mit 11,6% auch den stärksten absoluten Rückgang. Demgegenüber konnte zwischen 2010 und 2016 mit 27,3% die deutlichste relative Reduktion bei der Gruppe der Neugeborenen und Säuglinge (0-1 Jahr) beobachtet werden.
Der besonders hohe Antibiotikaverbrauch im Kleinkindalter resultiert aus dem Umstand, dass ein noch nicht ausgereiftes Immunsystem in dieser Lebensphase mit vielen Erregern erstmalig konfrontiert wird, beispielsweise in der Kinderkrippe oder im Kindergarten. Als Folge treten in dieser Altersgruppe auch viele akute Infektionen, insbesondere der Atemwege, sehr häufig auf (RKI, 2008).
Nach Bundesländern, Landkreisen und Berliner Stadtbezirken sowie Gemeindetypen
Abbildung 2 veranschaulicht die Häufigkeit des Antibiotikagebrauchs in den drei Bundesländern in den Jahren 2010 und 2016. Deutlich wird, dass der Antibiotikagebrauch im Kindes- und Jugendalter in allen drei Bundesländern stark rückläufig war. Sowohl in 2010 als auch in 2016 war die Häufigkeit des Antibiotikagebrauchs in Brandenburg am niedrigsten. Der stärkste Rückgang zeigte sich mit 11,5% auf 29,7% in Mecklenburg-Vorpommern.
Neben der Analyse der Entwicklung des Antibiotikagebrauchs in den drei Bundesländern wurden diese auch auf Ebene der Landkreise beziehungsweise Berliner Stadtbezirke durchgeführt.
Für die Landkreise und Berliner Stadtbezirke ist die Prävalenz des Antibiotikagebrauchs im Jahr 2016 in der Abbildung 3 dargestellt.
Der höchste Anteil von Kindern und Jugendlichen mit mindestens einer Antibiotikaverordnung im Jahr 2016 wurde in Mecklenburg-Vorpommern mit 36,4% im Landkreis Vorpommern-Greifswald, der niedrigste mit 21,3% in Schwerin gemessen. Für den Landkreis Märkisch-Oderland wurde mit 32,9% der höchste Antibiotikagebrauch in Brandenburg ermittelt und im Landkreis Oberspreewald-Lausitz mit 19,7% der niedrigste. Zwischen den Berliner Stadtbezirken variierte der Anteil zwischen Pankow mit 22,0% und Friedrichshain-Kreuzberg mit 34,7%.
In Abbildung 4 ist die Entwicklung des Antibiotikagebrauchs im untersuchten Zeitraum in den Landkreisen und Berliner Stadtbezirken dargestellt.
Erfreulicherweise nahm in allen Landkreisen sowie in den Berliner Stadtbezirken der Antibiotikagebrauch bei Kindern und Jugendlichen zwischen 2010 und 2016 ab. Der höchste Rückgang wurde in Mecklenburg-Vorpommern in Schwerin mit 14,4% auf 21,3% ermittelt, der niedrigste mit 8,3% auf 30,2% im Landkreis Ludwigslust-Parchim. In Brandenburg zeigten sich der höchste Rückgang im Landkreis Oberspreewald-Lausitz mit 14,3% auf 19,7% und der niedrigste in der Prignitz mit 2,0% auf 31,3%. Unter den Berliner Stadtbezirken variierte der Rückgang des Antibiotikagebrauchs zwischen 11,9% auf 22,0% in Pankow und 2,8% auf 30,6% in Steglitz-Zehlendorf.
In der Gesamtregion ist neben der erfreulichen Entwicklung hin zu einem geringeren Verbrauch auch der Trend einer Annäherung der Verordnungsraten zwischen den betrachteten Einheiten zu verzeichnen. Das heißt, die Unterschiede bei den Verordnungshäufigkeiten zwischen den Landkreisen und Stadtbezirken gingen zurück. Im Jahr 2010 variierte der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit mindestens einer Antibiotikaverordnung zwischen 27,8% und 50,2%, im Jahr 2016 dagegen nur noch zwischen 19,7% und 36,4%. Unter der Annahme, dass die Erkrankungslast durch bakterielle Infektionen keine bedeutenden Unterschiede zwischen den Regionen aufweist, gibt diese Entwicklung einen weiteren wichtigen Hinweis auf eine Zunahme der Verordnungsqualität systemischer Antibiotika im Kindes- und Jugendalter in Nordostdeutschland.
Um den Einfluss ländlicher und städtischer Lebensräume zu untersuchen, wurden die Gemeinden in der Region Nordost auf Grundlage von EU-Richtlinien in ländliche, halbstädtische und städtische Gemeinden unterschieden (Abb. 5).
Für Mecklenburg-Vorpommern zeigten sich für alle Gemeindetypen hohe Rückgänge des Antibiotikagebrauchs. Mit 12,1% auf 26,8% war der Rückgang in den städtischen Gebieten Mecklenburg-Vorpommerns am höchsten. In 2016 war er damit in den städtischen Gemeinden ähnlich hoch wie in den städtischen Gemeinden Brandenburgs. In den halbstädtischen und ländlichen Gemeinden von Mecklenburg-Vorpommern lag der Antibiotikagebrauch dagegen auch 2016 noch über denen in Brandenburg.
Nach Nationalität für Berliner Kinder und Jugendliche
Eine Voraussetzung für die Gestaltung erfolgreicher Maßnahmen zur Stärkung eines sachgerechten Umgangs mit Antibiotika sind Kenntnisse der Faktoren, die einen unterschiedlich starken Antibiotikagebrauch erklären. Internationale Untersuchungen weisen darauf hin, dass individuelle Eigenschaften von Kindern und Jugendlichen, wie beispielsweise der soziokulturelle Hintergrund und die ökonomischen Verhältnisse der Familien, eine große Bedeutung für die Verordnung von Antibiotika in den unteren Altersgruppen haben (Mangrio et al. 2009; Thrane et al. 2003).
Für in Berlin lebende Kinder und Jugendliche wurde deswegen untersucht, ob sich der Antibiotikagebrauch zwischen den Nationalitäten unterscheidet.
Auf eine Auswertung für die Bundesländer Brandenburg und
Mecklenburg-Vorpommern wurde verzichtet, da dort nur sehr wenige Nationalitäten(-gruppen) die Mindestanzahl von 200 AOK Nordost-versicherten Kindern und Jugendlichen erfüllten. Die Darstellung beschränkt sich auf die vier Nationalitäten(-gruppen) mit dem höchsten und die vier mit dem niedrigsten Antibiotikagebrauch in 2010 sowie die Kinder und Jugendlichen mit deutscher Staatsangehörigkeit (Abb. 6).
Der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit mindestens einer Antibiotikaverordnung im Jahr 2010 variierte zwischen 48,4% bei Kindern mit libanesischer Staatsangehörigkeit und 25,3% bei Kindern der asiatischen Nationalitätengruppe. Libanesische Kinder und Jugendliche bekamen folglich fast doppelt so häufig mindestens ein Antibiotikum verordnet wie asiatische Kinder. Für alle dargestellten Nationalitäten zeigten sich deutliche absolute und relative Reduktionen im Antibiotikagebrauch zwischen 2010 und 2016. Der größte absolute (14,1%) und relative (33,0%) Rückgang wurde für Kinder und Jugendliche mit irakischer Staatsangehörigkeit gemessen.
Nach Wirkstoffgruppen
Bei der Entstehung und Ausbreitung von Resistenzen gegenüber Antibiotika spielt nicht nur die Häufigkeit des Antibiotikaeinsatzes, sondern auch die Wirkstoffauswahl eine zentrale Rolle In Tabelle 2 ist jeweils der Anteil an Kindern und Jugendlichen mit mindestens einer Verordnung eines Antibio-tikums aus der jeweiligen Wirkstoffgruppe im Analysejahr dargestellt, darüber hinaus die relative und absolute Reduktion des Anteils zwischen 2010 und 2016 (Tab. 2).
Erfreulicherweise ging der Verbrauch aller Substanzgruppen zurück. Der stärkste absolute und relative Rückgang konnte für Cephalosporine der dritten Generation beobachtet werden. Dies ist eine besonders erfreuliche Entwicklung. Cephalosporine der zweiten und der dritten Generation sollten als Reserveantibiotika vor allem im ambulanten Setting nur zurückhaltend verordnet werden. In deutschen Leitlinien werden diese Wirkstoffe zumeist als Arzneimittel der Reserve oder gar nicht für die Behandlung häufiger Infekte im Kindesalter empfohlen (AkdÄ 2014, DEGAM 2014a, DEGAM 2014b DEGAM 2009). Ein sachgerechter Einsatz von Cephalosporinen ist aufgrund ihrer wichtigen Rolle bei der Entstehung von Multiresistenzen besonders wichtig (GERMAP 2012). Eine weitere Reduktion des Gebrauchs der Cephalosporine der 2. und 3. Generation ist folglich anzustreben. Demgegenüber wiesen Breitspektrumpenicilline nur einen geringen Rückgang auf. Da jedoch Amoxicillin bei vielen Infektionen der Atemwege bei Kindern entsprechend der Leitlinien das Mittel der ersten Wahl ist und zudem in der Gruppe der Breitspektrumpenicilline den Hauptteil der Verordnungen darstellt, deutet auch dieser mäßige Rückgang in dieser Substanzgruppe auf eine Zunahme der Versorgungsqualität hin.
Diskussion
Die dargestellten deutlichen Reduktionen des Antibiotikagebrauchs im Kindes- und Jugendalter sind ein Hinweis darauf, dass sich die Verordnungskultur im Nordosten in den letzten Jahren gewandelt hat und Antibiotika zurückhaltender und vermutlich auch gezielter eingesetzt wurden. Diese positive Entwicklung betrifft insbesondere Mecklenburg-Vorpommern, das zumindest bis ins Jahr 2010 hinein noch als ausgewiesene Hochverbrauchsregion bei der Anwendung von Antibiotika im pädiatrischen Setting galt (Hering et al. 2014).
Trotz dieser erfreulichen Entwicklung des pädiatrischen Antibiotikagebrauchs bestanden im Jahr 2016 noch immer große regionale Unterschiede in der Häufigkeit, mit der Antibiotika zum Einsatz kamen. So war der Antibiotikagebrauch bei Kindern und Jugendlichen in Mecklenburg-Vorpommern im Kreis Vorpommern-Greifswald mit 36,4% fast doppelt so hoch wie der im brandenburgischen Oberspreewald-Lausitz (19,7%). Hieraus lassen sich weiterhin bestehende wichtige Potenziale für die Verbesserung des Antibiotikaeinsatzes in den nordostdeutschen Regionen ableiten, um den insgesamt positiven rückläufigen Trend zu erhalten.
Es liegt nahe, dass auch die breite öffentliche Diskussion zu einem stärkeren Bewusstsein für die Gefahren durch Antibiotikaresistenzen und damit zum Rückgang des Antibiotikagebrauchs bei Kindern und Jugendlichen beigetragen hat. Die verstärkte mediale Auseinandersetzung der letzten Jahre mit den Risiken eines breiten Antibiotikaeinsatzes hat vermutlich zu besser informierten Patienten und Eltern als auch zu einem bewussteren Antibiotikaeinsatz durch ambulant tätige Mediziner geführt.
Die vorgestellten Ergebnisse können als Basis für die gezielte Entwicklung von Programmen zur Förderung eines rationalen Antibiotikaeinsatzes unter Berücksichtigung der regionalen Gegebenheiten genutzt werden. Studien belegen, dass mittels spezifischer Kommunikationstrainings für Ärzte deutliche Verbesserungen der Verordnungsmuster erreicht werden können. Ziel derartiger Trainings ist es, Mediziner für die Sorgen und Sichtweisen der Patienten zu sensibilisieren und sie über die Vermittlung von Kenntnissen zu Krankheitsverlauf, Behandlungsoptionen sowie Nutzen und Risiken von Antibiotika stärker in den Entscheidungsprozess einzubinden (Altiner et al. 2007; Little et al. 2013). Die hier beobachteten Unterschiede des Antibiotikagebrauchs zwischen Kindern mit unterschiedlichem Migrationshintergrund weisen darauf hin, dass es sinnvoll sein kann, die interkulturellen Kompetenzen von Medizinern im Umgang mit unterschiedlichen kulturell geprägten Wirksamkeitserwartungen von Antibiotika zu stärken. <<