Große gemeinsame Chance für Politik und Akademia
>> „Nur wer Ziele hat, kann erfolgreich sein!“ So lautet nicht nur das Fazit, sondern auch der Aufruf von Dr. med. Reinhard Busse MPH, Professor für Management im Gesundheitswesen an der Fakultät Wirtschaft und Management der Technischen Universität Berlin, gleichzeitig Co-Director des European Observatory on Health Systems and Policies und Fakultätsmitglied der Charité – Universitätsmedizin Berlin, sowie Leiter der DNVF-Adhoc-Kommission und einer der Mit-Initiatoren des gut besuchten DNVF-Forums (s. Seite 46), das weit mehr als eine Steilvorlage lieferte, mit der man sich Versorgungszielen ebenso systematisch wie wissenschaftlich annähern kann.
Aufgerufen dies zu tun, sind nicht nur in erster Linie die Fachgesellschaften, sondern auch Patientenvertretungen, Stakeholder sowie Organisationen und Institutionen der Selbstverwaltung und selbstredend auch die Politik, die sich auf einheitliche Ziele verständigen müssen. Gemeint sind Versorgungsziele, die besser in englisch zu beschreiben sind, weil – so Prof. Busse – dieser Begriff im Deutschen zu unscharf für eine ganze Begriffskaskade verwandt wird. Angefangen bei „Priciples & Values“ (auf der Ebene der EU-Gesundheitsminister), über „Goals“ (als übergeordnete Fernziele auf europäischer wie nationaler Ebene), „Objectives“ (Nahziele) bis hin zu quantitativen wie qualitativen „Targets“. Busse: „Rückübersetzend müssen wir uns immer überlegen, auf welcher Ebene wir uns bewegen.“ So könne eine höhere Lebenserwartung sowohl als Value, als auch als Target formuliert werden. Wobei, und das ist das echt Schwierige dabei, nicht nur die Definition der jeweiligen Versorgungsziele (um das jeweils formulierte Endziel zu erreichen), sondern auch die jeweiligen Indikatoren jeweils andere sein werden.
Leicht hat es sich die Ad-hoc-Kommission des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung unter Busses Leitung gewiss nicht gemacht, um in zweijähriger Arbeit das zu leisten, was eigentlich schon weit vor oder spätestens zum Start des Innovationsfonds fertig hätte sein müssen. Das liegt auch daran, dass – so (noch) DNVF-Vorsitzender Prof. Dr. Edmund Neugebauer – das Thema „einige nicht als Problem erkannt haben mögen“, doch sei es eines, „besonders im Rahmen des Innovationsfonds“. Dieser werde zwar laut Aussage des aktuellen Koalitionsvertrags fortgeschrieben, aber reduziert. „Warum weniger?“, fragt Neugebauer rhetorisch und anwortet: „Weil des öfteren argumentiert wird, dass man für Versorgungsforschung nicht mehr so viel Geld wie bisher brauche, weil schon das Meiste abgearbeitet sei“. Doch, so Neugebauer:
„Das ist ein großer Irrtum!“ Das sehe man schon alleine daran, dass aus der Flut an Innovationsfonds-Anträgen ein wahrer Stau entstanden, der Fonds „völlig überzeichnet“ sei. Neugebauer: „Der Innovations-Ausschuss steht nun vor der großen Frage, wo letztlich das endliche Geld hinfließen soll, wenn zu viele gute Anträge auflaufen.“ Genau dafür brauche man Versorgungsziele, doch ebenso eine Struktur, eine Matrix, mit der die Politik in Zukunft besser mit allen Invests umgehen könne, nicht nur mit dem des Innovationsfonds.
Genau dieses Schema präsentierte Busse auf dem DNVF und setzte es zu Beginn seines Vortrags in den zeitlichen wie inhaltlichen Rahmen der internationalen Diskussion. Seiner Aussage nach befinden sich international „Versorgungsziele“ in der Schnittmenge zwischen breit angelegten – d.h. über das Gesundheitssystem im engeren Sinne hinaus reichenden – Gesundheitszielen (initiiert mit „Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000“ der WHO, erstmals 1980 verabschiedet als „health target“ und „health for all“ aus dem Jahre 2000) und dem „Health System Performance Assessment“ (HSPA); das erstmals mit dem Weltgesundheitsbericht 2000 bekannt geworden sei. Damals, nun auch schon wieder 18 Jahre her, hätte sich die WHO unter anderem mit dem Vergleich der Gesundheitssysteme beschäftigt und immerhin 191 dieser Systeme in einem großen Ranking bewertet. Genau dafür, so Busse, hatte man Ziele gebraucht, anhand derer man die Gesundheitssysteme vergleichen und in ein Ranking stellen konnte. Nun genau dazwischen steht laut Busse der Begriff „Versorgungsziele“, der indes noch durch eine dritte Säule flankiert werde: Das sei der Begriff der Qualität der Versorgung, der auch um diese Zeit, im Jahr 2001 vom Institute of Medicine – später adaptiert von der OECD – eingeführt worden sei.
Wer nun denkt, mit der eigentlichen Definition von Versorgungszielen (ob nun als Goals, Objectives oder Targets) sei es getan, irrt gewaltig. Die reine Definition ist nach Busses Worten nur eine von mehreren Stufen eines hochkomplexen Prozesses. Darum wehrt sich Busse auch gegen den Vorwurf, das DNVF wollte „einfach Ziele in die Welt setzen“ oder gar eine Konkurrenz zu „gesundheitsziele.de“ sein. Beides stimme nicht, auch wenn – anders als das vom DNVF vorgeschlagene Schema – der Aufbau von gesundheitsziele.de sowohl hinsichtlich der Messbarkeit und Spezifität als auch hinsichtlich des Zeithorizonts recht unspezifisch bliebe. Die sich inzwischen im DNVF formierte „Gesundheitsziele-Community“ hingegen propagiert das sogenannte SMART-Schema, d.h. Ziele sollen immer „Specific“ (Was soll besser werden?), „Measurable“ (messbar), „Achievable“ (zustimmbar durch alle Stakeholder), „Realistic“ (im Sinne von finanzierbar und wissensbasiert) sowie „Time-Bound“ (nicht zu anspruchsvoll, aber auch nicht zu einfach zu erreichen sein, um eine realistische Zeitperspersktive zu haben) sein. Busse: „Gesundheitsziele.de ist im qualitativen Rahmen verblieben, wir wollen das nicht ersetzen, aber SMARTe Versorgungsziele daneben setzen.“
Set von Versorgungsziel-Prozessen
Um diese SMARTen Versorgungsziele, besser ein ganzes Set von Versorgungsziel-Prozessen erarbeiten zu können, steht eine zentrale Aufgabe ganz am Anfang. „Wer Ziele definieren will, sollte zuerst einmal wissen, wo man eigentlich genau steht“, erklärt Busse, und gleich auch wie. Entweder man nimmt einen internationalen Vergleich, wie es zum Beispiel die Niederlande oder Belgien tun, eine Statusbeschreibung des Ist-Zustands oder einer Analyse der Veränderung des Ist-Status im Vergleich zu dem vor beispielsweise 10 Jahren.
Erst wenn man diese Hausaufgabe erledigt hat, könne man daran gehen, die übergeordneten Values und Objectices zu definieren (z.B: „Wollen wir länger leben?“, „Wollen wir besser leben?“, „Wollen wir alle gleich gut und gleich lange leben?“) und sich dann auf die Versorgungsziele im engeren Sinne verständigen. Danach erst folgt, was beispielsweise der Innovationsfonds seit 2017 mit 225 Millionen Euro pro Jahr, aber auch das BMBF fördert, aber eben vorher keine Ziele definiert hat: Die Festlegung und Durchführung derjenigen Projekte, die zu Änderungen und Reformen führen können, welche zur Erreichung der vorher definierten Versorgungsziele als geeignet erscheinen.
Das Schema des DNVF (s. Abb.) folgt dem OECD-Quality Framework, das einem Qualitätsbericht aus den USA sowie einer Weiterentwicklung aus Holland entstammt, mit dessen Hilfe in den Niederlanden – allerdings letztes Jahr ausgesetzt – ein regelmäßiger Bericht zum Assessment des niederländischen Gesundheitssystems, inklusive der Evidenz zum jeweiligen Status Quo sowie der Entwicklung seit dem jeweils letzten Bericht, vorgelegt wird. Mit einem einfachen Farbschema (rot = „wir wissen eigentlich gar nichts“, gelb = „wir wissen ein bisschen etwas“, grün = „wir haben gute Daten“) wird dann der Ist-Status in verschiedenen Bereichen hinterlegt. Busse: „Es wird nicht überraschen, dass die Niederländer wie wir auch bei der Akutversorgung die meisten Daten haben, in der Pallativversorgung die wenigsten.“
Das niederländische Modell wurde jedoch etwas ergänzt, auch änderte sich die Reihenfolge der Spalten. Beispielsweise sei die Kategorie „Zugang“ sachlogisch vor Qualität platziert worden. „Ich verstehe nicht, warum so oft die Qualität vor Zugang steht“, erklärt Busse diesen Schritt. Für diejenigen, die Zugang zum Gesundheitssystem hätten, müsse die Qualität stimmen. Doch für diejenigen, die keinen Zugang haben, sei die Qaulität letztlich egal. Die Rechnung ist laut Busse recht simpel: „Wer keinen Zugang zum Gesundheitssystem hat, hat schlechte Ergebnisse. Wer einen Zugang hat, aber eine schlechte Qualität, hat gegenüber dem, der gar keinen Zugang hat, auch nichts gewonnen.“ Daher schlägt er eine einfache Multiplikation vor: Zugang mal Qualität gleich gesundheitliche Ergebnisse („improved health“). Um nun noch auf die Dimension Effizenz und Kosteneffektivät zu kommen, müsse man nur noch das erzeugte Ergebnis aus Zugang und Qualität durch investierte Ressourcen (Geld, Krankenhaus-Aufenthalte, Arzt-Patienten-Kontakte usw.) dividieren und erhalte somit eine Kennzahl für die Effizienz des jeweiligen Versorgungsbereichs. „Das entspricht ziemlich genau dem amerikanischen Triple Aim aus der Beurteilung von Zugang, Qualität und Kosten“, sagt Busse.
Insgesamt kann man sich das vorgeschlagene Vorgehen als ein 5-Stufen-Modell vorstellen, das sich eines leicht abgewandelten iterativen PDCA-Zyklus (Plan-Do-Control-Act), eines Lern-Prozesses des US-amerikanischen Physikers Walter Andrew Shewhart, bedient:
(1) Deskription der Versorgung,
(2) ihrer Analyse,
(3) Ableitung von Zielen, auf deren Grundlage,
(4) Maßnahmen festgelegt und, z.B. im Rahmen von Innovationsfonds-Projekten, getestet werden, um
(5) ihren Erfolg hinsichtlich Zielerreichung bzw. Verbesserung zur initialen Situation vor einer breiten Implementation darzustellen.
Dieses Vorgehen, zum einen anschlussfähig an das internationale HSPA, andererseits an nationale Aktivitäten wie Leitlinien, Krebsplan und Diabetes Surveillance des RKI, würde dieses Schema – so ist sich Busse sicher – das aktuell wenig systematische Vorgehen, auch für Projekte im Innovationsfonds, beenden. Aber auch das Risiko minimieren, dass eben nicht diejenigen Projekte ausgewählt werden, die die größten Probleme adressieren bzw. das höchste Verbesserungspotenzial aufweisen.
Doch bevor es soweit ist, muss das Modell noch einem Praxistest unterzogen werden, was auf dem DNVF-Forum schon Prof. Dr. Jochen Schmitt (Zentrum für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung der Universität Dresden) mit einer Ableitung von Qualitätsindikatoren aus Versorgungspfaden und Versorgungszielen sowie Prof. Dr. Steffi Riedel-Heller (Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health der Universität Leipzig) mit der Entwicklung von Versorgungszielen am Beispiel der Demenz (allerdings ohne systematische Literaturrecherche) erprobt und damit begonnen haben.
Ziele auch in allen Leitlinien
Begonnen deshalb, weil ein solcher Konsensusprozess (vorgeschlagen wird die Testung an drei ausgewählten Indikationen Demenz, Diabetes, Krebs) dauert, ebenso keineswegs „nebenbei“ durchzuführen ist. „Das Schema ist nicht nur hilfreich, sondern bringt in die Diskussion eine Bewussteinswerdung“, erklärte Prof. Dr. Leonie Sundmacher (Universität München und Mitglied des Expertenbeirats im Innovationsausschuss) in der anschließenden Podiumsdiskussion. Für Schmitt hingegen sind die Versorgungsziele mehr, nämlich „eine große gemeinsame Chance
für Politik und Akademia wie alle Partner im Gesundheitssystem, die hier zeigen können, was wir wissen oder auch nicht wissen“ sowie eine probate Herangehensweise, wie man künftig Forschungsgelder sinnvoller einsetzen könnte. Und nicht nur hier, wie Prof. Dr. Peter Falkai (AWMF) hinzusetzte: „Wir müssen uns darauf einigen, die Versorgungsziele auch in die Leitlinien einzuarbeiten, doch dazu brauchen die Fachgesellschaften mehr Zusammenarbeit mit dem DNVF.“
Bedeckter zeigte sich Heiko Rottmann-Großner. Der Leiter des Leitungsstabs von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zog sich vorwiegend auf die Position zurück, dass die Politik eigentlich nur den Rahmen setzen sollte, während eine „funktionierende Selbstverwaltung“ die Aufgabe der Ausgestaltung habe. Ein zu definierendes Versorgungsziel könne jedoch eine gute Versorgung und ein guter Zugang in der Fläche sein, wie ihn aktuell Gesundheitsminister Spahn ausgegeben habe. Auf dieser Metaebene könne die Politik dann einen nötigen Rahmen setzen und auch die nötige Unterstützung geben, indes nicht festgemacht an einzelnen Krankheitsbildern. Hier seien die medizinischen Fachgesellschaften gefordert.
Was die Gretchenfrage aufwirft, wie man ein konsentiertes Konzept und ein standardisiertes Vorgehen zur Deskription, Analyse, Zielsetzung und Identifikation von Maßnahmen für wichtige Indikationsbereiche nicht nur finanzieren (mit ca. 500.000 Euro pro Indikation), sondern auch wie man die nötigen Humanressourcen freimachen kann. Womit sich der Kreis zur künftigen Ausgestaltung des Innovationsfonds bezüglich des Budgets für Versorgungsforschung schließt: Aufgaben gibt es in Hülle und Fülle. Man muss sie nur strukturiert angehen. „Wenn alle mitmachen, funkioniert das!“ So lautete Neugebauers Schlusswort, der am Tag des Forums satzungsgemäß vom Vorsitz des DVNF zurücktrat, aber in den erweiterten Vorstand gewählt wurde. <<
von: MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier
Zitationshinweis : Stegmaier, P.: „Große gemeinsame Chance für Politik und Akademia“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (03/18), S. 31-33, doi: 10.24945/MVF.03.18.1866-0533.2079