Wie können wir die Bremsen lösen?
>> Die entscheidende Ursache: Initiatoren, die der Aufforderung des Gesetzgebers folgen und mit viel Mühe versuchen, etwas Neues zu entwickeln, erfahren im Dickicht der Regelungen und der festgefahrenen Strukturen des Gesundheitswesens in höchstem Maße Widerstand. Dies gilt vor allem für das Agieren des Bundesversicherungsamts, der Aufsicht über die Krankenkassen. Die vom Gesetzgeber gewollten Freiheitsgrade für Integrationsverträge werden durch sehr restriktiv ausgelegte Interpretationen vom BVA wieder eingeschränkt. So treten in Verbindung mit einem gelegentlich sehr zurückhaltenden Agieren der Krankenkassen dann die oben beschriebenen Fallstricke wieder auf. Für das Investment in neue und damit auch komplexere Lösungen brauchen die Investoren (Leistungserbringer und/oder Krankenkassen) ausreichende Sicherheiten, dass ein solches Investment heute, morgen und übermorgen noch gewünscht ist und sich damit lohnt. Da im Gesundheitswesen oft mehrere Jahre zwischen der Investition, dem nachweisbaren Gesundheitsnutzen und dem daraus folgenden Ertrag liegen, werden klare Zielvorgaben durch den Gesetzgeber benötigt. Die Verfasser haben daher ein 5-Punkte-Sofortprogramm zum Barriereabbau zugunsten einer patientenzentrierten integrierten Versorgung entwickelt:
1. Der Gesetzgeber bekennt sich explizit zum Ziel einer integrierten populationsorientierten Versorgung – etwa mit der Vorgabe, dass bis zum Jahr 2025 10% und bis zum Jahr 2030 25% der deutschen Bevölkerung von entsprechenden regionalen populations- und outcomeorientierten Verträgen nach §140a SGB V2 profitieren, bei der Erhaltung ihrer Gesundheit unterstützt und über alle Sektoren hinweg gut versorgt werden.
Hintergrund
In den USA hatte der Gesetzgeber sich zum Ziel gesetzt, bis Ende 2018 50% der staatlichen Gesundheitsausgaben rein über outcomeorientierte und 90% über zumindest zum Teil outcomeorientierte Vergütungsmodelle zu organisieren3.
Dies hat u.a. dazu geführt, dass innerhalb von sechs Jahren über 900 intersektorale Accountable Care-Organisationen gegründet wurden.4
2. Neben Leistungserbringern und Verbünden können auch regionale Gebietskörperschaften oder Zusammenschlüsse derselben bzw. „regionale Gesundheitskonferenzen“ bei Krankenkassen Verträge zur integrierten Versorgung in der jeweiligen Region initiieren. Dabei ist es wichtig, dass sie vergleichende Regionalanalysen vom BVA und den Krankenkassen abfordern dürfen. Denn nur so lassen sich Bedarfe und Verbesserungschancen im interregionalen Vergleich formulieren. Krankenkassen und regionale Leistungserbringer müssen dann gegenüber der Aufsicht und der Öffentlichkeit begründen, warum sie nicht bereit sind, solche Verträge abzuschließen.
Hintergrund
Ohne regionale Datentransparenz quer über die gesamte GKV bleiben Initiativen zur Verbesserung der regionalen Versorgung immer abhängig von der Bereitschaft einzelner Krankenkassen, ihre Daten zur Verfügung zu stellen. Leistungserbringer oder ihre Zusammenschlüsse können allenfalls allgemeine, durch Einzelerfahrungen bedingte und damit wenig valide Aussagen machen. Die regionalen Gebietskörperschaften oder Zusammenschlüsse derselben bzw. „regionale Gesundheitskonferenzen“ wären geeignete und legitimierte Gremien, um Verbesserungslösungen anzustoßen. Eine regionale Datentransparenz schafft die Grundlage, damit Krankenkassen und regionale Leistungserbringer sich über Verbesserungsmöglichkeiten austauschen. Um einen gewissen Zugzwang zu setzen, sollen die regionalen Gebietskörperschaften die Möglichkeit erhalten, öffentliche Erklärungen abzufordern, sofern die Kassen und/oder die Leistungserbringer nicht bereit sind, Verträge zur sektorenübergreifenden Versorgung abzuschließen.
3. Der Gesetzgeber verändert die Ausrichtung des Bundesversicherungsamts (und damit indirekt die Landesaufsichten) von der aktuell eher restriktiven Aufsicht hin zu einer proaktiven Aufsicht. Er könnte den Krankenkassen die oben benannte Quote zur Teilnahme von 10% ihrer Versicherten an integrierten populationsorientierten Verträgen bis 2025 als Zielvorgabe vorgeben und durch das BVA prüfen lassen.
Hintergrund
Das BVA bzw. die Landesaufsichten werden durch die aktuelle Prüfungsform bzgl. Wirtschaftlichkeit und Gesetzeskonformität, verbunden mit einer sehr spezifisch eingegrenzten Interpretation des § 140 a, im Moment von vielen Krankenkassen als Bremser innovativer Lösungen sowohl im Bereich IV/Besondere Versorgung wie auch im Bereich Digital Health gesehen. Eine Reihe von Krankenkassen legt aktuell in der Antizipation befürchteter negativer späterer Auflagen (Vorstandshaftung) alle Verträge vorab dem BVA zur Prüfung vor, obwohl das so nicht vom Gesetzgeber vorgesehen ist. Eine Umkehr der Anforderungen hin zur Erfüllung der vom Gesetzgeber auferlegten Quote würde die Anreize für die Krankenkassen verändern. Dies ließe sich auch für die positiv evaluierten Innovationsfondsprojekte nutzen. Hier müssten Krankenkassen dem BVA/der Landesaufsicht gegenüber argumentieren, weshalb sie positiv evaluierte Verträge nicht mit geeigneten Partnern umgesetzt haben.
4. Eine besondere Barriere für die Multiplikation von sektorübergreifenden Versorgungsformen ist der fehlende Anreiz für die Krankenkassen, in derartige Vertragsformen und damit in Ergebnisqualität zu investieren. Ein Public Reporting bzgl. der Leistungsergebnisse der Krankenkassen hinsichtlich der positiven Veränderung der Morbidität und den Patient Reported Outcomes ihrer Versicherten würde hier Abhilfe schaffen. Die bereits vorhandene Datenbasis beim BVA könnte für einen Start genutzt werden. So gäbe es für die Versicherten und die Öffentlichkeit einen zusätzlichen Beurteilungsmaßstab, gleichzeitig hätten die Krankenkassen einen Präventions- und Qualitätsanreiz.
Hintergrund
Die Krankenkassen bestimmen durch ihr Vertragsverhalten, ihr Einkaufsverhalten (z.B. bei Selektivverträgen), ihre Informationsschriften, ihre Internetangebote und ihr Leistungs(verweigerungs)verhalten zu einem maßgeblichen Teil das Gesundheitsergebnis, das letztendlich beim Patienten ankommt. Aktuell kann aber niemand außerhalb der Krankenkassen dieses Ergebnis einsehen. Im Gegenteil besteht durch die Systematik des Morbi-RSA sogar ein gewisser Fehlanreiz für Krankenkassen, Versicherte durch die Ärzte kränker codieren zu lassen. Die erfolgreiche Gesundung dagegen würde in der Folge zu geringeren Einnahmen führen. Eine Outcome-Transparenz und ein entsprechendes öffentliches Ranking würden insofern auch hier dazu führen, die Anreize auszubalancieren, vgl. dafür die näheren Überlegungen unter 5. Im Rahmen des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung gibt es interessierte Wissenschaftler und Institute, die sich gern an der Entwicklung einer geeigneten Methodologie und Adjustierung beteiligen würden. Wir bewegen uns damit auf einem Diskussionslevel, der auch international interessant ist. So wird in den USA und in UK daran gearbeitet, anhand von Indikatoren-Katalogen die Vergleichbarkeit von ACOs zu ermöglichen – in den USA über die CMS (verschiedenen Kennzahlen zu Patientenzufriedenheit, klinischen Indikatoren, Effizienz). Im Vereinigten Königreich sind die Verfasser selber involviert über die Arbeit mit dem NHS England.
5. Ein Public Reporting der Performance soll auch für die regionalen integrierten Versorgungssysteme (regionale populations- und outcomeorientierten Verträge) entwickelt werden. So kann ein Wettbewerb um Outcome und Value in den regionalen integrierten Versorgungssystemen entstehen. Basis sind die GKV-Routinedaten, die zwischen Krankenkassen und diesen Versorgungssystemen zur Erzielung von Lerneffekten geteilt werden müssen, wobei der Datenschutz für die Versicherten sicherzustellen ist. Der Gesetzgeber sollte hierfür eine spezielle Regelung und ein vergleichendes alters- und morbiditätsadjustiertes Public Reporting nach dem Vorbild des o.a. Reportings für Krankenkassen vorsehen.
Fazit
Der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD für die Große Koalition hat sich des Themas der Sektorübergreifenden Versorgung angenommen. Darin ist die Einrichtung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe beschrieben, die Vorschläge erarbeiten soll. Das oben vorgeschlagene Sofortprogramm würde eine ausgezeichnete Vorlage für die Bund-Länder-Arbeitsgruppe abgeben und ihr ermöglichen, in Ruhe und im Detail die großen Themengebiete im Bereich der Bedarfs- und Versorgungsplanung, der Überarbeitung der sektorenbezogenen Vergütungssysteme, der Optimierung der Notfallversorgung und der transsektoralen Qualitätssicherung etwa mit den sogenannten „area indicators“ sowie der Einbeziehung der weiteren Gesundheitsberufe und der Patienten auszuarbeiten. Gleichzeitig würde den Initiatoren von sektorenübergreifenden Versorgungslösungen eine Sicherheit gegeben werden, dass ihre Investitionen in die Vorbereitung derartiger Verträge eine hinreichende Aussicht auf einen Abschlusserfolg bieten würden. <<
von: Dr. h.c. Helmut Hildebrandt, Dr. Oliver Gröne und Dr. Alexander Pimperl*
Korrespondenzadresse*
Dr. h.c. Helmut Hildebrandt, Dr. Oliver Gröne, Dr. Alexander Pimperl
OptiMedis AG, Burchardstraße 17, 20095 Hamburg, Tel: +49 40 22621149-0, E-Mail: h.hildebrandt@optimedis.de
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Die Ursachen sind bekannt ...
Es gibt entscheidende Qualitätsprobleme im deutschen Gesundheitswesen. Sie sind bekannt und in den Sachverständigengutachten der letzten Jahre vielfach dokumentiert:
• Unser Gesundheitssystem ist von seinen Vergütungsstrukturen her zu sehr auf Behandlung ausgerichtet und nicht darauf, Gesundheit zu erhalten und zu fördern.
• Jeder einzelne Behandler in den unterschiedlichen Sektoren hat sein eigenes Geschäftsmodell. Ein verbindendes ökonomisches Interesse, den Gesamtprozess der Entstehung und Behandlung von Erkrankungen zu optimieren, sowie Patienten in ihrer Gesundheitskompetenz und ihrem Selbstmanagement zu fördern, gibt es nicht.
• Der Patient wird nicht ausreichend als aktiver Partner im Entwicklungsprozess von Gesundheit angesehen und unterstützt, häufig wird er stattdessen sogar unmündig gehalten.
Sektorenübergreifende Versorgung im Koalitionsvertrag
„Die Zusammenarbeit und Vernetzung im Gesundheitswesen müssen ausgebaut und verstärkt werden. Für eine sektorenübergreifende Versorgung wollen wir weitere nachhaltige Schritte einleiten, damit sich die Behandlungsverläufe ausschließlich am medizinisch-pflegerischen Bedarf der Patientinnen und Patienten ausrichten.“
„Wir werden eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter Einbeziehung der Regierungsfraktionen im Deutschen Bundestag einrichten. Diese Arbeitsgruppe wird Vorschläge für die Weiterentwicklung zu einer sektorenübergreifenden Versorgung des stationären und ambulanten Systems im Hinblick auf Bedarfsplanung, Zulassung, Honorierung, Kodierung, Dokumentation, Kooperation der Gesundheitsberufe und Qualitätssicherung unter Berücksichtigung der telematischen Infrastruktur bis 2020 vorlegen. Dabei sollen Spielräume für regionale Ausgestaltungen ermöglicht werden.“
Literatur
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Zitationshinweis: Hildebrandt, H., Gröne, O., Pimper, A.: "Wie können wir die Bremsen lösen?", in „Monitor Versorgungsforschung“ (05/18), 21-33; doi: 10.24945/MVF.05.18.1866-0533.