Sie sind hier: Startseite Abstracts Kurzfassungen 2021 MVF 05/21 Thesenpapier 8.0 zur Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19
x
Um unsere Webseite für Sie optimal zu gestalten und fortlaufend verbessern zu können, verwenden wir Cookies. Durch die weitere Nutzung der Webseite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen zu Cookies erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Thesenpapier 8.0 zur Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19

22.09.2021 10:20
Bei diesem Text handelt es sich um die Kurzfassung, des Thesenpapiers 8.0, das die Autorengruppe (siehe MVF Online First) erarbeitet hat (Datum 29.8.2021), das zu folgenden Aspekten Stellung nimmt: 1. Es wird ein Konzept für das Verständnis der Epidemie entwickelt (Kap. 2 „Pandemie als Komplexes System“), mit dem das schwer zu entschlüsselnde Verhalten der Epidemie zu erklären ist, und das es erlaubt, Empfehlungen für die Steuerung (Messparameter) und die Präventionsstrategie abzuleiten; 2. Es wird ein Indikatoren-Set entwickelt (Kap. 3), das die Melderate („Inzidenz“) ablösen kann und über eine erheblich bessere Aussagekraft verfügt; 3. Es werden in einem umfangreichen, kritischen Ansatz das Wissen zur SARS-CoV2-Epidemie im Kindes- und Jugendalter dargestellt (Kap. 4) und weitgehende Erleichterungen für diese bisher am stärksten psychosozial belastete Bevölkerungsgruppe gefordert; 4. Es wird eine Politische Theorie der Pandemie vorgestellt, die die „Massivreaktion“ der gesellschaftlichen und politischen Ebenen erklärt und für die Diskussion der Handlungsoptionen öffnet. Die Autorengruppe beschäftigt sich seit März 2020 ehrenamtlich mit der Corona-Thematik und greift kontinuierlich mit Thesenpapieren und Ad-hoc-Stellungnahmen in die politische Diskussion ein.

doi: http://doi.org/10.24945/MVF.05.21.1866-0533.2348

PDF

Aktualisierung Stand: 29. August 2021, 12:00h

Abstract

Bei diesem Text handelt es sich um die Kurzfassung des Thesenpapiers 8.0, das die Autorengruppe (siehe MVF Online First) erarbeitet hat (Datum 29.8.2021), das zu folgenden Aspekten Stellung nimmt:
1. Es wird ein Konzept für das Verständnis der Epidemie entwickelt (Kap. 2
„Pandemie als Komplexes System“), mit dem das schwer zu entschlüsselnde Verhalten der Epidemie zu erklären ist, und das es erlaubt, Empfehlungen für die Steuerung (Messparameter) und die Präventionsstrategie abzuleiten;
2. Es wird ein Indikatoren-Set entwickelt (Kap. 3), das die Melderate („Inzidenz“) ablösen kann und über eine erheblich bessere Aussagekraft verfügt;
3. Es werden in einem umfangreichen, kritischen Ansatz das Wissen zur SARS-CoV2-Epidemie im Kindes- und Jugendalter dargestellt (Kap. 4) und weitgehende Erleichterungen für diese bisher am stärksten psychosozial belastete Bevölkerungsgruppe gefordert;
4. Es wird eine Politische Theorie der Pandemie vorgestellt, die die „Massivreaktion“ der gesellschaftlichen und politischen Ebenen erklärt und für die Diskussion der Handlungsoptionen öffnet.
Die Autorengruppe beschäftigt sich seit März 2020 ehrenamtlich mit der Corona-Thematik und greift kontinuierlich mit Thesenpapieren und Ad-hoc-Stellungnahmen in die politische Diskussion ein.

Pandemic as a complex system – Managing the epidemic through indicator sets – Children and adolescents in the Corona pandemic – Politics and democracy under pandemic conditions

This text is the abridged version, of the Thesis Paper 8.0. prepared by the group of authors (see MVF Online First) (date 29.8.2021), which comments on the following aspects:
1. a concept for understanding the epidemic is developed (chap. 2
Pandemic as a Complex System“), which can be used to explain the behavior of the epidemic, which is difficult to decipher, and which allows recommendations for control (measurement parameters) and prevention strategy to be derived;
2. a set of indicators is developed (chap. 3) that can replace the reporting rate („incidence“) and has a much better informative value;
3. a comprehensive, critical approach to the knowledge of the SARS2 epidemic in children and adolescents is presented (chap. 4), and far-reaching relief is demanded for this population group, which has so far been the most psychosocially burdened;
4. a political theory of the pandemic is presented that explains the „massive response“ of the social and political levels and opens it up for discussion of options for action.
The authors‘ group has been working on the Corona issue on a voluntary basis since March 2020 and continuously intervenes in the political discussion with thesis papers and ad hoc statements. Status: August 29, 2021, 12:00h

Keywords
Pandemic, SARS-CoV-2, Covid-19, epidemiology, prevention, socio-political relevance

Prof. Dr. med. Matthias Schrappe / Hedwig François-Kettner / Prof. Dr. Dr. med. René Gottschalk
/ Franz Knieps / Dr. med. Andrea Knipp-Selke / Prof. Dr. rer. pol. Philip Manow / Prof. Dr. med. Klaus Püschel / Prof. Dr. rer. nat. Gerd Glaeske

Thesenpapiere

Thesenpapier 1.0 (Tp1.0): Schrappe, M., Francois-Kettner, H., Gruhl, M., Knieps, F., Pfaff, H., Glaeske, G.: Thesenpapier zur Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19. Datenbasis verbessern, Prävention gezielt weiterentwickeln, Bürgerrechte wahren. Köln, Berlin, Hamburg, Bremen 5.4.2020, Monitor Versorgungsforschung, https://www.monitorversorgungsforschung. de/Abstracts/Abstract2020/PDF-2020/MVF-0320/Schrappe_Covid_19
Thesenpapier 2.0 (Tp2.0): Schrappe, M. (2020B), Francois-Kettner, H., Knieps, F., Pfaff, H., Püschel, K., Glaeske, G.: Thesenpapier 2.0 zur Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19. Datenbasis verbessern, Prävention gezielt weiterentwickeln, Bürgerrechte wahren. Köln, Berlin, Hamburg, Bremen 3.5.2020, https://www.monitorversorgungsforschung.de/efirst/schrappe-etal_covid-19-Thesenpapier-2-0
Thesenpapier 3.0 (Tp3.0): Schrappe, M., François-Kettner, H., Gruhl, M., Hart, D., Knieps, F., Pfaff, H., Püschel, K., Glaeske G.: Thesenpapier 3.0 zu SARS-CoV-2/Covid-19-Strategie: Stabile Kontrolle des Infektionsgeschehens, Prävention: Risikosituationen verbessern, Bürgerrechte: Rückkehr zur Normalität. Köln, Berlin, Bremen, Hamburg, 28.6.2020, Monitor Versorgungsforschung, http://doi.org/10.24945/MVF.04.20.1866-0533.2231
Thesenpapier 4.0 (Tp4.0): Schrappe, M., François-Kettner, H., Gruhl, M., Hart, D., Knieps, F., Manow, P., Pfaff, H., Püschel, K., Glaeske, G.: Die Pandemie durch SARSCoV-2/Covid-19 – der Übergang zur chronischen Phase (Thesenpapier 4.0, 30.8.2020). Verbesserung der Outcomes in Sicht; Stabile Kontrolle: Würde und Humanität wahren; Diskursverengung vermeiden: Corona nicht politisieren. Köln, Berlin, Bremen, Hamburg, 30.8.2020, Monitor Versorgungsforschung, http://doi.org/10.24945/MVF.05.20.1866-0533.2248
Thesenpapier 4.1 (Tp4.1): Schrappe, M., François-Kettner, H., Gruhl, M., Hart, D., Knieps, F., Manow, P., Pfaff, H., Püschel, K., Glaeske, G.: Die Pandemie durch SARSCoV-2/Covid-19 – der Übergang zur chronischen Phase. Verbesserung der Outcomes in Sicht; Stabile Kontrolle: Würde und Humanität wahren; Diskursverengung vermeiden: Corona nicht politisieren (Überarbeitung als Thesenpapier 4.1, 5.10.2020). https://www.monitor-versorgungsforschung.de/Abstracts/Abstract2020/MVF-05-20/Schrappe_etal_Thesenpapier_4-1_Corona-Pandemie

Ad-hoc-Stellungnahme (SN): Schrappe, M., François-Kettner, H., Gruhl, M., Hart, D., Knieps, F., Manow, P., Pfaff, H., Püschel, K., Glaeske, G.: Ad hoc-Stellungnahme der Autorengruppe zur Beschlussfassung der Konferenz der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsident/innen der Länder am 14.10.2020: Die Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19 – Gleichgewicht und Augenmaß behalten. Köln, Berlin, Bremen, Hamburg, 18.10.2020, https://www.monitor-versorgungsforschung.de/news/ad-hoc-stellungnahmezur-ministerpraesidenten-konferenzThesenpapier 5: Schrappe, M., François-Kettner, H., Gruhl, M., Hart, D., Knieps, F., Manow, P., Pfaff, H., Püschel, K., Glaeske, G.: Die Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19 – Spezifische Prävention als Grundlage der „Stabilen Kontrolle“ der SARS-CoV-2-Epidemie (Thesenpapier 5.0). Köln, Berlin, Bremen, Hamburg, 25.10.2020. Monitor Versorgungsforschung, https://www.monitor-versorgungsforschung.de/Abstracts/Abstract2020/mvf-0620/Schrappe_etal_Thesenpapier_5-0_Corona-Pandemie, doi: http://doi.org/10.24945/MVF.06.20.1866-0533.2266

Thesenpapier 6: Schrappe, M., François-Kettner, H., Gruhl, M., Hart, D., Knieps, F., Manow, P., Pfaff, H., Püschel, K., Glaeske, G.: Thesenpapier 6, Teil 6.1: Epidemiologie. Die Pandemie durch SARS-CoV-2/CoViD-19, Zur Notwendigkeit eines Strategiewechsels. Köln, Berlin, Bremen, Hamburg, 22.11., Monitor Versorgungsforschung 13, 2020, 76-92, http://doi.org/10.24945/MVF.06.20.1866-0533.2267

Thesenpapier 7.0: Schrappe, M., François-Kettner, H., Gruhl, M., Hart, D., Knieps, F., Manow, P., Pfaff, H., Püschel, K., Glaeske, G.: „Sorgfältige Integration der Impfung in eine umfassende Präventionsstrategie“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (01/21), S. 75-81; doi: http://doi.org/10.24945/MVF.01.21.1866-0533.2283

Printmagazin abonnieren

Einzelheft bestellen

Ausgabe im Archiv (nur für angemeldete Benutzer/Abonnenten)


Zitationshinweis: Schrappe et al.: „Thesenpapier 8 – Die Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19
„Pandemie als komplexes System – Steuerung der Epidemie durch Indikatoren-Sets – Kinder und Jugendliche in der Corona-Pandemie – Politik und Demokratie unter Pandemie-Bedingungen“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (05/21), S. 67-75. doi: http://doi.org/10.24945/MVF.05.21.1866-0533.2348

Open Access

Plain-Text:

1. Einleitung

>> Die Epidemie befindet sich nun in der zweiten Phase ihrer Entwicklung. In der ersten Phase (bis Anfang 2021) lag noch keine Impfung vor, und die politische Strategie bestand in einem reinen containment mit Kontaktreduzierung als einzigem Mittel, ohne auf die anderen Standbeine einer Epidemie-Kontrolle einzugehen (protection der vulnerablen Gruppen und mitigation, die Verhinderung von Infektionsfolgen). Die Folge war eine schier aussichtslose Aneinanderreihung von Lockdown-Maßnahmen, die einerseits zu erheblichen Konsequenzen in sozialer Hinsicht führten (die vor allem die Kinder und alte Menschen zu tragen hatten) und andererseits hinsichtlich der Mortalität der älteren Bevölkerung vollständig versagten.
Die zweite Phase war (und ist) durch die Verfügbarkeit der Impfung gekennzeichnet, die – entgegen aller Warnungen – als Allheilmittel angesehen wurde, obwohl die Immunität durch die Impfung nicht sterilisierend ist (das zeigten bereits die allerersten Studien) und absehbare Konflikte um den Zugang zur Impfung (Priorisierung) und den Umgang mit nicht-geimpften Personengruppen vor der Tür standen. Da es in der ersten Phase nicht zur Entwicklung einer tragfähigen Präventions-Gesamtstrategie gekommen war, konnte man in der zweiten Phase nicht auf eine eigentlich dringend notwendige Flankierung bzw. Einbettung der Impfkampagne in eine nicht-pharmakologische Präventionsstrategie, zurückgreifen.
Vor diesem Hintergrund kommt es gegenwärtig zu einer unentwirrbaren Verstrickung von Resten der Lockdown-Politik mit ihren (nur unzuverlässig zu erhebenden) Steuerungsgrößen der „7-Tages-Inzidenz“ bzw. des abgeleiteten „R-Wertes“ (und weiteren eindimensionalen Größen, die derzeit diskutiert werden) auf der einen Seite und dem Regelungsbedarf resultierend aus den Konflikten um die Impfung auf der anderen Seite. Die graduelle Differenzierung vulnerabel vs. nicht-vulnerabel wird durch die Differenzierung geimpft vs. nicht-geimpft (vs. nicht impf-fähig) ergänzt und die Gesamtkomplexität steigt dadurch erheblich an. Die Regelungsgrößen, die sich in der politischen Diskussion befinden, können nicht Schritt halten, im Gegenteil: es entsteht der Eindruck einer weitgehenden Desorientierung und fehlenden Zielgenauigkeit von einzelnen Maßnahmen und Grenzwerten. Konnte man die erste Phase noch durch die Allegorie „Tunnel ohne Ausgang“ beschreiben (sozusagen „Lockdown ohne Ende“), ähnelt die jetzige Situation eher einem Tunnel-Labyrinth ohne jegliche Anmutung einer Richtung bzw. Perspektive. Es bleibt völlig unklar, aufgrund welcher Daten oder welcher Beschlussinstanzen der Umgang mit Geimpften und Nicht-Geimpften (Regelungen wie „3G“ oder „2G“) vorgenommen werden, welche inkrementelle Bedeutung „alten“ Melderaten-basierten Grenzwerten im Vergleich zu rezent diskutierten „Hospitalisierungsinzidenzen“ oder Impfquoten zukommt – alles noch unter dem zusätzlichen Aspekt, dass wir in Deutschland nicht einmal über reliable Daten zu den realen Impfquoten verfügen. Die weitere Entwicklung verspricht leider keine Besserung, denn die Konflikte um die „Impfdurchbrüche“ stehen noch an, Konflikte, die besonders schwer zu lösen sind, weil es für die Impfbereitschaft natürlich kein förderliches Argument ist, wenn man über die Diskussion über eine „Drittimpfung“ den Nutzen der Impfung insgesamt relativiert (ganz abgesehen davon, wie die wissenschaftliche Absicherung einer dritten Impfung aussieht). Der Wahlkampf und die anstehende, evtl. nicht einfache Regierungsbildung machen es sicherlich nicht einfacher.

2. Pandemie als Komplexes System
In Kap. 2 wird ein Konzept der Epidemie entwickelt, das zum grundlegenden Verständnis und zur besseren Strukturierung der Präventionsmaßnahmen beiträgt. Das Konzept geht von einer Kritik des biologischen Reduktionismus aus, das dem jetzigen Verständnis zugrunde liegt. Wir verfügen über zahlreiche Zahlen zum Virus, aber wir verstehen nicht das Geringste: nicht warum sich die Epidemie mal vor und mal zurück entwickelt, warum sie sich in einem Land so und in einem anderen anders entwickelt, auf dem Land anders als in der Stadt etc. Die Versuche der Modellierer, das Verhalten der Epidemie auf der Basis von Kompartimenten unterschiedlicher Größe und unter der Annahme linearer Prozesse („R-Wert über 1“) unter multivariatem Einschluss einzelner (bekannter) Parameter zu prognostizieren („mechanistisches Modell“), schlagen sämtlich fehl. Die Grundannahme eines solchen linearen, oligo-kompartimentellen Verhaltens der Epidemie kann folglich nicht sinnvoll aufrechterhalten werden. Als Alternative wird daher die Epidemie als Komplexes System (Vogelschwarm, Wetter) verstanden, die einzelnen Personen als Elemente des Systems, die Infektion als Interaktion, die Infektionsvorgänge als Resultante von Virus-, Wirts- und Umgebungseigenschaften, die nach den in komplexen Systemen durchaus vorhandenen, jedoch nicht sichtbaren Regeln ablaufen.
Aus dieser Warte werden die maßgeblichen Eigenschaften einer Epidemie deutlich: eine Epidemie insbesondere mit asymptomatischer Übertragung fällt durch ein oft paradox erscheinendes, überraschendes Verhalten auf (sog. Emergenz), eine Vorhersage ist schwierig, kleine Veränderungen können große Folgen haben (oder die Folgen können ausbleiben). Das Verhalten der Epidemie ist brute force nicht zu verstehen, insbesondere da die Zahl der Elemente und die Regeln ihrer Interaktion nicht bekannt sind. Man kann solche Systeme aber verstehen lernen, wenn man ihre Zustandspräferenzen kennenlernt (im Bild: wo sich der Vogelschwarm gerne niederzulassen pflegt; sog. Attraktoren), wenn man die Kontextfaktoren identifiziert (hierzu gehören z.B. die Ausstattung und Funktionalität der Pflegeeinrichtungen oder des Gesundheitssystems) und wenn man sich die Mühe von iterativen Interventionen macht (und diese sorgfältig dokumentiert).
Auf dieser Basis kann man dann versuchen, mit einem Set von Indikatoren die Entwicklung indirekt abzubilden. Im Fall von SARS-CoV-2/Covid-19 stehen die bekannten Wirtsfaktoren (Alter, bestimmte Komorbiditäten) als Attraktoren im Vordergrund, weiterhin bestimmte Umgebungsfaktoren (z.B. kühles, nasses Wetter ohne Sonneneinstrahlung, enge Räume ohne Lüftung). Wenn man gründlich arbeitet, kann man darauf ein Konzept zum Umgang mit der Epidemie entwickeln, das jedoch von allen Phantasien à la „das Virus besiegen“ weit entfernt ist. Mehr ist zu lernen, wenn man wiederholte Interventionen und besonders sog. Komplexe Mehrfachinterventionen einsetzt, also mehrere gleichzeitig angewandte Präventionsmaßnahmen, und man dadurch erkennt, wie sich die Epidemie verhält. Ist es wirklich sinnvoll, die Schulen zu schließen? – das kann man beobachten und untersuchen. Werden durch die Schulschließungen Todesfälle in Altersheimen verhindert? – auch dies kann man herausfinden. Hierzu ist es jedoch notwendig, dass eine Gesellschaft sich auf den Weg macht und sich nicht in einem angsterfüllten Zustand einschließt (die politische Führung inklusive), sondern Experimente und Erfahrungen zulässt, deren Ergebnis von vorneherein nicht immer vorhersagbar sind.
Aus der Charakterisierung einer Epidemie als Komplexem System sind sowohl die Mess- und Steuerungsinstrumente als auch die Präventionsmaßnahmen abzuleiten. Eine Messung und Steuerung durch isolierte Einzelwerte scheidet von vorneherein aus und kann höchstens orientierend sinnvoll sein (1. Kardinalfehler im bisherigen Pandemie-Management). Stattdessen sind zusammengesetzte Indikatoren-Sets notwendig, so wie sie von der Autorengruppe bereits in Thesenpapier 3 vorgeschlagen wurden. Auch wenn man weniger auf sozioökonomische Parameter Wert legen will, sind Score-Systeme sinnvoll, die verschiedene Indikator-Typen vereinigen und so einen validen Blick auf das Geschehen erlauben (s. Kap. 3.5).
Für die Präventionsmaßnahmen gilt analog zur Messung, dass auch hier Einzelmaßnahmen wirkungslos sind, da sie ein komplexes System nicht im Geringsten beeindrucken können (2. Kardinalfehler im bisherigen Pandemie-Management); stattdessen ist ebenfalls ein kombiniertes Vorgehen notwendig, so wie es in der Infektiologie durch die Komplexen Mehrfachinterventionen (Complex Multicomponent Interventions, CMI) gängig ist, die auf den dreidimensionalen Grundsätzen containment, protection und mitigation einerseits und erregerseitigen, Wirts- und Umgebungsfaktoren andererseits beruhen (s. Tab. 1).
Ein solches Konzept umfasst ein adäquates framing (aktive Handlungsoptionen erkennbar machen, transparente Form der Wissensgenerierung), keine übersteigerten Erwartungen an die Impfkampagne (sondern durch nicht-pharmazeutische Prävention flankieren), Kontaktbeschränkungen mit Schutzmaßnahmen (protection) in Einklang bringen, positive Beeinflussung der Infektions- und Krankheitsfolgen betonen (mitigation), für eine reliable Messung des Erfolges der Maßnahmen sorgen und erreichbare Ziele setzen (als Kernpunkt einer adäquaten Risikokommunikation und eines adäquaten Führungsverständnisses). Die Impfkampagne muss – will sie erfolgreich sein – in eine solches Konzept eingepasst werden.
Abschließend ist auf die Gefahr aufmerksam zu machen, dass durch das komplexe Wechselspiel zwischen Epidemie und Gesellschaft nicht nur erklärende, erhellende Einsichten sowie Handlungsoptionen gewonnen werden, sondern dass auch unerwartete, emergente Entwicklungen hervorgerufen werden können, die möglicherweise sehr negative Auswirkungen, ja sogar neue und tiefergehende Konflikte zur Folge haben. Aus dieser Perspektive kann nur mit Nachdruck auf die Notwendigkeit zu einem bedachten, nicht ein-dimensionalen sondern multiperspektivischen Vorgehen geraten werden. Um negative Entwicklungen zu vermeiden und die Resilienz der Gesellschaft zu stärken, ist insbesondere die Wiedereinsetzung der Grundrechte als unbedingtes Ziel zu bezeichnen. So sind Versuche, über die Argumentation „Gesundheitsschutz“ und „Epidemie-Bekämpfung“ Instrumente der fortgesetzten Orts- und Kontaktkontrolle in digitaler Form zu etablieren, abzulehnen und müssen sofort beendet werden.

3. Epidemiologie
In der letzten Zeit hat sich für die Melderate (notification rate) bzw. die sog. „7-Tage-Inzidenz“ ein gradueller Bedeutungswandel vollzogen. Einerseits wird nun doch zunehmend realisiert, dass dieser Wert bei fehlender Korrektur etwa für Alter, Komorbidität oder Impfstatus wenig Aussagekraft hat, andererseits wird er nicht mehr als direktes Maß für die Dynamik der Epidemie verstanden, sondern zunehmend als Vorhersagewert („Indikator“) für die weitere Entwicklung. Diskutiert man die Melderate nun auf der Grundlage des Indikatoren-Konzeptes, muss auch hier festgehalten werden, dass der Indikator „7-Tage-Inzidenz“ als alleiniges Mittel zur Beschreibung des Krankheitsverlaufes und der Nutzung der Einrichtungen des Gesundheitswesens nicht zu verwerten ist. Der Indikator ist weder adäquat spezifiziert (fragliche Begriffsbildung, inadäquater Be-obachtungszeitraum, fehlender Populationsbezug) noch zuverlässig (reliabel) zu messen (v.a. abhängig vom Stichprobenumfang, Teststrategie), außerdem ist er nicht valide und wird sehr stark durch bekannte sowie unbekannte Störvariablen beeinflusst.
Besonders fallen kleinräumige Unterschiede hinsichtlich Demografie, Komorbidität und Umgebungsfaktoren (v.a. soziale Benachteiligung, Arbeitsumwelt) ins Gewicht, weswegen eine Vergleichbarkeit gemessener Indikatorausprägungen (Melderaten-Werte) zwischen kleinräumigen Regionen nicht gegeben ist. Auch andere, neuerdings diskutierte Einzelwerte (z.B. „Hospitalisierungsinzidenz“) sind nicht sinnvoll einzusetzen. Soweit man eine Epidemie als komplexes System versteht (s. Kap. 2), ist ein anderer Befund auch nicht zu erwarten, stattdessen muss man eine Auswahl von Indikatoren treffen (Indikatoren-Sets).
Zur Bildung von Indikatoren-Sets stützt man sich auf eine Systematik, die einerseits Indikatoren von der quantitativen Messung abgrenzt, andererseits globale von problemorientierten, spezifischen Indikatoren unterscheidet, und drittens Laborbefunde (sog. Surrogat-Marker) von Outcome-bezogenen Indikatoren (z.B. Intensivbehandlungsrate) differenziert. Weiterhin bedürfen Indikatoren zur Beschreibung einer Epidemie einer kontinuierlichen Überprüfung und Anpassung (iterative Problemanalyse), will man vermeiden, dass Daten ohne Aussagekraft oder sogar mit falschem Informationsgehalt generiert oder über ihr „Verfallsdatum“ hinaus genutzt werden.
Ein konkreter Vorschlag für ein solches multidimensionales Indikatoren-Set zur Steuerung wird vorgestellt, das basierend auf dem Entwurf der Deutschen Krankenhausgesellschaft eine Altersstratifizierung und weiterhin eine nach Impfstatus, Komorbidität, sozioökonomischen Faktoren und Positivitätsrate nebst Testfrequenz spezifizierte Melderate in den Mittelpunkt stellt. Weiterhin werden Outcome-Indikatoren wie die (ebenfalls nach Komorbidität und Impfschutz spezifizierte) Hospitalisierung, Intensivbelegung und Beatmungspflichtigkeit herangezogen. Allerdings ist eine politische Linie beim Übergang in multidimensionale Steuerungssysteme derzeit nicht erkennbar.
4. Kinder und Jugendliche in der Corona-Pandemie
Kinder und Jugendliche sind die großen Verlierer dieser Pandemie. In keiner anderen Altersgruppe weicht das Ausmaß der Einschränkungen so stark vom persönlichen Nutzen ab. Kinder und Jugendliche erkranken entweder asymptomatisch oder haben einen milden Verlauf, bieten aber dennoch einen langfristigen Immunschutz. Weniger als 1% aller Kinder und Jugendlichen musste wegen und mit einer SARS-CoV-2-Infektion hospitalisiert werden (einschließlich PIMS), ein tödlicher Verlauf ist extrem selten und liegt deutlich unter den so genannten „allgemeinen Lebensrisiken“.
Im Rahmen des Übergangs von einer pandemischen zu einer endemischen Dynamik wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit im Herbst zu einer Erhöhung des relativen Anteils dieser Altersgruppe am Infektionsgeschehen kommen. Ob sich diese Erhöhung des relativen Anteils auch in absoluten Zahlen widerspiegeln wird, ist fraglich, und dass damit mehr schwere oder gar tödliche Verläufe verbunden sein werden, ist unwahrscheinlich.
Bei Long Covid handelt es sich um ein bislang nicht fest definiertes Krankheitsbild, das ein breites Spektrum unspezifischer Symptome umfasst. Um eine genauere Kenntnis über die Anzahl möglicher Fälle und die klinische Abgrenzung zu entwickeln, bedarf es weiterer Studien. Insbesondere ist differentialdiagnostisch zu klären, inwieweit es sich bei dem Symptomenkomplex um Long Covid oder um „Long Pandemic“ handelt, also welche Rolle den sekundären Folgen der Kontaktbeschränkungen speziell für Kinder zuzuschreiben ist.
Die mit den Corona-Maßnahmen verbundenen gesundheitlichen Konsequenzen für die Kinder und Jugendlichen waren und sind dramatisch. Der Verlust eines strukturierten Alltags durch die Schließung der Kindergärten und Schulen, Bildungsverluste, fehlende Sozialkontakte zu Gleichaltrigen, Fehlernährung, Bewegungsmangel und erhöhter Medienkonsum sind für die Heranwachsenden mit einem erheblichen gesundheitlichen Risiko verbunden. Bei den Jugendlichen hat nach dem ersten Lockdown die Prävalenz depressiver Symptome deutlich zugenommen, bei den Jungen hat sie sich verdoppelt, bei den Mädchen gar verdreifacht. Jugendliche mit Migrationshintergrund waren stärker von depressiven Symptomen betroffen als solche ohne. Gewalttaten gegen Kinder und Jugendliche, sexueller Missbrauch und Kinderpornographie haben drastisch zugenommen.
Dabei hat es sich gezeigt, dass Kinder keine Treiber der Pandemie und Schulen keine Hotspots sind. Die Infektionen wurden zum ganz überwiegenden Teil in die Schulen hineingetragen, nur selten nahmen Infektionsketten ihren Ursprung in den Schulen, was zahlreiche (auch internationale) Studien belegen. Fraglos sind Kinder und Jugendliche grundsätzlich Teil des Infektionsgeschehens. Manifestation, Krankheitslast und Infektiosität von Kindern mögen geringer sein, liegen aber den bisherigen Daten zufolge nicht bei Null.
Inwieweit die Corona-spezifischen Maßnahmen (allgemeine Maskenpflicht für Schüler, Quarantäne) in Kindertagesstätten und Schulen einen Nutzen für das allgemeine Infektionsgeschehen darstellen und dazu beitragen, dieses zu reduzieren, muss bezweifelt werden. Pflichttestungen in Kindergärten und Schulen sind im Hinblick auf ihre Risiko-, Aufwand- und Nutzenbewertung weder geeignet noch verhältnismäßig, insbesondere angesichts der Tatsache, dass Kinder und Jugendliche nur mild erkranken. Forderungen nach noch mehr, gar nach täglichen Schnelltests in Schulen, entbehren jeder wissenschaftlichen Basis.
Die überarbeitete Impfempfehlung der STIKO für die 12-17-Jährigen lässt viele Ärzte und Familien ratlos zurück, nicht nur, weil die Frage nach dem gesundheitlichen Nutzen für eine Impfung dieser Altersgruppe nach wie vor nicht ersichtlich ist, sondern auch, weil die Frage möglicher Langzeitfolgen eines innerhalb so kurzer Zeit nach Entwicklung und Markteinführung eingeführten Impfstoffs noch nicht zu beantworten war. Zurück bleibt das ungute Gefühl einer unter größtem politischen Druck ergangenen Empfehlung, derer es letztlich nicht bedurft hätte, weil die STIKO schon zuvor allen 12-17-Jährigen eine Impfmöglichkeit eingeräumt hatte.
Ob die Impfung den Kindern und Jugendlichen den psychosozialen Druck, unter dem sie mit Gewissheit stehen, nehmen kann, darf bezweifelt werden – Ursache des Drucks ist nämlich kein Virus, sondern eine Politik, die den Lebensalltag der Heranwachsenden unverhältnismäßig eingeschränkt hat. Möglicherweise erhöht die Empfehlung diesen Druck sogar noch – Jugendliche berichten von steigendem Druck seitens ihrer Mitschüler und einiger Lehrer, sich impfen zu lassen. Impfbusse, die vor Schulen vorfahren, tun das Ihrige dazu.
Die Öffnung der Schulen an die Forderung nach einer bestimmten Impfquote in der Bevölkerung zu knüpfen, ist unhaltbar. Das gilt im Übrigen auch für die Universitäten. Jetzt, wo allen Bürgern ein Impfangebot offensteht, sind weitere Freiheitsbeschränkungen für Schüler und Studierende durch nichts mehr zu rechtfertigen. Kinder und Jugendliche haben während der Pandemie einen erheblichen Beitrag für die Gesellschaft geleistet und dabei selbst gravierende Nachteile in Kauf nehmen müssen. Bei allen Maßnahmen, die künftig gelten sollen, ist ihr Wohl vorrangig zu berücksichtigen – unabhängig vom Impfstatus.

5. Politik und Gesellschaft
Die Infektionskrankheiten stellen die einzige Krankheitsgruppe dar, bei der im Verhältnis von Patient und Behandlungssystem eine „dritte Größe“, nämlich ein übertragbarer Krankheitserreger, eine aktive Rolle spielt. Die Gesellschaft und das Behandlungssystem sind nicht nur als unilaterale Einflussfaktoren auf das Verhalten des Infektionserregers zu verstehen, sondern das infektiöse Agens wirkt seinerseits auf die Gesellschaft und die Strukturen des Behandlungssystems zurück: die Gesellschaft ist ebenfalls betroffen. Diese „Infektion der Gesellschaft“ erklärt die Massivreaktion, die alles außer Kraft zu setzen droht, die Entwicklungen denkbar macht, die vorher undenkbar waren. Als Ursache dieser Massivreaktion wird in diesem Text eine historische Synchronisation unterschiedlicher Widersprüche des gesellschaftlichen Systems diskutiert, die durch gleichsinnige Ausrichtung eine überadditive Kraft entwickeln.

Neun Aspekte bzw. Widerspruchsebenen werden diskutiert:
Aspekt 1 – Gesundheitswissenschaft: Grundlagen- vs. anwendungsorientierte Wissenschaft.
In der Gesundheitswissenschaft ist es zu einer gewaltigen Macht- und Ressourcenverschiebung zugunsten der grundlagenorientierten, patientenfernen Forschung gekommen. Die Fächer, die für eine klinische, patientennahe Forschung stehen (einschließlich der psychosozialen Aspekte) und wichtige Konzepte wie die der Evidence-based Medicine, der Patientenautonomie und der Patient-Reported Outcomes wurden an Rand gedrängt und teilweise ihrer epistemischen Grundlagen beraubt.

Aspekt 2 – Krankheitsverständnis: biologischer vs. sozialer Krankheitsbegriff.
Der Krankheitsbegriff in seinem Wechselspiel zwischen biologischem und sozialem Verständnis hat durch die SARS-CoV-2/Covid-19-Epidemie eine abrupte Wendung hin zu einem dezidiert biologischen Reduktionismus genommen. Deutlich wird diese Entwicklung vor allem in der Konfiguration der Präventionsanstrengungen, die lediglich auf die Minimierung der Erregerausbreitung ausgerichtet sind und soziale Formen der epidemischen Kontrolle sowie die Folgen der containment-Politik weitgehend ausblenden.

Aspekt 3 – Patienten im Versorgungssystem: Autonomie vs. Paternalismus.
Hinsichtlich der Rolle der Patienten im Behandlungssystem hat sich in der Corona-Epidemie wieder auf der ganzen Linie das paternalistische Verständnis durchgesetzt. Informelle Selbstbestimmung, Patienten-Autonomie, Gesundheitskompetenz und Patient-Reported Outcomes sind in kürzester Zeit zu Fremdworten geworden, stattdessen dominieren Quarantänisierung und Entscheidungen über den Bewegungsradius von Patienten in Abhängigkeit von unzuverlässig erhobenen und mangelhaft definierten Messparametern. Einer Eigenverantwortung wird keine Bedeutung mehr beigemessen.

Aspekt 4 – Organisationstheorie: zurück zur hierarchischen Bürokratie.
Die Corona-Epidemie hat zu deutlichen Veränderungen im Machtgefüge der Organisationen im Gesundheitswesen geführt. Die Sonderform der Expertenorganisation mit ihrer großen Autonomie der Experten samt eigener Kunden-/Patientenbeziehungen konnte durch die Stärkung des Managements, dessen Rolle in der professional bureaucracy traditionellerweise schwach ausgeprägt ist, in Teilen zu einer klassischen hierarchischen Struktur rückentwickelt werden. Aufseiten der Experten wurde diese neue Situation durch höhere Bettenbestände, Freistellung von ökonomischen Zwängen und anderen als „bürokratisch“ erlebten Anforderungen stabilisiert.

Aspekt 5 – hierarchische statt korporatistische Steuerung im Gesundheitssystem.
In der Pandemie ist der etablierte und eingespielte korporatistische Steuerungsmodus im deutschen Gesundheitswesen einer hierarchischen Ad-hoc-Steuerung gewichen. Politischer Aktivismus des zuständigen Ressortchefs und die mangelnde operative Kompetenz eines vornehmlich auf Regulierung und Gesetzesvorbereitung ausgerichteten Ministeriums haben der Bundesrepublik eine Reihe kostenintensiver Beschaffungsskandale beschert, während gleichzeitig die politische Führungsebene sich nicht in der Lage sah, das Pandemiemanagement auf eine angemessene Datengrundlage zu stellen oder überhaupt eine mehr als auf kurzfristiges containment setzende Strategie zu entwickeln.

Aspekt 6 – Krise der Demokratie: Alternativlosigkeit der übergroßen „Mitte“ vs. parteipolitischem Pluralismus.
Die Pandemiepolitik hat sich in der Bundesrepublik im institutionellen Rahmen einer Bund-Länder-Koordinierung gestaltet. Sie setzte den parteipolitischen Wettbewerb nahezu gänzlich aus, verunklarte politische Verantwortlichkeiten, beförderte aber die Neigung, Kritik an diesem ‚überparteilichen‘, angeblich rein sachorientierten Modus schnell als unzulässige Systemkritik abzustempeln. Institutionelle Entdifferenzierung und föderale Selbstgleichschaltung standen der Entwicklung einer klaren, nicht nur kurzfristigen und an mangelhaften Parametern orientierten Pandemiestrategie entgegen, ebenso wie der Fähigkeit, von einem als nicht zielführend erkannten Weg wieder abzulassen.

Aspekt 7 – Tendenz zu apersonalen, technokratischen Koordinationsinstrumenten.
Persönlich-interaktive Mechanismen der gesellschaftlichen Koordination sind im Rahmen der SARS-CoV-2/Covid-19-Pandemie in den Hintergrund getreten. Besonders in der Auswahl der Präventionsstrategien zeigte sich ein fehlendes Vertrauen in die Lösungskompetenz sozialer Prozesse, stattdessen werden apersonale, technologisch orientierte Koordinationsmechanismen bevorzugt. Diese sind vor allem hierarchischer Struktur. Marktmechanismen haben partiell versagt und werden gegenwärtig wenig betont.

Aspekt 8 – Pandemie-Nationalismus statt internationaler Kooperation.
Die SARS-CoV-2/Covid-19-Pandemie hat zunächst zu einem auf den Ursprung der Epidemie und deren Ausbreitung bezogenen „Pandemie-Nationalismus“ geführt, der auch die Ressourcen zur Bekämpfung der Epidemie (Masken etc.) betraf. In der Folge hat sich dieser Prozess mit vorbestehenden Tendenzen nationalistischer Natur verbunden, die internationale Kooperation wurde eingeschränkt. Es bleibt abzuwarten, ob die Pandemie als Anlass einflussreich genug ist, um die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene (z.B. Impfkampagne) wieder mehr in den Vordergrund zu rücken.

Aspekt 9 – Medien: Aufmerksamkeitsökonomie vs. Pluralismus.
Zur institutionellen Entdifferenzierung der Pandemiepolitik gesellte sich die Einebnung der Rollendifferenzierung zwischen Politik, Wissenschaft und Medien. Politik behauptete, allein auf der Grundlage dessen, was die Wissenschaft sagte, zu handeln, Medien gerierten sich als Instanzen der Zu- und Aberkennung wissenschaftlicher Reputation, Wissenschaftler nahmen die Gelegenheit gerne wahr, der Politik die situativ gerade benötigte Expertise zu liefern. Wer in diesem Kartell nicht mitspielte, sah sich schnell ins moralische Abseits gestellt. Ihren Vorteil einer offenen, pluralen Diskussion hat die liberale Gesellschaft so preisgegeben.

In der Summe ist der Eindruck nicht zu verhehlen, dass lineare, hierarchische, gut messbar-biologistische, ins paternalistische reichende, letztlich einfache Erklärungs- und Steuerungsansätze wieder stark in den Vordergrund gerückt sind. Obwohl in den letzten Jahrzehnten in vielen gesellschaftlichen Bereichen (Gesundheitsversorgung, Organisationstheorie, Politik, Ökonomie etc.) lineare zu komplexen Konzepten fortentwickelt wurden, die auf ein einfaches actio-reactio-Verständnis verzichten, werden diese fortgeschrittenen Konzepte zur Bewältigung der SARS-CoV-2/Covid-19-Pandemie offensichtlich nicht als handlungsrelevant und lösungskompetent angesehen – obwohl heute gerade das Umgehen mit Komplexität die Kompetenz einer entwickelten Gesellschaft repräsentiert. <<

Ausgabe 05 / 2021

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

Gemeinsamer Priorisierungskatalog

« Dezember 2022 »
Dezember
MoDiMiDoFrSaSo
1234
567891011
12131415161718
19202122232425
262728293031