Wie kann die „Sprachbarriere“ überwunden werden? Aspekte der medizinischen Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Migrationshintergrund
doi: http://doi.org/10.24945/MVF.06.21.1866-0533.2358
Derzeit leben in Deutschland ca. 21,1 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund, das sind etwa 26% der Bevölkerung. Zu Sprachkenntnissen von Migrant-innen und Migranten gibt es keine amtlichen Statistiken in der Bundesrepublik Deutschland. Ärztinnen und Ärzte müssen nach deutschem Recht sicherstellen, dass der Patient oder die Patientin die Aufklärung zu seiner/ihrer Erkrankung und Therapie verstanden hat und seine Einwilligung rechtssicher erfolgt. Dies umfasst, soweit dies notwendig ist, auch das Übersetzen in andere Sprachen. Wir stellen eigene Untersuchungsergebnisse aus verschiedenen seit 1996 durchgeführten drittmittelgeförderten Studien mit dem Fokus Versorgung von Migrant-innen und Migranten vor, die sich auch auf die (deutsche) Sprachkompetenz bzw. Sprachfertigkeit von Menschen mit Migrationshintergrund beziehen. Eine aktuell laufende Befragung von Frauen auf den Wochenbettstationen von drei großen Berliner Geburtskliniken zeigt als Zwischenfazit einen Übersetzungsbedarf bei Migrantinnen der 1. Generation von ca. 40%. Der beste Weg wäre daher der Einsatz von professionellen, auch im Medizinvokabular geschulter Dolmetscherinnen und Dolmetschern, was aus technisch-organisatorischen und finanziellen Gründen realitätsfern ist. Daher schlagen wir als Lösung die Einrichtung einer landesweiten Telefondolmetschzentrale „24/7“ vor. Ähnliche Lösungen finden sich in verschiedenen europäischen Ländern. Für die Finanzierung sollte der Staat oder die Krankenkassen aufkommen.
How can the „language barrier“ be overcome? Aspects of medical care for patients with
migration background
Around 21.1 million people with a migration background currently live in Germany, around 26% of the population. There are no official statistics in the Federal Republic of Germany on the language skills of migrants. According to German law, doctors must ensure that the patient has understood the information about her illness and therapy and that her consent is given in a legally secure manner. If necessary, this also includes translation into other languages. We present our own research results from various third-party funded studies that have been carried out since 1996 with a focus on the care of migrants, which also relate to the (German) language competence or language skills of people with a migration background. A current survey of women in the postpartum wards of three large Berlin maternity clinics shows, as an interim conclusion, a need for translation among first-generation migrants of around 40%. The best way would therefore be to employ professional interpreters who are also trained in medical vocabulary, which is also unrealistic for technical, organizational and financial reasons. We therefore suggest setting up a nationwide telephone interpreting center „24/7“ as a solution. Similar solutions can be found in various European countries. The state or health insurance companies should pay for the financing.
Keywords
Migration, language skills, interpreting
Prof. Dr. med. Matthias David / Louise Marie Teschemacher MSc / Prof. Dr. PH Theda Borde
Literatur
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13. Thranberend, T., Gottschall, S.: Abschlussbericht. Bertelsmann-Stiftung Projekt Videodolmetschen in der Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund – Erkenntnisse aus dem Projekt „Flüchtlinge versehen“ 2016 https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Der_digitale_Patient/Thesenpapier_Video-Dolmetscher_161202.pdf (aufgerufen am 8.9.2021)
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Zitationshinweis: David, M., Teschemacher, L., Borde, T.: „Wie kann die Sprachbarriere überwunden
werden? Aspekte der medizinischen Versorgung von Patientinnen und Patienten mit
Migrationshintergrund“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (06/21), S. 53-58.
http://doi.org/10.24945/MVF.06.21.1866-0533.2358
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Plain-Text:
Wie kann die „Sprachbarriere“ überwunden werden? Aspekte der medizinischen Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Migrationshintergrund
Im Juni 2021 publizierten Schüttig und Sundmacher im „Monitor Versorgungsforschung“ Ergebnisse einer Delphi-Befragung und einer retrospektiven Datenanalyse dazu, wie sich Fehlinanspruchnahmen in Notaufnahmen potenziell vermeiden lassen. Sie identifizierten von den Autorinnen als „ambulant-sensitiv“ bezeichnete Notfälle, die sie so einstuften, dass hier eine Behandlung potenziell auch durch Vertragsärzte ambulant in der Regelversorgung erfolgen könnte. Im Ergebnis einer Regressionsanalyse zeigten die Autorinnen einen positiven Zusammenhang des Anteils an Personen mit Migrationshintergrund und der Rate der von ihnen so definierten ambulant-sensitiven Notfälle. Die Autorinnen vermuten, dass dies durch kulturelle Unterschiede in der Inanspruchnahme von Kliniknotaufnahmen, aber auch durch Sprachbarrieren erklärt werden kann (Schüttig u. Sundmacher 2021). Der nachfolgende Artikel widmet sich dem Thema, wie häufig und in welchem Ausmaß bei Menschen mit Migrationshintergrund mit einer solchen „Sprachbarriere“ zu rechnen ist und welcher Maßnahmen es bedarf, um diese im deutschen Gesundheitswesen abzubauen oder vielleicht ganz zu beseitigen. Dazu wird sowohl auf eigene Untersuchungsergebnisse der letzten 25 Jahre im Bereich Migrationsforschung/Public Health zurückgegriffen als auch auf allgemein zugängliche Daten des Statistischen Bundesamtes.
Im Verlauf von zehn Jahren kommt es zwar zu einer Verbesserung der mündlichen und der schriftlichen Deutschkenntnisse, aber Unterschiede nach Geschlecht und Herkunftsland bleiben bestehen. So schätzen weibliche und männliche Immigranten aus der Türkei ihre Deutschkenntnisse im Prozess der Erhebung am schlechtesten ein. Es gibt außerdem eine, allerdings relativ niedrige, Analphabeten-Quote. Ein besonders hoher Anteil findet sich unter älteren türkeistämmigen Frauen. Dieser primäre und funktionale Analphabetismus betrifft in der Regel Personen, die im Ausland geboren und dort nicht oder nur sehr kurz zur Schule gegangen sind (Haug 2008). Kenntnisse der Sprache des Herkunftslandes sowie die damit verbundene Mehrsprachigkeit ist unter der Bevölkerung mit Migrationshintergrund weit verbreitet. Allerdings ist die schriftliche Beherrschung der Sprache des Herkunftslandes und somit die sogenannte Bilingualität weitaus seltener als die mündliche (Haug 2008). Aktuell zeigt sich, dass sich bei nach Deutschland geflüchteten Menschen insgesamt verbesserte Deutschkenntnisse abzeichnen und etwa die Hälfte ihre Deutschkenntnisse als gut oder sehr gut einschätzen, allerdings bleiben Schwierigkeiten beim Erwerb der deutschen Sprache bei Frauen mit kleinen Kindern und Personen mit geringerer Vorbildung (de Paiva Lareiro et al. 2020).
Rechtliche Aspekte
Der Arzt/die Ärztin muss nach deutschem Recht sicherstellen, dass der Patient oder die Patientin die Aufklärung zu seiner/ihrer Erkrankung und Therapie verstanden hat und seine Einwilligung rechtssicher erfolgt (Bundesamt für Justiz 2021). Dies umfasst, soweit dies notwendig ist, auch das Übersetzen in andere Sprachen. Gerichte akzeptieren prinzipiell auch die Hinzuziehung von Laiendolmetschern, dies gilt aber nur, wenn sich der Arzt vergewissert hat, dass eine adäquate Aufklärung erfolgt. Die Anforderungen an die Aufklärung und an deren tiefes Verständnis steigen mit der Größe und dem Risiko des operativen Eingriffs. Eine elektive Behandlung sollte verweigert werden, wenn der Patient/die Patientin die Aufklärung offenbar nicht versteht. Wer die Kosten für das professionelle Dolmetschen übernimmt, ist bisher nicht eindeutig geregelt; grundsätzlich trägt sie der Patient bzw. die Patientin (Holtel u. Weber 2018).
Eigene Untersuchungsergebnisse
Nachfolgend möchten wir pars pro toto eigene Untersuchungsergebnisse aus verschiedenen, von unserer Arbeitsgruppe Borde/David seit 1996 initiierten bzw. durchgeführten drittmittelgeförderten Studien mit dem Fokus Versorgung von Migrantinnen und Migranten vorstellen, die sich auf die (deutsche) Sprachkompetenz bzw. Sprachfertigkeit von Menschen mit Migrationshintergrund beziehen.
Von 1996 bis 1999 befasste sich an der Frauenklinik der Berliner Charité, Campus Virchow-Klinikum unsere erste Studie mit einer „Analyse der Versorgungssituation gynäkologisch erkrankter deutscher und türkeistämmiger Frauen”. Dabei wurden von allen teilnehmenden Patientinnen u.a. Informationen über ihre Kenntnis der Erkrankung, die sie ins Krankenhaus geführt hatte, ihr Wissen über Diagnose und Therapie sowie ihr Verständnis der medizinischen Aufklärung erfragt. Am Tag vor der Entlassung aus der Klinik und damit nach der entsprechenden Aufklärung kannte nur etwa die Hälfte der türkeistämmigen Patientinnen (55%) ihre Diagnose im Detail, während 79% der deutschen Patient:
innen ihre Enddiagnose richtig wiedergeben konnten. Im Ergebnis der durchgeführten multiplen logistischen Regressionsanalyse waren Sprachkenntnisse einer der negativen prädiktiven Faktoren: Geringe deutsche Sprachkenntnisse waren verbunden mit nur begrenzt richtiger Wiedergabe von Diagnose und Therapie (Pette et al. 2004). Wir schrieben 2004 als Schlussfolgerung: „Unter der Voraussetzung, dass unsere Resultate generalisiert werden können, ist die Forderung nach einem Minimalstandard für den informed consent unvermeidlich. Wir halten deshalb die Bereitstellung professioneller Dolmetscherinnen und Dolmetscher für notwendig. Es ist enttäuschend, dass in einem industrialisierten Land wie Deutschland mit einer großen Anzahl ethnischer Minderheiten bisher noch keine verbindlichen Standards und Strategien für eine adäquate Kommunikation mit allen Bürgerinnen und Bürgern im Versorgungssystem eingeführt wurde...“ (Pette et al. 2004).
Die Abbildung 2 zeigt die von den befragten Patientinnen und Patienten angegebene Muttersprache in einer ersten von uns initiierten Notfallambulanz-Studie in den Jahren 2001/2002 in einer Klinik-Rettungsstelle im Berliner Stadtteil Wedding. Der Anteil der befragten Migrantinnen und Migranten mit guten Deutschkenntnissen in der Selbsteinschätzung war nach Alter, Geschlecht und betrachteter Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund unterschiedlich. Wir stellten in dieser Studie fest, dass die befragten Patientinnen und Patienten höheren Alters sowie Frauen in allen verglichenen Altersgruppen ihre Deutschkenntnisse relativ schlechter einschätzten. Besonders wenig Frauen mit guten Deutschkenntnissen in der Selbsteinschätzung fanden sich in der Gruppe der türkeistämmigen Migrantinnen, die älter als 50 Jahre waren (Abb. 3) (Borde et al. 2003).
Im Jahr 2011/2012 führten wir eine Studie zum „Einfluss von Migrations- und Akkulturationsprozessen auf Schwangerschaft und Geburt“ in drei großen Berliner Geburtskliniken durch, wobei ein Schwerpunkt auch das Thema Kommunikation und Sprache war. Im Rahmen eines umfangreichen Fragebogens baten wir Schwangere, die sich in der Kreißsaalaufnahme zur Geburt vorstellten, auch um eine Selbsteinschätzung ihrer Deutschkenntnisse, wenn sie eine andere Muttersprache als Deutsch angegeben hatten. Auf der Basis von 3.218 befragten Frauen zeigte sich ein deutlicher Unterschied zwischen Frauen mit eigener Migrationserfahrung (1. Migrantengeneration) und Frauen mit familiärer Migrationsgeschichte (2./3. Generation) (Abb. 4). Wir stellten fest, dass bei den Schwangeren mit Migrationshintergrund selbst eingeschätzte geringe Deutschkenntnisse mit einer geringen Schulbildung sowie mit einer niedrigeren Akkulturation assoziiert waren (Abb. 5) (Brenne 2014).
Von 2017 bis 2019 führten wir unsere dritte Notfallambulanz-Studie in drei Kliniknotfallambulanzen in Berlin durch. Die Abbildung 6 gibt die Antworten auf die Frage „Wie gut sprechen und verstehen Sie nach Ihrer eigenen Einschätzung Deutsch?“ der Notfallpatientinnen und -patienten mit Migrationshintergrund, unterteilt nach 1. und 2. Migrationsgeneration, wieder. Von den Personen, die der sogen. 2. Migrationsgeneration zugeordnet wurden, gaben nach eigener Einschätzung deutlich über 90% gute oder sehr gute Deutschkenntnisse an. Unter den Personen mit eigener Migrationserfahrung waren dies nur etwas weniger als die Hälfte. Bei den Patientinnen und Patienten mit eigener Migrationserfahrung (1. Generation) wurde das Arzt-Patient-Gespräch in der Notfallambulanz 86,9% in deutscher Sprache geführt, bei den Patientinnen und Patienten mit familiärer Migrationserfahrung (2. Generation) in 98,7%. Die Übersetzung erfolgte bei den Patientinnen und Patienten der 1. Migrantengeneration vor allem durch Begleitpersonen des Patienten bzw. der Patientin und nur in jeweils zu 1% durch professionelle Dolmetscher/-innen bzw. durch zweisprachiges medizinisches oder pflegerisches Klinikpersonal (Zahn 2019).
Aktuell führen wir eine Befragung von Frauen nach der Geburt auf den Wochenbettstationen von drei großen
Berliner Geburtskliniken durch; die drittmittelgeförderte Studie begann im Jahr 2020 und wird Mitte 2022 beendet werden. Die Befragungsergebnisse werden mit den Perinataldaten von Frauen mit und ohne Migrationshintergrund zusammengeführt. Dabei liegt der Fokus der Untersuchung auf Frauen mit Flüchtlingsstatus. Eine Zwischenauswertung im Sommer 2021 hat gezeigt, dass bei den Wöchnerinnen mit Flüchtlingsstatus in 74% der Einsatz von qualifizierten Sprachmittlerinnen notwendig war, um gemeinsam anhand eines standardisierten Interviews den von uns entwickelten Fragebogen auszufüllen. Auch bei immigrierten Frauen ohne Flüchtlingsstatus war der Einsatz von Sprachmittlerinnen bei immerhin 40% notwendig. Die meisten Interviews mit Migrantinnen ohne Flüchtlingsstatus, bei denen Sprachmittlung notwendig war, wurden auf Englisch geführt (69%) (Teschemacher 2021). Wir gehen davon aus, dass im Stationsalltag und insbesondere bei der Aufklärung über medizinische Maßnahmen und der gemeinsamen Entscheidungsfindung letztlich ein Übersetzungsbedarf ebenfalls in dieser Größenordnung vorhanden ist.
Verschiedene Lösungsansätze zur Überwindung der „Sprachbarriere“
Thranberend und Gottschall haben in ihrem Abschlussbericht ein von der Bertelsmann-Stiftung durchgeführtes Projekt zum Videodolmetschen 2016 Thesen zum Videodolmetschen in der Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund – Erkenntnisse aus dem Projekt „Flüchtlinge verstehen“ publiziert, die nachfolgend zusammengefasst wiedergegeben werden sollen:
(1) Videodolmetschen ist grundsätzlich geeignet, existierende Lücken in der Sprachmittlung durch fehlende Präsenzdolmetscher/-innen zu schließen. Diese Dolmetschleistungen können ortsunabhängig und voraussetzungsarm angeboten werden.
(2) Ambulant wie stationär tätige Ärztinnen und Ärzte suchen grundsätzlich eine niedrigschwellige Lösung für das Dolmetschen. Dabei steht zunächst die bloße, auf kurzfristige Notwendigkeit der Übersetzung im Vordergrund.
(3) 2016 stand der überwiegende Teil der Ärztinnen und Ärzte dem Videodolmetschen noch skeptisch gegenüber und bevorzugte das Dolmetschen via Telefon. Bedenken bezogen sich vor allem auf den Datenschutz sowie die damals noch ungenügende technische Ausstattung mit Kameras.
(4) Unklar ist, ob im Vergleich zur rein sprachlichen Übersetzung via Telefon ein Mehrwert durch die Nutzung der Videokomponente entsteht.
(5) Die Finanzierung des (Video-) Dolmetschens ist wichtig für die Akzeptanz seitens der Kliniken und Praxen, Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte. Hierzu bedarf es einer politischen Entscheidung und weiterer Ergebnisse einer begleitenden Versorgungsforschung (Thranberend u. Gottschall 2016).
Seit dem Jahr 2016 hat sich die technische Ausstattung in Kliniken und Arztpraxen, nicht zuletzt infolge der Pandemiesituation, im Hinblick sowohl auf die PC-Technik als auch auf die Ausstattung mit Kameras, Headsets usw. verbunden mit einer umfassenden Verbreitung von Handys deutlich verändert und verbessert. Das Problem der ungelösten Sprachbarriere im Klinikalltag, das sowohl durch statistisch epidemiologische Zahlen als auch durch eigene Forschungsergebnisse unterstrichen bzw. bekräftigt wurde, ist aber weiter vorhanden. Es wurden in der Bundesrepublik Deutschland bisher keine umfassenden Strategien und Maßnahmen für die Gewährleistung qualifizierter Dolmetschleistungen für das Gesundheitssystem auf den Weg gebracht.
Mögliche Lösungen zur Überwindung der „Sprachbarriere“
Tatsächlich werden weiterhin einfache, aus Sicht der Wissenschaft aber falsche, Lösungen gefunden. Es werden Angehörige, Bekannte oder begleitende Freunde des Patienten oder der Patientin als Sprachmittlerinnen und -mittler eingesetzt. Diese Art des Ad-hoc-Übersetzens führt zu Verzerrungen, Fehlinformationen und Fehlübersetzungen, aber auch zu einer Doppelbelastung als neutraler Übersetzer und mitfühlender bzw. emotional betroffener Angehöriger.
Als zweitbeste Lösung wird häufig ärztliches, pflegerisches oder hauswirtschaftliches bilinguales Personal zur Übersetzung herangezogen. Dies bedeutet aber letztlich, dass diese Personen für längere Zeit von ihrer eigentlichen Tätigkeit in der Klinik oder Arztpraxis abgezogen werden. Als drittbeste Lösung hat sich in den letzten Jahren die Brückensprache Englisch durchgesetzt, die dann aber weder beim medizinischen Personal noch bei den Patientinnen und Patienten die Muttersprache darstellt. Auch die Nutzung von „Google Translate“ oder der Einsatz schriftlicher Medien kann letztlich nur als provisorische Lösung angesehen werden. Es bedarf klarer Regelungen, verbindlicher Standards und Leitlinien für eine gute Kommunikation für und mit allen Beteiligten in der Gesundheitsversorgung.
Die beste Lösung ist der Einsatz von professionellen, auch im Medizinvokabular geschulten Dolmetscherinnen und Dolmetschern. Für häufige Fremdsprachen kann eine feste Anstellung dieser Fachkräfte in Kliniken sinnvoll sein. Bei weniger häufigen Fremdsprachen sind flexiblere Organisationsformen und je nach Bedarf der persönliche Einsatz vor Ort oder von Tele- und Videokommunikation und der Ausbau verlässlicher Kooperationsstrukturen mit bereits für das Gesundheitswesen tätigen Dolmetschdiensten denkbar.
Da bisher bundesweit zuverlässige Strukturen für eine qualifizierte Sprachmittlung in der Gesundheitsversorgung fehlen, schlagen wir ergänzend die Einrichtung einer zumindest landesweiten Telefondolmetschzentrale „24/7“ vor. Ähnliche Lösungen finden sich, wie ein von uns erarbeitetes Diskussionspapier für den Menschenrechtsausschuss der Bundesärztekammer zeigt, in verschiedenen europäischen Ländern. Es existieren zum Teil sehr heterogene Regelungen und Strukturen. Flächendeckende, staatlich finanzierte Telefondolmetschdienste sind vor allem in der Schweiz und den Niederlanden zu finden. In Schweden, Finnland und Großbritannien werden verschiedene Arten von Telefondolmetschdiensten angeboten, allerdings ohne dass dies ein flächendeckendes Angebot des staatlichen Gesundheitswesens darstellt. Von den Erfahrungen dieser Länder kann man dennoch lernen und auf deren Erkenntnisse und Erfahrungen sollte bei der Einrichtung eines allgemein verfügbaren „Medizin- und Gesundheitscallcenters Telefondolmetschen“ für die Bundesrepublik Deutschland zurückgegriffen werden (Teschemacher et al. 2021).
Fazit
Die Bundesrepublik Deutschland muss sich noch konsequenter als Einwanderungsland verstehen. Dies bedeutet auch, dass auf lange Sicht Mehrsprachigkeit akzeptiert werden muss, und dass ein gewisser Anteil der hier lebenden Bevölkerung die deutsche Sprache nicht oder noch nicht ausreichend beherrscht. Das Gesundheitswesen als „Dienstleister“ ist in der Pflicht, angemessene Lösungen für gute Kommunikation, Information und Aufklärung in Sprache und Inhalt bereitzustellen, um für alle Patient:innen eine adäquate medizinische Versorgung zu gewährleisten. Die Finanzierung sollte durch den Staat oder die Krankenkassen erfolgen. <<
Epidemiologische Daten
Derzeit leben in Deutschland ca. 21,1 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund, das sind etwa 26% der Bevölkerung. Eine Person hat laut aktuell in der Bundesrepublik Deutschland verwendeter Definition dann einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2020). Der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung ist in der Bundesrepublik Deutschland von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich. Beispielsweise beträgt dieser Anteil in Bremen 36,5%, in Hessen 34,4% und in Hamburg 33,9% sowie in Baden-Württemberg 33,8%, in Brandenburg aber nur 8,6% und in Thüringen 7,8% (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2020). Die Herkunft der Menschen mit Migrationshintergrund, so zeigen die Ergebnisse des Mikrozensus 2019, ist sehr unterschiedlich. Die häufigsten Geburtsländer der Zuwandernden bzw. die Geburtsländer der Eltern der in Deutschland lebenden Bevölkerung mit Migrationshintergrund (im weiteren Sinne) waren im Jahre 2019 vor allem die Gebiete der ehemaligen Sowjetunion, die Gebiete des ehemaligen Jugoslawiens, die Türkei, Rumänien, Polen, Italien, Syrien und der Irak (Statistisches Bundesamt 2021). Die zehn häufigsten ausländischen Staatsangehörigkeiten mit Stichtag 31.12.2019 zeigt die Abbildung 1. Daraus ergeben sich die Sprachen und Sprachgruppen, die am häufigsten von Migrantinnen und Migranten gesprochen werden bzw. für die es unter Umständen einen Dolmetschbedarf bei der gesundheitlichen Versorgung gibt.