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„Die Zukunft beginnt bereits jetzt“

01.12.2021 07:00
„Lückenlose und nachhaltig optimierte Versorgungsketten statt Versorgungslücken“ postuliert das Strategiepapier „Vivantes 2030“, wobei – so die Vorstellung und Hoffnung – die dann zu leistende Gesundheitsversorgung in einem „klugen Netzwerk“ aus stationären Kompetenzzentren der Maximalversorgung und regionalen, patientennahen Gesundheitszentren mit integrierten Notfall- und Facharztkapazitäten erfolgen soll. Den weiten Weg dahin, die Aufgaben, Herausforderungen, aber auch Hürden beschreibt im Titelinterview von „Monitor Versorgungsforschung“ Dr. Johannes Danckert, Vorsitzender der Geschäftsführung (komm.) Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH. Er sagt: „Das sind keine bloßen Visionen, sondern Maßnahmenpakete, die mit exakten Zeitplänen und Kennzahlen hinterlegt sind.“

http://doi.org/10.24945/MVF.06.21.1866-0533.2351

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>> Vor 20 Jahren gegründet, ist Vivantes heute Deutschlands größter kommunaler Klinikkonzern und zudem Deutschlands größte staatliche Klinikgruppe mit einer Kapazität von 6.020 Betten und mehr als 17.800 Mitarbeitern und 580.000 stationär wie ambulant zu behandelnden Patienten jährlich. Noch eine Besonderheit kommt hinzu: Vivantes ist zu 100 Prozent ein Landesunternehmen Berlins und unterliegt damit nicht dem Zwang, Profit zu generieren, sondern eine schwarze Null zu schreiben. Gelingt das mit durch Corona sinkenden Fallzahlen elektiver Leistungen?
Auch Vivantes leidet unter coronabedingten Fallzahlrückgängen. Das war unumgänglich, weil wir zugunsten der stationären Covid-19-Versorgung vieles umgestellt haben, um ausreichende Kapazitäten zu schaffen. Das war auch gut so, denn Vivantes war und ist bis heute der Krankenhausträger in Berlin, der am meisten stationäre Corona-Patienten behandelt hat und auch aktuell noch behandelt.

Wie viele waren es denn?
Wir hatten bisher ungefähr 8.000 Covid-19-Patienten auf unseren Stationen.

Was im Vergleich der ansonsten pro Jahr stationär behandelten rund 250.000 Patienten erst einmal herzlich wenig klingt. Das sind nicht einmal drei Prozent!
Quantitativ stimmt das. Drei Prozent sind quasi nichts im Vergleich zu dem, was wir normalerweise stationär versorgen. Dennoch mussten immense Versorgungskapazitäten bei anderen Krankheitsentitäten eingeschränkt werden, um diese Zahl an Covid-19-Erkrankten überhaupt versorgen zu können. Dazu gehörte auch, dass wir gleich zu Beginn der ersten Welle, das war Freitag, der 13. März 2020, die Elektivversorgung komplett eingestellt und umgesteuert haben. Es wurden Tandems gebaut und alles möglich gemacht, um die durch Covid-19 zu leistende Versorgung wirklich absichern zu können.

Was heißt das für das finanzielle Ergebnis?
Wir haben insgesamt einen Fallzahlrückgang selbst bei akuten Erkrankungen zu verzeichnen. Bis heute kommen viel weniger Patienten, als vorher in unseren Krankenhäusern versorgt wurden.

Will heißen: Es gibt einen dauerhaften Schwund.
Zumindest scheint es so. Dennoch müssen wir uns die Frage stellen, ob und wie wir in Deutschland unsere gesundheitlichen Versorgungssysteme – wie Vivantes eines von vielen, wenn auch ein großes, ist  – generell an das neue „Postcorona“ anpassen sollten.

Was wir vielleicht auch schon längst hätten machen sollen, könnte man hinzufügen. Was heißt das jetzt für Vivantes? Im Endeffekt sind doch auch Sie ein Getriebener der Fallzahlen.
Stimmt. Alle Krankenhäuser und deren Verantwortliche sind seit dem Zeitpunkt, als der Gesetzgeber die Fallpauschalen eingeführt hat, Getriebene eines Systems, in dem man eigentlich nur zwei Dinge machen kann: zumachen oder ins Wachstum flüchten. Dabei haben wir es bei Vivantes noch gut. Wir haben es als größter kommunaler Krankenhausträger Deutschlands seit der Fusion im Jahre 2001 über all die Jahre geschafft, ein sehr ausgeglichenes Ergebnis vorzuweisen.

Bis auf 2020 ff.
Stimmt. Ein ausgeglichenes Ergebnis war und ist unter Corona-Bedingungen nicht mehr möglich. Und ohne die Gelder aus dem „Covid-19-Krankenhausentlastungsgesetz“, das die Bundesregierung im März 2020 beschlossen hat, wäre die Lage noch dramatischer.

Wohin führt der Weg? Vielleicht führt er sogar zu einer besseren Krankenhaus-Versorgung?
Es ist durch die Corona-Pandemie offensichtlich geworden, dass es ein „Weiter so“ nicht mehr geben kann. Darum hatten wir bereits während der ersten beiden Corona-Wellen an einem neuen Zielbild gearbeitet, das wir „Vivantes 2030 – Leben in Berlin“ genannt haben. Hier wird sehr ausführlich beschrieben, wie wir uns die Gesundheitsversorgung in nicht einmal zehn Jahren vorstellen.

Wie denn?
Fundamental anders! Die durch Vivantes zu leistende Gesundheitsversorgung wird – so wie wir uns das heute vorstellen und erarbeitet haben – zentralisierter, spezialisierter und digitaler sein.

Warum zentralisierter?
Expertise über Mindestmengen ist ein oft zu beobachtendes Phänomen, das man einfach nicht leugnen kann. Von daher versuchen wir, dort wo es geht, Kompetenz-Zentren aufzubauen und zu fördern, womit unsere einzelnen Häuser in bestimmten Leistungssegmenten spezialisierter und damit noch besser werden. Diesen Weg beschreiten wir schon jetzt mit großen Schritten.

Es ist erstaunlich, wie ausführlich und detailliert Ihr Visions-Papier Schritte beschreibt und diese mit Messkriterien und Zeitplänen hinterlegt.
Unser Strategiepapier besteht aus zwei Bestandteilen: Erstens aus einem eher prosaisch gehaltenen „Zielbild 2030“. Hier versuchen wir anhand von sechs fiktiven Personen, die unser Hauptklientel versinnbildlichen, musterhaft darzustellen, wie die Versorgung in einem Netzwerk in zehn Jahren aussieht und vor allem, welchen Nutzen jeder Patient davon hat.

Nehmen wir die in der Vivantes-Strategie beschriebene fiktive Person „Hildegard Meyer“, in Berlin-Pankow aufgewachsen, 89 Jahre alt und seit dem Tod ihres Mannes Helmut vor fünf Jahren alleine lebend. Anfang des Jahres 2020 hatte sie einen Schlaganfall und wurde auf der Stroke Unit im Vivantes Humboldt-Klinikum behandelt. Aufgrund der weltweiten Corona-Pandemie war eine Reha im Anschluss an den stationären Aufenthalt nicht möglich. Daher hat sie das Angebot angenommen, mit der App Caspar an einer Tele-Reha teilzunehmen, wobei sie bei der Bedienung der App Unterstützung von einem (ebenso fiktiven) Jungen aus der Nachbarschaft, Erdem Yilmaz, erhalten hat. Unsere Hildegard ist ein Beispiel für eine durchaus nicht selten bei uns versorgte Klientel. Bisher allerdings mit allerhand Systembrüchen und Problemen, die bereits weit vor der Aufnahme in einem unserer Krankenhäuser beginnen.

Wie soll Versorgung in Zukunft ablaufen?
Hildegard trägt beispielsweise ständig ein Wearable, das in Kombination mit Daten, die sie uns vorher mit ihrem Einverständnis überlassen hat, in der Lage ist, bei bestimmten Ereignissen einen Alarm auszulösen. Dieser wird sofort von einer Patientenlotsin eingeordnet und ist Anlass zu einer vorher definierten Versorgungskaskade. Die Lotsin entscheidet zum Beispiel in telefonischer Abstimmung mit Hildegard, dass aufgrund der übermittelten Parameter möglichst schnell eine Präklinik einzuschalten ist.

Womit der Medien- und Systembruch schon vorprogrammiert ist.
War und bislang noch ist. Präklinik heißt bisher, dass Hildegard mit dem Notarztwagen, den in Berlin die Feuerwehr betreibt, abgeholt und in das nächste oder am schnellsten erreichbare Krankenhaus gebracht wird. Bisher haben weder der Notarzt, noch die aufnehmende Klinik Daten zu Hildegard, was nichts anderes heißt, als dass mehrmals Krankengeschichte, Anamnese und Stammdaten auf Kladden eingetragen werden, die dann mit der Patientin – ausgedruckt auf Papier – durchs System wandern, um dann abgerechnet und abgelegt zu werden. Da wir es aber bei Hildegard schon mit einem voll digitalen Krankenhaus zu tun haben, läuft das Ganze nun anders: Schon der Leitstelle liegen bereits alle nötige Daten – von den Stammdaten bis zum letzten Arztbrief sowie bei Bedarf rund 500 erfasste Einzeldaten pro vorausgegangenem Krankenhausaufenthalt – vor, womit der Notarzt gleich vor Ort eine viel bessere Entscheidung für die weitere Versorgung der Patientin treffen kann. Von den Daten determiniert wird der Notarztwagen nicht in die nächste, sondern in die für die Versorgung der Krankheit am besten geeignete Klinik geleitet. Diese wird bereits vorinformiert, um Notaufnahme wie Personal entsprechend vorbereiten zu können.

Klingt zu schön, um wahr zu sein.
Die Zukunft beginnt bereits jetzt. Wir sind gerade dabei, mit der Berliner Feuerwehr ein Projekt zu starten, um Daten künftig bidirektional austauschen zu können. Das ist keine Zukunftsmusik, sondern wird, wenn alles gut geht, wahrscheinlich schon in wenigen Wochen funktionieren. Gleiches klappt bereits mit der Charité, mit dem Ziel, überall in Berlin eine bessere, weil informiertere Versorgung anbieten zu können – immer zum Nutzen der Patient:innen und natürlich immer nur mit deren Zustimmung.

Ein durchaus ambitioniertes Ziel.
Sicher haben wir ambitionierte Ziele. Aber das sind keine bloßen Visionen, sondern Maßnahmenpakete, die mit exakten Zeitplänen und vor allen Dingen mit Kennzahlen – neuhochdeutsch KPI – hinterlegt sind, anhand derer wir messen können, wie schnell und mit welchem Zielerreichungsgrad wir unterwegs sind.

Dazu braucht man eigentlich ein F&E-Ressort.
Genau. Wir haben dafür innerhalb der Unternehmensentwicklung ein neues Ressort eingerichtet, das wir „Entwicklung Krankenversorgung“ genannt haben. Hier werden gemeinsam mit der IT und anderen Bereichen die Schritte und Bausteine erarbeitet, die wir benötigen, um unser Zielbild zum Leben zu erwecken.

Woher kommt denn das Geld dafür?
Aus Eigenmitteln, aber auch aus Budgets des Krankenhauszukunftsgesetzes, einem Investitionsprogramm, das vom BMG für die Digitalisierung von Krankenhäusern aufgelegt worden ist. Aus dem KHZG erhält Vivantes immerhin 61 Millionen Euro, die wir in den nächsten drei Jahren zielführend und für unsere Patient:innen nutzbringend investieren wollen.

Digitalisierung heißt auch ePA.
Bei uns geht es zuvörderst um die Einführung einer digitalen, aber natürlich mit der ePA kompatiblen Fallakte. Mit diesem Projekt sind wir – Stand heute – zwar noch nicht mit allen Bausteinen komplett fertig, aber schon ziemlich weit. Die nächste Baustelle ist die Patient:innen-App, welche die digitale Vernetzung mit Patient:innen zur Unterstützung eines ganzheitlichen intersektoralen Behandlungsgeschehens ermöglicht – beginnend bei der Prävention über Diagnostik und Therapie, bis hin zur Nachsorge und Betreuung.

Ein ganzheitliches intersektora-les Behandlungsgeschehen meint doch auch Steuerung?
Ganz eindeutig. Wir kommen nicht umhin, uns dem Thema Patientenflusssteuerung anzunehmen, womit wir wieder bei unserer schon erwähnten fiktiven Patientin sind. Wenn wir Hildegard optimal in eines unserer Krankenhäuser aufnehmen und dann durch die vielen Stationen führen wollen, ohne dass sie lange Wartezeiten, Mehrfach-Anamnesen und Datenabfragen oder gar Doppeluntersuchungen oder -diagnostiken über sich ergehen lassen muss, brauchen wir einen Workflow – einen Patientenflow.

Den gibt es noch gar nicht?
Den gibt es naturgemäß schon. Aber bislang gibt es keinen gemeinsam definierten und dann auch von allen – bis auf begründete Ausnahmen – einzuhaltenden. Es war und ist auch bei uns ein langer, manchmal steiniger Weg, die wichtigen Prozessbausteine zu identifizieren, um derartige Patientenflows erarbeiten zu können. Besonders herausfordernd ist es auch, aussagekräftige Prozesskennzahlen zu hinterlegen, die entlang des Weges eines Patienten durch unser Krankenhaus – wobei wir davon nicht nur eines, sondern gleich neun mit 450 bis 1.200 Betten haben – auftreten. Gelingt es uns, diese Prozesse zu optimieren, wird es anhand der erzeugten „Data Lakes“ möglich sein, im besten Falle schon mit Aufnahme eines Patienten dessen mögliches Outcome prognostizieren zu können – zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit.

Im Endeffekt soll sich also durch eine bessere Organisations- und Prozessstruktur das Outcome verbessern.
Das ist das Ziel. Wobei man ganz ehrlich sagen muss, dass der Weg dahin manchmal ein durchaus beschwerlicher ist. Wenn wir von Patientenflusssteuerung – oder von „Patient Journey“ – reden, muss man Versorgungspfade und „Standard Operating Procedures“ – kurz SOP – mit verbindlich definierten und dokumentierten Beschreibungen von Vorgängen und Abläufen konsentieren. Wir sind gerade einmal dabei, all die derzeit verwandten Standards bei unseren Medizinern abzufragen. Es sind viele, sehr viele.

Lassen Sie uns raten: Viele sind nicht imstande, zu ihren Top-Krankheitsbildern eine SOP vorzuweisen.
Das mussten sie bisher auch nicht. Bisher war und ist es so, dass beispielsweise zehn Chefärztinnen und Chefärzte ein bestimmtes Krankheitsbild in fünf unserer Kliniken behandeln. Stand heute können wir nicht genau sagen, welchem Versorgungspfad oder welcher SOP sie folgen, wobei sich einige wirklich signifikant unterscheiden, aber sich eben historisch entwickelt und auch funktioniert haben. Aber eben in einem genau umrissenen einmaligen Setting einer einzigen Klinik oder gar Station. Doch in Zukunft, wenn Versorgung in einem Netzwerk noch besser als bisher funktionieren soll, muss man dazu kommen, Prozesse vom Eintritt des Patienten bis zur Entlassung genau zu beschreiben und ebenso evident wie standardisiert über Leitlinien zu begründen.

Da könnte man nun sagen: Wo bleibt da die ärztliche Kunst?
Gegen sinnvolle Prozessschritte hat niemand etwas. Darum machen die meisten der bei uns tätigen Mediziner:innen und Pfleger:innen bei diesem Vorhaben begeistert mit. Auch weil sie die durchaus berechtigte Hoffnung haben, dass Prozessoptimierung ihnen wieder mehr Zeit gibt, auf die wirklich wichtigen Dinge zu achten, sich wieder mehr auf eine Patient:in konzentrieren zu können, aber sich weniger mit Papierkladden oder Tagesgeschäft herumärgern zu müssen. Weil beispielsweise wieder mal vergessen wurde, in der Radiologie anzurufen oder der Patiententransport im Haus nicht frühzeitig genug beauftragt wurde. Wenn es uns gelingt, die „Patient Journey“ leitliniengerecht zu definieren und zu vereinbaren, wird mit der Aufnahmediagnose feststehen, welchen Weg – sagen wir – 95 Prozent unserer Patient:innen einschlagen werden, um das für sie höchst mögliche Outcome zu den für sie geringsten zeitlichen Belastungen – also möglichst ohne unnötige Warte- und Wegezeiten – erzeugen zu können. Die ärztliche Kunst beginnt hingegen an dem Punkt, wenn bei den restlichen Patient:innen von den „Patient Journeys“ – zu verstehen als Pfade mit gewissen Spielräumen  – abgewichen wird. Das aber dann mit der entsprechenden, schriftlich hinterlegten Begründung.

Wer ein Krankenhaus als Gesamtkomplex versteht, würde doch erwarten, dass es längst definierte SOPs gibt, damit das Outcome eben nicht vom Behandler – der gerade Dienst hat – und damit vom Zufall abhängt.
Genau darum geht es: Das Outcome zu verbessern und die Patientensicherheit zu erhöhen, indem standardisierte Prozesse angewandt werden.

Eigentlich müsste ein Arzt, der eine Standardprozedur verlassen hat, diesen Schritt nicht nur begründen, sondern auch verantworten. Nur so werden wir von einer volume- zu einer valuebasierten Medizin kommen.
Zwar gilt nach wie vor der Standardspruch „wer heilt, hat recht“. Doch muss ein Arzt dann erstens geheilt haben und zweitens Gründe haben, warum er einen wissenschaftlich fundierten Pfad verlassen hat. Diese Gründe kann und wird es geben, aber sie werden sicher eher Ausnahme denn Regel sein.

Wie groß schätzen Sie den Widerstand gegen ein derartiges Konzept ein?
Man wird niemals alle überzeugen können. Wir können nur versuchen, möglichst viele zu erreichen, gemeinsam und zum Nutzen der von uns betreuten Patient:innen einem transparenten, nachvollziehbaren und wissenschaftlich begründeten Weg zu folgen.

Wie wollen Sie denn Ihre Mitarbeiter überzeugen?
Mit größtmöglicher Transparenz. Wir haben unsere diversen Vorhaben öffentlich sichtbar im Internet dargestellt, in Auftaktveranstaltungen vorgestellt und mit vielen Roadshows an jeden Standort gebracht – in Corona-Zeiten eben per Zoom. Wir sind mit vielen, die sich gemeldet haben, in Diskussionen eingestiegen und haben auch vieles von dem, was an uns herangetragen wurde, eingebaut und in einen Entwicklungsprozess eingebracht. Dazu muss man jedoch sagen, dass es viele Detailthemen gab, bei denen wir wirklich offene Türen eingerannt haben, weil sie viele Kollegen schon die ganze Zeit bedrückt oder in ihrer jeweiligen Arbeit behindert haben. Das betrifft zum Beispiel zum einen die Nichterreichbarkeit, zum anderen die Nicht-Verfügbarkeit, weil es bislang keine komplette und zeitnahe Datenübersicht gibt.


Aus der Sicht der Versorgungsforschung könnte man fragen: Warum haben Sie kein Stepped-Wedge-Design angewandt, indem Sie die Vision 2030 nicht erst in einem Haus begonnen, probiert, evaluiert und dann erst skaliert haben?
Die Ungeduld an anderen Standorten darf man nicht unterschätzen. Wenn man mit einem solchen Groß-Projekt einmal begonnen hat, muss man es auch möglichst schnell überall implementieren. Was allerdings nicht heißt, dass man genau umrissene Teilprojekte durchaus erst in einem oder zwei Häusern erproben, daraus lernen und anpassen kann. Man muss auch realistisch bleiben, denn bei großen IT- und Change-Projekten braucht man schon enorme Kapazitäten und Ressourcen.

Eigentlich lernt das Gesundheitssystem am Beispiel Krankenhaus jetzt Change-Management.
Notgedrungen. Irgendeine Change- oder Entwicklungsabteilung hat  mittlerweile fast jedes größere Krankenhaus, doch wird der Change-
Gedanke meist nicht im Hinblick auf das größere Ziel einer besseren Versorgung ausgeweitet, wie wir es tun.

Mit welchen Teilprojekten haben Sie schon heute gute Erfahrungen gemacht?
Zum Beispiel ist unsere Patient:innen-App als interoperables Datensystem schon weitestgehend fertig. So ist in einer Testumgebung der Self-Checkin bereits möglich – die Vorhersage von Wartezeiten folgt demnächst, Kommunikations- und Befragungs-Tools sowie PROMs werden ebenfalls freigeschaltet. Bald wird damit auch die Entlassplanung automatisierter ablaufen können, damit sich die Menschen nicht mehr telefonisch mit ihren Anschlussheilbehandlungen beschäftigen müssen, weil das schon beginnend mit der Aufnahme feststeht, geregelt und reserviert worden ist.

Was machen Sie ansonsten mit all den Daten?
Wir versuchen, strukturierte Daten in einem Datenpool zusammenzufassen und über KI und Algorithmen auszuwerten. Eine nutzwertige Anwendung dafür ist zum Beispiel das Wartezeiten- und Wegemanagement. Dazu gehören Trackingsysteme. Denn wenn wir genau wissen, wo jedes Bett ist, wissen wir auch, wo der dazu gehörende Patient sich befindet. Darauf können wir beispielsweise Reinigungsprozesse abstellen, die Belegung des Bettes bestimmen – frei oder nicht frei – und sogar die Patiententransportplanung bis hin zum OP organisieren. All diese Use Cases entlang der Patientenflusssteuerung sind wichtig und haben einen gewissen Anteil am Gesamt-Outcome.

Wie sortieren und filtern Sie die dazu nötigen Daten vor?
Das ist ein schwieriges Thema, denn bisher war es – abgesehen von der auf Daten basierenden Abrechnung – so ziemlich egal, welche Daten wie eingegeben worden sind. Das wundert aber auch nicht, denn bisher war es niemandem klar, was man damit anfangen kann.

Würden Sie Ihre Erstversorgerdaten für die Versorgungsforschung verfügbar machen? Natürlich streng anonymisiert, pseudonymisiert und DSGVO-normiert.
Es kommt darauf an. Am besten dann, wenn diese Daten für uns einen Nutzen erzeugen, so dass uns die Versorgungsforschung vielleicht erst einmal sagen sollte, was wir als großer Klinikträger von einer solchen Datenabgabe erwarten können. Wenn es uns beispielsweise gelänge, durch eine gelebte Datenauswertung ein noch besseres Outcome zu erzeugen, wäre das nutzenstiftend – für unsere Patient:innen wie für uns als Klinikträger.

Erwarten Sie vom Outcome her eine deutliche Verbesserung?
Natürlich erhoffen wir uns das. Digitalisierung ist, wie oft gesagt wird, kein Selbstzweck. Es wäre wünschenswert, wenn alle Daten aus möglichst vielen Quellen offen der Forschung zur Verfügung stehen würden. Das würde den Patient:innen nutzen, weil sie dann genau wissen, welches Krankenhaus das Beste ist, aber auch den Krankenhausbetreibern selbst, weil erst so ein aussagekräftiges Benchmarking möglich wird. Und, das ist die wirkliche Herausforderung: All das, was wir tun, muss einen Mehrwert für alle bringen, für Patient:innen wie für Ärzt:innen, Pfleger:innen, Krankentransporteure, Reinigungskräfte oder wen auch immer.

Wie definieren Sie Mehrwert?
In direkter Outcome-Verbesserung oder auch qualitativ: Zum Beispiel in Form von mehr Zeit für Ärzt:innen und Pfleger:innen, das zu tun, für das sie ausgebildet worden sind.

Auch im Sinne besserer Arbeitsbedingungen?
Mit den Arbeitsbedingungen, die wir in deutschen Krankenhäusern haben, kann man nicht unbedingt Punkte machen und viele Menschen gewinnen, künftig hier tätig zu werden. Jede, noch so hohe altruistische oder intrinsische Motivation wird irgendwann von der Realität aufgezehrt. Wenn wir es über Prozessoptimierung schaffen, dass die vielen Menschen, die in einem Krankenhaus arbeiten, wieder das machen können, für das sie einmal angetreten sind, als sie sich dafür entschieden haben, haben wir schon viel erreicht. Der Begriff Fachkräftemangel wird häufig überstrapaziert, doch die Pflege begehrt zu Recht auf, weil es wie bisher nicht mehr weitergehen kann und man bessere Bedingungen für sie, für uns, für alle schaffen muss. Nur so wird man wieder mehr Pflege ans Bett bekommen.

Können Sie belegen, dass diese Umstellung von Volume zu Value funktioniert?
Soweit sind wir noch nicht, aber auf dem Weg dahin. Die Frage wird sein, ob wir noch lange genug im bisherigen DRG-Fallpauschalensystem überleben können, um diese Vision Realität werden zu lassen.

Herr Dr. Danckert, danke für das Interview. <<

Das Gespräch führten MVF-Herausgeber Prof. Dr. Reinhold Roski und MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.

Literatur

https://www.vivantes.de/unternehmen/vivantes-2030
https://www.vivantes.de/fileadmin/Unternehmen/Strategie_2030/vivantes_strategie-2030_A4_210x297mm_210216.pdf

 

Zitationshinweis:
Danckert, J., Roski, R., Stegmaier, P.: „Die Zukunft beginnt bereits jetzt“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (06/21), S. 6-10. http://doi.org/10.24945/MVF.06.21.1866-0533.2351

Ausgabe 06 / 2021

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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