Assistenztechnologien für die Versorgung älterer Menschen
>> Der Aufbau des Departments für Versorgungsforschung begann 2013 – kurz nach der Gründung der Fakultät für Medizin und Gesundheitswissenschaften im Jahre 2012 – mit dem Wechsel von Prof. Andreas Hein aus dem Department für Informatik in die neue Fakultät. Während seiner Promotion und Post-Doc-Zeit an der Charité und dem Fraunhofer IPK hatte er sich mit der Entwicklung und Evaluation von chirurgischen Assistenzsystemen (Navigations- und Robotersystemen, intraoperative Bildgebung) beschäftigt. In Oldenburg rückte dann die Konzeption und Entwicklung von Assistenzsystemen für die Unterstützung von älteren Menschen in ihrer Häuslichkeit in den Vordergrund. Schwerpunkte waren und sind das Monitoring von funktionalen Aspekten des Verhaltens älterer Menschen durch Sensorik in ihren Wohn- oder öffentlichen Räumen (bspw. Präsenzmeldern oder Laserscannern), Sensoren, die von ihnen selbst getragen werden (Wearables) bzw. Sensoren in Implantaten (bspw. Herzunterstützungssystemen).
Ziel ist es relevante – typischerweise schleichende – Veränderungen frühzeitig zu erkennen und diesem Funktionsverlust durch Interventionen entgegenzuwirken. Neben Verfahren der Signal- und Bildverarbeitung kommen hier vermehrt Verfahren des maschinellen Lernens zum Einsatz. Diese erlauben insbesondere die Individualisierung auf die jeweils spezifische Lebenssituation der älteren Menschen. Die auszulösenden Interventionen werden zwar von Ärzt:innen, Therapeut:innen oder Pfleger:innen initiiert und begleitet, können aber durch Assistenztechnologien unterstützt werden (Apps, Hausautomation, Serviceroboter). Auch hier ist eine Anpassung an die Zielgruppe insgesamt (Usability von Apps) und die Passung an die Lebenssituation und das Lebensumfeld Ziel der Forschung.
Neben zahlreichen technischen Herausforderungen bei der Entwicklung medizintechnischer Lösungen direkt für ältere Nutzer:innen – statt für medizinische oder pflegerische Expert:innen – stellten und stellen sich weitere grundsätzliche Fragen zur Gestaltung solcher sozio-technischen Systeme. Neben individuellen Faktoren wie der Technikbereitschaft und der Akzeptanz von technischen Systemen, die im privaten Umfeld Daten aufnehmen, auswerten und – wenn auch aggregiert – kommunizieren, sowie der generellen Akzeptanz, sich mit altersbezogenen Einschränkungen auseinanderzusetzen, spielen auch soziale (Rollenveränderungen in Versorgungsinstitutionen und informeller Pflege), ethische (Vermeidung von Altersstereotypen) und ökonomische (Wirksamkeit von technikbasierten Interventionen) Fragen eine große Rolle (siehe auch Achter Altersbericht der Bundesregierung, 2020).
Das interdisziplinär konzipierte Department für Versorgungsforschung bietet für die holistische Konzeption, Implementierung und Evaluation von solchen sozio-technischen Systemen eine ideale Umgebung. Aktuell sind neben der Professur für Automatisierungs- und Messtechnik die folgenden Professuren besetzt:
• Epidemiologie und Biometrie (Prof. A. Timmer, 2014),
• Ambulante Versorgung und Pharmakoepidemiologie (Prof. F. Hoffmann, 2014),
• Allgemeinmedizin mit Schwerpunkt Versorgungsforschung (Prof. M. Freitag, 2015),
• Organisationsbezogene Versorgungs-
forschung (Prof. L. Ansmann, 2017),
• Ethik in der Medizin (Prof. M. Schweda, 2018),
• Geriatrie (Prof. T. Zieschang, 2019),
• Künstliche Intelligenz für Gesundheit (Prof. N. Strodthoff, 2021).
Darüber hinaus existiert die Nachwuchsgruppe Rehaforschung (PD A. L. Brütt, 2016) und – wenn alles gut geht, ab nächstem Jahr – die BMBF-Nachwuchsgruppe „Ernährung und Funktionalität im Alter“ mit dem Projekt As-Tra (Dr. R. Diekmann, 2022). Die Verfahren zur Besetzung der Professuren „Big Data in der Medizin“ und „Gesundheitsökonomie“ laufen aktuell.
Ein besonders sichtbares Beispiel für die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist das seit 2017 laufende Pflegeinnovationszentrum (PIZ) als Teil des BMBF-geförderten Clusters „Zukunft der Pflege“ (https://www.cluster-zukunft-der-pflege.de). Forschende des OFFIS, der Universitäten Oldenburg und Bremen sowie des Hanse Instituts Oldenburg konzipieren, entwickeln und evaluieren sowohl moderne Technologien als auch Methoden und Konzepte, um deren Passfähigkeit in das Versorgungssystem sicherzustellen und die ethische uns soziale Akzeptanz zu erhöhen. Neben den Technologien wie robotischen Systemen für die physische Entlastung von Pflegenden, Augmented und Virtual Reality für die Pflegeausbildung und zielgerichtete Information im Pflegealltag wurden auch verschiedene Labore neu aufgebaut, die das Erleben, Diskutieren und Experimentieren mit den Technologien ermöglichen. <<
Dr. Rebecca Diekmann, Gruppenleiterin „Ernährung und Funktionalität im Alter“
>> Warum arbeiten Sie im DVF?
In meiner Rolle als Gruppenleiterin habe ich die Möglichkeit, an der Schnittstelle zwischen Geriatrie und Digitalisierung meine Forschung voranzubringen. Ich habe Ernährungs- und Haushaltswissenschaften in Bonn studiert und im Anschluss im Institut für Biomedizin des Alterns am Lehrstuhl für Innere Medizin-Geriatrie an der Universität Erlangen-Nürnberg promoviert. Dadurch und durch meine anschließende Tätigkeit in der Universitätsklinik für Geriatrie an der Universität Oldenburg habe ich umfassende Kenntnisse der grundlegenden Zusammenhänge zwischen Ernährung und körperlicher Funktionalität älterer Menschen erworben. In der Abteilung Assistenzsysteme und Medizintechnik bestand damals ein großer Bedarf an klinischer Expertise, um zum einen das Methodenspektrum um nicht-technische Verfahren zu erweitern und die tatsächlichen Bedarfe der Zielgruppe zu ermitteln sowie zum anderen nutzerorientiert Technik zu entwickeln und evaluieren.
Was sind die Schwerpunkte Ihrer Tätigkeiten im Department für Versorgungsforschung?
Die Gruppe „EFA“ in der Abteilung Assistenzsysteme und Medizintechnik entwickelt technische Systeme (Monitoring- und Assistenzsysteme) ganz speziell für ältere Menschen für die Bereiche Ernährung und Bewegung. Ernährung und Bewegung spielen lebenslang, aber eben ganz besonders im höheren Alter eine wichtige Rolle, da mit einem schlechten Ernährungszustand oder einer unzureichenden Nährstoffaufnahme und mit einer verminderten körperlichen Aktivität eine Reihe von Erkrankungen, Syndromen und weiteren negativen Folgen assoziiert sind. Im Alter fit zu bleiben, unabhängig in den eigenen vier Wänden zu leben, das ist das, was sich vermutlich jeder wünscht. In meiner Arbeitsgruppe werden nah an der Zielgruppe, also älteren Menschen, oftmals jenseits der 75, aus den verschiedenen Lebensbereichen wie Häuslichkeit, Reha oder Pflegeheim, technische Systeme zur Überprüfung und zur Unterstützung des Ernährungs- und Bewegungszustandes entwickelt. Dies umfasst Monitoringsysteme, mit denen frühzeitig Risiken identifiziert werden können und Assistenzsysteme, die im Alltag unterstützen, um insbesondere in der Häuslichkeit eine selbstständige Lebensführung ermöglichen. Dabei müssen die besonderen Bedürfnisse der oftmals wenig technikaffinen Senior:innen berücksichtigt werden. Eine Besonderheit meiner Gruppe ist die große Interdisziplinarität mit Physiotherapeut:innen, Ernährungs-wissenschaftler:innen, Gesundheitswissen-
schaftler:innen, Medizintechniker:innen, Informatiker:innen, Ärzt:innen und Ingenieur:innen. Aus meiner Sicht die perfekte Zusammensetzung, um wirklich nutzbare und effiziente Technik für Senior:innen zu entwickeln. Durch die Gruppe EFA wird eine Lücke zwischen der informatik-orientierten technischen Entwicklung und der Zielgruppe der vulnerablen älteren Menschen geschlossen. Dies halte ich in der aktuellen dynamischen Entwicklung des Themas Digitalisierung in der Gesundheitsversorgung für besonders relevant.
Die Abteilung Geriatrie hier am Department für Versorgungsforschung ist nach wie vor ein wichtiger Partner in unseren Forschungsprojekten und auch mit der Gruppe Automatisierungs- und Messtechnik von Dr. Marco Eichelberg aus dem OFFIS-Institut wurden bereits eine Reihe von Forschungsprojekten beantragt und erfolgreich durchgeführt.
Was zeichnet in Ihren Augen das Department für Versorgungsforschung aus?
Spannend und auch herausfordernd finde ich, dass viele Mitarbeitende des Departments eher „Paradiesvögel“ als klassische Versorgungsforscher:innen sind. Es gilt nun, diese vielen Disziplinen sinnvoll mit einem gemeinsamen Interessenschwerpunkt zusammenzubringen. Daran arbeiten wir seit Jahren gemeinsam und es wird nicht top-down auferlegt. Mir macht es Spaß, in einer jungen Universität, einer noch jüngeren Fakultät und einem ganz jungen Department die Entwicklung mitzugestalten und auch meine Schwerpunkte einzubringen. Ich stoße dabei auf offene Türen.
Mit welchen Thematiken und Fragestellungen sind Sie derzeit beschäftigt?
In unseren aktuellen Projekten entwickeln wir unter anderem eine App für geriatrische Reha-Patient:innen, die nachhaltig die Ernährungs- und Bewegungssituation verbessern soll. Der Bereich „geriatrisches Assessment“ und die Möglichkeit, dieses technisch-gestützt abzubilden, um eventuell erhöhte Risiken für bspw. Stürze frühzeitig zu erkennen, bestenfalls in einer Selbstvermessung, spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Wenn alles gut läuft, kann ich dieses Projekt mit einer selbstständigen Finanzierung meiner bereits vom BMBF positiv bewerteten Nachwuchsgruppe ab nächstem Jahr für einen Zeitraum von fünf Jahren erfolgreich weiterentwickeln und an einer größeren Kohorte evaluieren. <<
Dr.-Ing. Sandra Hellmers, Gruppenleiterin „Robotische Assistenzsysteme“
>> Warum arbeiten Sie im DVF?
Im Vergleich zu Rebecca Diekmann liegt mein Schwerpunkt in der Technologieentwicklung und der Analyse von Sensordaten mittels der Signal- und Bildverarbeitung sowie Verfahren des maschinellen Lernens. Somit decke ich eher die technischen Aspekte in der Abteilung AMT ab. Nach dem Abitur habe ich Physik studiert und im Anschluss an mein Studium 2011 zunächst in der Automatisierungs- und Messtechnik für die zerstörungsfreie Werkstoffprüfung gearbeitet. Da mir jedoch der Bezug zur Medizin und zu den Menschen fehlte, entschied ich mich parallel für ein Studium der Medizinischen Physik und Technik und wechselte 2015 an die Universität Oldenburg in die Abteilung Assistenzsysteme und Medizintechnik von Prof. Hein. Hier beschäftige ich mich mit der Entwicklung von technischen Assistenzsystemen sowohl für Patient:innen als auch für Pflegende und arbeite eng mit der OFFIS-Gruppe „Assistive Technologien für Versorgung und Pflege“ unter Leitung von Dr. Tobias Krahn zusammen.
Was zeichnet für Sie das DVF aus?
Für mich zeichnet sich das Department für Versorgungsforschung vor allem durch seine Interdisziplinarität aus. Allein in unserer Abteilung arbeiten zahlreiche unterschiedliche Professionen zusammen. Zusätzlich stehen wir im engen Austausch mit den anderen Abteilungen des Departments und auch mit den Gruppen des An-Instituts OFFIS. Durch die vielfältigen methodischen Herangehensweisen und die unterschiedlichen Blickrichtungen können wir Forschungsfragen ganzheitlicher betrachten und lernen jeweils von den anderen Disziplinen.
Welche Schwerpunkte haben Sie im Department für Versorgungsforschung?
Meine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Bewegungserfassung sowie in der Analyse von Bewegungsabläufen und den Reaktionen auf technische Systeme. In der Gruppe Robotische Assistenzsysteme entwickeln wir unter anderem robotische Assistenzsysteme für die Pflege. Diese Systeme sollen bspw. Pflegekräfte bei körperlich belastenden Tätigkeiten, wie dem Umlagern von Patient:innen, unterstützen. Hier ist es wichtig, eine zielgerichtete Unterstützung zu realisieren, die Situation und die Umgebung zu erfassen, Aktivitäten zu erkennen und Kooperationsstrategien abzuleiten und umzusetzen. Dabei arbeiten wir auch mit Künstlicher Intelligenz und setzen Verfahren des maschinellen Lernens ein. Auch für die Entwicklung von Assistenzsystemen für Patient:innen ist eine zielgerichtete Unterstützung essenziell. Dabei sollten verbleibende Ressourcen berücksichtigt und gefördert werden. Zudem untersuchen wir, inwiefern Änderungen, bspw. in den Bewegungsabläufen, als Reaktion auf ein technisches System auftreten.
Was möchten Sie ganz persönlich mit Versorgungsforschung erreichen?
Mit meiner Forschung möchte ich dazu beitragen, dass sich die Versorgung von pflegebedürftigen Menschen weiter verbessert und Patient:innen möglichst lange in den eigenen vier Wänden selbstständig leben können. Darüber hinaus möchte ich professionell und informell Pflegende in ihrer Arbeit unterstützen. <<