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Hat die Pandemie zu einer (weiteren) Benachteiligung von Migrantinnen und Migranten in der Gesundheitsversorgung geführt?

17.05.2022 13:20
Seitdem Formen vergüteter Krankenbehandlungen bekannt sind, gibt es auch Befürchtungen, dass Angehörige der Heilberufe ihren Patient:innen Versorgungsoptionen empfehlen, die nicht oder noch nicht erforderlich sind. Gesundheitspolitische Brisanz gewinnt diese Befürchtung im Hinblick auf eine gesetzliche Krankenversicherung, bei der die Kosten und Folgekosten für nicht oder aber noch nicht angezeigte Behandlungen von der Gesamtheit der Versicherten solidarisch finanziert werden (Breyer/Zweifel/Kifmann, 2013; Breyer/Buchholz, 2021). Bereits in den Jahren 2000/2001 führte der Sachverständigenrat in seinem Gutachten aus, dass eine Versorgung mit nicht-indizierten Leistungen oder aber mit Leistungen ohne hinreichend gesichertem Netto-Nutzen einer „medizinischen Überversorgung“ gleichkommt. Hingegen werden Leistungen mit nur geringem Nutzen, der die Kosten nicht (mehr) rechtfertigt oder aber in ineffizienter (also unwirtschaftlicher) Form erbracht wird, als eine „ökonomische Überversorgung“ klassifiziert (Sachverständigenrat 2000/2001). Auch diese Form der Fehlversorgung geht mit falsch gesetzten Anreizen einher, die sich in niedrigschwelligen Zugangsbedingungen manifestieren und damit zu Inanspruchnahme von nicht-angemessenen Versorgungsebenen führen können (John/Stillfried 2021).

http://doi.org/10.24945/MVF.03.22.1866-0533.2417

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Abstract

Im Zuge der Corona-Pandemie haben sich weltweit in den verschiedenen Gesundheitssystemen in unterschiedlichem Ausmaß Fehlentwicklungen und Versäumnisse gezeigt. Aktuelle Ergebnisse der internationalen Versorgungsforschung zeigen, dass die Covid-19-Pandemie bereits bestehende gesundheitliche und sozioökonomische Ungleichheiten bei strukturell marginalisierten Zuwanderergruppen verstärkt hat. Auf der Basis einer selektiven Literaturrecherche zur möglichen Benachteiligung von Migrantinnen und Migranten im Gesundheitssystem im Zuge der Covid-19-Pandemie werden die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen für zukünftige pandemische Situationen, aber auch für den „postpandemischen Versorgungsalltag“ dargelegt. Die aktuelle Datenlage für Deutschland ist schlecht – hier besteht Handlungs- und Forschungsbedarf -, aber in internationalen Übersichtsarbeiten wurden eine Reihe von migrantenspezifischen Risiko- und Vulnerabilitätsfaktoren identifiziert. Zukünftige Pandemiepläne sollten Bevölkerungsgruppen mit besonderen Belastungen ausreichend und angemessen berücksichtigen.

Has the pandemic led to (further) discrimination of migrants in german health care?

In the course of the corona pandemic, misguided developments and omissions have become apparent to varying degrees in the various health systems worldwide. Current results of international health services research show that the Covid-19 pandemic has exacerbated pre-existing health and socio-economic inequalities among structurally marginalized immigrant groups. On the basis of a selective literature search on the possible disadvantages of migrants in the health system in the course of the Covid-19 pandemic, the resulting conclusions for future pandemic situations, but also for the „post-pandemic everyday care“ are presented. The current data situation for Germany is poor – there is a need for action and research here – but a number of migrant-specific risk and vulnerability factors have been identified in international reviews. Future pandemic plans should give sufficient and appropriate consideration to population groups with special burdens.

Keywords
Covid-19 pandemic, migrants, institutional discrimination

Prof. Dr. med. Matthias David /  Prof. Dr. PH Theda Borde

Literatur
1. Ditzen B. Soziale Distanz: Wenn die protektiven Effekte sozialer Nähe eingeschränkt sind. Editorial. Psychother Psychosom Med Psychol 2020; 70(06): 219-220; DOI: 10.1055/a-1158-0202
2. Kira, I. A., Al-Noor, T. H., Al-Bayaty, Y. W., Shuwiekh, H. A. M., Ashby, J. S., & Jamil, H. Intersected Discrimination Through the Lens of COVID-19: The Case Example of Christian Minority in Iraq. American Journal of Orthopsychiatry 2022. Advance online publication. http://dx.doi.org/10.1037/ort0000619
3. Istiko, S.N.; Durham, J.; Elliott, L. (Not That) Essential: A Scoping Review of Migrant Workers’ Access to Health Services and Social Protection during the COVID-19 Pandemic in Australia, Canada, and New Zealand. Int. J. Environ. Res. Public Health 2022, 19, 2981. https:// doi.org/10.3390/ijerph19052981
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5. Obinna DN. Confronting Disparities: Race, Ethnicity, and Immigrant Status as Intersectional Determinants in the COVID-19 Era. Health Educ Behav. 2021 Aug;48(4):397-403. doi: 10.1177/10901981211011581. Epub 2021 May 12. PMID: 33978518
6. CARE; https://www.care.de/schwerpunkte/nothilfe/flucht-und-migration/?code=9745&gclid=EAIaIQobChMI6MmHttmD9wIV9YxoCR2HVQGxEAAYASAAEgLZXfD_BwE (aufgerufen am 8.4.2022)
7. Statistisches Bundesamt. Glossar. Migrationshintergrund. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwel/Bevoelkerung/Migration-Integration/Glossar/migrationshintergrund.html (aufgerufen am 10.4.2022)
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9. BAMF. Migrationsbericht 2020; https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Forschung/Migrationsberichte/migrationsbericht-2020.pdf?__blob=publicationFile&v=14 (aufgerufen am 8.4.2022).
10. Beutke M, Kotzur P. Faktensammlung Diskriminierung. Programm Integration und Bildung der Bertelsmann Stiftung. 2015 https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/faktensammlung-diskriminierung (aufgerufen am 10.4.2022)
11. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Deutschlands Wandel zum modernen Einwanderungsland. Jahresgutachten 2014. SVR-Integrationsbarometer 2014. https://www-svr-migration.de/wp-content/uploads/2017/05/SVR_Jahresgutachten_2014.pdf (aufgerufen am 7.4.2022)
12. Beigang, S.; Fetz, K.; Kalkum, D.; Otto, M. Diskriminierungserfahrungen in Deutschland. Ergebnisse einer Repräsentativ- und einer Betroffenenbefragung. Hg. v. Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Nomos, Baden-Baden 2017, S. 120 – 139
13. Bartig S, Kalkum D, Le HM, Lewicki A. Diskriminierungsrisiken und Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen – Wissensstand und Forschungsbedarf für die Antidiskriminierungsforschung Studie im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Expertise/diskrimrisiken_diskrimschutz_gesundheitswesen.pdf (aufgerufen am 10.4.2022)
14. Brücker H, Gundacker L, Hauptmann A, Jaschke P. Die Arbeitsmarktwirkungen der COVID-19-Pandemie auf Geflüchtete und andere Migrantinnen und Migranten, IAB-Forschungsbericht, No. 5/2021, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Nürnberg 2021. http://hdl.handle.net/10419/245964 (aufgerufen am 7.4.2022)
15. Graevskaia, A., Menke, K., Rumpel, A. (2022) Institutioneller Rassismus in Behörden – Rassistische Wissensbestände in Polizei, Gesundheitsversorgung und Arbeitsverwaltung. IAQ-Report Bd. 2022, H. 02. DOI:10.17185/duepublico/75438. https://duepublico2.uni-due.de/receive/duepublico_mods_00075438 (aufgerufen 8.4.2022)
16. Politi E et al. The impact of COVID-19 on the majority population, ethno-racial minorities, and immigrants: A systematic review on threat appraisals from an inter-group perspective. European Psychologist 2021; 26(4). https://doi.org/10.1027/1016-9040/a000460
17. Hayward SE et al. Clinical outcomes and risk factors for COVID-19 among migrant populations in high-income countries: A systematic review.  J Migr Health 2021; 3: 100041
18. Van Hout et al. Scoping the impact of COVID-19 on the nexus of statelessness and health in Council of Europe member states. J Migr Health 4 (2021) 100053
19. Jaljaa A et al. Risk of SARS-CoV-2 infection in migrants and ethnic minorities compared with the general population in the European WHO region during the first year of the pandemic: a systematic review. BMC Public Health 2022, 22(1):143 https://doi.org/10.1186/s12889-021-12466-1

 

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Zitationshinweis: David, M., Borde, T.: „Hat die Pandemie zu einer (weiteren) Benachteiligung von Migrantinnen und Migranten in der Gesundheitsversorgung geführt?“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (03/22), S. 85-90. http://doi.org/10.24945/MVF.03.22.1866-0533.2417

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Plain-Text:

Hat die Pandemie zu einer (weiteren) Benachteiligung von Migrantinnen und Migranten in der Gesundheitsversorgung geführt?

Im Zuge der Abschätzung und Bewertung von negativen Folgen der Corona-Pandemie wird häufig das Bild des Brenn- oder Vergrößerungsglases benutzt (z.B. Kira et al. 2022, Istiko et al. 2022), um darauf hinzuweisen, dass in den verschiedenen Gesundheitssystemen weltweit bestimmte negative Entwicklungen deutlicher zutage getreten sind, die bis dahin von der Gesundheitspolitik bewusst ignoriert oder nicht in dieser Form wahrgenommen wurden. Doan et al. (2021) und andere Arbeitsgruppen in der Public-Health-Forschung gehen davon aus, dass die Covid-19-Pandemie vorbestehende gesundheitliche und sozioökonomische Ungleichheiten bei strukturell marginalisierten Zuwanderergruppen noch verstärkt hat (Doan et al. 2021, Obinna 2021). Die nachfolgenden Überlegungen befassen sich daher mit einem global relevanten Teilaspekt dieses Themenkreises, nämlich dem der gesundheitlichen Versorgung von Migrantinnen und Migranten.

 

>> Im Jahr 2015 wurden 2.136.945 Zuwanderer nach Deutschland gezählt, 2017, 2018 und 2019 waren es ca. 1.600.000, im ersten Corona-Jahr 2020 nur noch 1.136.702 (Statistisches Bundesamt 2022). Die meisten nach Deutschland zugewanderten Menschen kamen 2020 aus Rumänien (185.296). Auf Rang zwei waren Migrantinnen und Migranten aus Polen (100.220) und die drittgrößte Gruppe machten Personen aus Bulgarien aus (ca. 72.400) (Statistisches Bundesamt 2022). Deutschland ist seit längerer Zeit faktisch ein Einwanderungsland. Die aktuelle Zuwanderungssituation ist gekennzeichnet durch Neuzuwanderungen und die Niederlassung von Migrantinnen und Migranten verschiedener Herkunftsländer und eine zunehmende ethnische, kulturelle und gesellschaftliche Vielfalt. Fragen der gesellschaftlichen Diversität und des sozialen Zusammenhalts werden zunehmend als relevante politische Themen betrachtet und die demografische und ökonomische Bedeutung der Zuwanderung für Deutschland wird verstärkt wahrgenommen und gewürdigt. Aktuelle und wahrscheinlich weiterhin anhaltende Migrationstrends sind die Zuwanderung von qualifizierten und unqualifizierten Arbeitskräften, u.a. die Anwerbung von Gesundheitspersonal, die Familienzusammenführung, Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten, eine Ost-/Westmigration innerhalb der Europäischen Union sowie die sogenannte irreguläre Migration, d.h. die ungesteuerte und letztlich von der Größenordnung her auch unbekannte Zuwanderung von Menschen ohne Papiere.
Diese Zusammenstellung unterstreicht, dass es sich bei Menschen mit Migrationshintergrund um eine sehr heterogene Gruppe handelt. Diese Heterogenität ergibt sich z. B. auch dadurch, dass entweder eine eigene Migrationserfahrung vorliegt, d. h. die Person selbst nach Deutschland zugewandert ist, oder als direkte Nachkommen dieser sog. ersten Migrationsgeneration in Deutschland geboren wurde. Unterschiede ergeben sich durch das Herkunftsland, den sozioökonomischen Status, den Bildungsgrad, das Geschlecht, die Aufenthaltsdauer und den Aufenthaltsstatus, die Ethnizität, religiöse und kulturelle Orientierungen und nicht zuletzt durch die vorhandenen Sprachkenntnisse des Zuwanderungslandes. Vorliegende statistische Daten zeigen, dass das Bildungs- und Einkommensniveau der Bevölkerung mit Migrationshintergrund im Vergleich zur nicht migrierten Bevölkerung durchschnittlich niedriger ist und dass Arbeitsplatzunsicherheit und Arbeitslosigkeit häufiger sind.
Unterschiedliche Quellen gehen davon aus, dass in Abhängigkeit von diesen Faktoren die Risiken für eine Diskriminierung resp. gesellschaftliche Benachteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund variieren. Mögliche Folgen und Rückwirkungen der Corona-Pandemie, der damit verbundenen (gesundheits-) politischen Maßnahmen und den sich ergebenden Folgen für das deutsche Gesundheitssystem und die dort behandelten und betreuten Patientinnen und Patienten mit Migrationshintergrund fasst die Abbildung 1 zusammen.  Nachfolgend gehen wir auf der Basis einer im März 2022 durchgeführten selektiven Literaturrecherche zur möglichen Diskriminierung von Migrantinnen und Migranten im Gesundheitssystem im Zuge der Covid-19-Pandemie auf sichtbar gewordene Benachteiligungen von Menschen mit Migrationshintergrund ein. Wir legen die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen für zukünftige pandemische Situationen, aber auch für den „postpandemischen Versorgungsalltag“ dar.

Diskriminierungserfahrung

„Soziale Diskriminierung“ umfasst die Benachteiligung von Menschen aufgrund gruppenspezifischer Merkmale, wie ethnische und nationale Herkunft, Hautfarbe, Sprache, politische oder religiöse Verfolgung, sexuelle Orientierung, Geschlecht, Alter oder Behinderung. Ausgangspunkt jeder Diskriminierung ist die Konstruktion von Unterschiedlichkeit und damit verbundene Hierarchien und Machtverhältnisse (Beutke u. Kotzur 2015). Welche Daten und Fakten liegen zu möglichen Benachteiligungen von Menschen mit Migrationshintergrund im deutschen Gesundheitssystem vor?
Bestandteil des „Jahresgutachtens deutscher Stiftungen für Integration und Migration“ ist immer auch das sog. Integrationsbarometer. Für das Integrationsbarometer 2014 wurden telefonisch auf der Basis einer geschichteten Zufallsstichprobe 5.659 Personen, davon 74,7% mit und zu 25,3% ohne Migrationshintergrund, befragt. Im Zuge dieser Befragung wurden 2014 auch subjektive Diskriminierungserfahrungen in verschiedenen Bereichen des täglichen Lebens eruiert. Gefragt wurde nach Diskriminierungserfahrungen in Bildungsstätten, auf dem Arbeitsmarkt, in Ämtern und Behörden sowie dem Öffentlichen Nahverkehr. Benachteiligungen im Gesundheitswesen, in der ambulanten oder stationären Versorgung, wurden nicht thematisiert. Die Antworten (siehe Abb. 2) wurden nach dem Migrationshintergrund bzw. dem Herkunftsland der Befragten gruppiert. Die Ergebnisse „… zeigen, dass Menschen mit Migrationshintergrund im Alltag in unterschiedlichen Formen Diskriminierung wahrnehmen […] Insgesamt erscheint das Diskriminierungsniveau in Deutschland nicht sehr hoch: Die große Mehrheit der Befragten gab an, dass sie keine Benachteiligungen erlebt hat. Allerdings berichten Menschen mit Migrationshintergrund in allen Bereichen häufiger von Diskriminierungserfahrungen als Menschen ohne Migrationshintergrund…“, wobei sich „Personen verschiedener Herkunftsgruppen in unterschiedlichem Maße von Diskriminierung betroffen sehen…“ (SVR 2014).
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat 2015 die Umfrage „Diskriminierung in Deutschland“ veröffentlicht (Beigang et al. 2017). Mit einer telefonischen Repräsentativbefragung wurden hierfür vom 1. bis 30. November 2015 insgesamt 1.007 deutschsprachige Personen ab 14 Jahren befragt, die Auswahl erfolgte nach einem Zufallsverfahren. Die Autoren geben an, dass die „Ergebnisse unter Beachtung der mit Stichprobenerhebungen üblicherweise verbundenen Einschränkungen auf die Gesamtbevölkerung in Deutschland verallgemeinerbar“ sind (Beigang et al. 2017). Die Befragten wurden um Angaben darüber gebeten, ob sie in den vergangenen zwei Jahren aufgrund eines im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) genannten Merkmals oder aus anderen Gründen Diskriminierung erlebt haben. Knapp ein Drittel der Befragten (31,4%) bestätigte dies. 8,4% der Befragten der Repräsentativbefragung gaben an, eine Diskriminierung aus rassistischen Gründen oder wegen ihrer (ethnischen) Herkunft erfahren zu haben, dies betraf vor allem Menschen mit Migrationshintergrund: „Knapp ein Viertel (23,2%) von ihnen berichtet von entsprechenden Diskriminierungserfahrungen in den vergangenen 24 Monaten. Der Anteil von Personen ohne Migrationshintergrund, die von Diskriminierungserfahrungen aus rassistischen Gründen oder wegen der (ethnischen) Herkunft berichten, liegt bei 3,8% ...“ (Beigang et al. 2017). Für die 343 Personen der Befragung, die Diskriminierungserfahrungen angegeben hatten, wurde in der Repräsentativbefragung auch nach den Lebensbereichen unterschieden, in der die Benachteiligung erlebt wurde: 5,5% gaben an, häufig im Gesundheits- und Pflegebereich Diskriminierungen erlebt zu haben, weitere 8,8% zumindest gelegentlich, 12,1% selten und die übrigen 73,6% nie (Beigang et al. 2017).
Die beiden eben zitierten Befragungen wurden deutlich vor Beginn der Corona-Pandemie durchgeführt, sodass sie keine Informationen zu den Auswirkungen dieser Sondersituation auf Diskriminierungserfahrungen enthalten können. Aber in dem von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Auftrag gegebene Bericht „Diskriminierungsrisiken und Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen …“ (Bartig et al. 2022), der im Juli 2021 veröffentlicht wurde, findet sich eine Passage zu (vermuteten) Diskriminierungsrisiken in Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie: „Inwiefern sich die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie zwischen Menschen mit Migrationshintergrund (insbesondere Geflüchteten) und der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund bzgl. der Teilhabe in verschiedenen Lebensbereichen u. a. dem der Gesundheit unterscheiden, wird derzeit in dem Projekt „Vergleichende Analysen der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf Migrant*innen und Geflüchtete am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung´ analysiert…“ (Bartig et al. 2022).
Ergebnisse dieser Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit wurden im September 2021 publiziert. Brücker et al. (2021) fassen ihren Forschungsbericht wie folgt zusammen:
• „Die deutsche Volkswirtschaft hat sich an den Covid-19-Schock überwiegend durch Kurzarbeit und die Verlegung wirtschaftlicher Aktivitäten in das Homeoffice sowie durch andere Formen der Arbeitszeitverkürzung angepasst. Dabei variieren die Auswirkungen des Schocks zwischen unterschiedlichen Gruppen am Arbeitsmarkt.
• Flüchtlinge und – in geringerem Umfang – andere Migrantinnen und Migranten waren während des ersten Lockdowns überdurchschnittlich von Beschäftigungsabbau und Kurzarbeit betroffen.
• Flüchtlinge konnten die von ihnen ausgeübten Tätigkeiten nur in sehr geringem Umfang im Homeoffice durchführen.
• Wichtige Ursachen für negative Arbeitsmarkteffekte sind befristete Beschäftigungsverhältnisse, kurze Betriebszugehörigkeiten und Unterschiede in den Tätigkeitsstrukturen.
• Bei Flüchtlingen und anderen Migrantinnen und Migranten ist die Arbeitslosigkeit sehr viel stärker gestiegen, als ihre Beschäftigung gesunken ist. Dies kann unter anderem auf den pandemiebedingten Abbruch und die Unterbrechung von Integrations- und Qualifizierungsmaßnahmen zurückgeführt werden.
• Unmittelbar nach dem Auslaufen der Eindämmungsmaßnahmen des ersten Lockdowns ist die Beschäf­tigung der Geflüchteten zwar wieder gestiegen, doch ist ihr Beschäftigungswachstum 2020 sehr viel geringer ausgefallen als in den Vorjahren.“ (Brücker et al. 2021)

Benachteiligungen können auf unterschiedlicher Ebene und in unterschiedlicher Form erfolgen. Es lassen sich sechs Erscheinungsformen sozialer Diskriminierung, nämlich individuelle, sprachliche, strukturelle, direkte unmittelbare, indirekte verdeckte sowie die institutionelle unterscheiden. Bei letzterer wirken Strukturen von Organisationen aufgrund von Gewohnheiten und Wertvorstellungen diskriminierend (Beutke u. Kotzur 2015). In der Bundesrepublik Deutschland gibt es dazu bisher praktisch keine aktuellen Ergebnisse oder publizierte Forschungsresultate. Erst in den letzten Jahren widmen sich wenige Forschungsprojekte Fragen zu institutioneller Diskriminierung und Rassimus (z.B. Graevskaia et al. 2022).

Benachteiligende Auswirkungen der Pandemie für Migrantinnen und Migranten

International finden sich zum Thema „Covid-19-Pandemie und Migration“ allerdings eine Reihe von Übersichtsarbeiten aus den Jahren 2021/2022, die im Zuge einer selektiven Literaturrecherche identifiziert wurden. Nachfolgend werden wesentliche Ergebnisse dieser Arbeiten präsentiert und interpretiert.
Politi et al. (2021) beschäftigten sich mit Auswirkungen von Covid-19 auf die Mehrheitsbevölkerung, ethnische Minderheiten und Migranten in Form eines systematischen Reviews zur Bedrohungsbewertung. Die Tabelle 1 fasst die wahrgenommenen Bedrohungen der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung und von ethnischen Minderheiten, Migrantinnen und Migranten stichwortartig zusammen (Tab. 1).
Hayward et al. (2021) fassten ihre Erkenntnisse zu klinischen Ergebnissen und Risikofaktoren für eine Covid-19-Infektion bei Migrantinnen und Migranten in sog. Ländern mit hohem Einkommen auf der Basis eines systematischen Reviews wie folgt zusammen: Covid-19-Infektionen waren bei Migranten trotz niedriger Testraten überproportional hoch. Die Hospitalisierung wegen Covid-19 erfolgt bei Migranten häufiger und sie wurden auch häufiger auf einer Intensivstation behandelt. Migrantinnen und Migranten hatten ein höheres Risiko, an bzw. mit Covid-19 zu sterben. Die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die psychische Gesundheit und damit verbundenen Einschränkungen sind inzwischen gut dokumentiert. Migrantinnen und Migranten sind nach Hayward et al. (2021) aufgrund bereits bestehender Risikofaktoren, (potenzieller) Ausgrenzung und sozialer Isolation hiervon besonders betroffen. Mögliche Folgen sind die Verschlechterung bereits bestehender psychischer Erkrankungen. Die Covid-19-Pandemie stellte ein Hindernis für die gesellschaftliche Teilhabe und Integration für immigrierte und Menschen mit Flüchtlingsstatus dar. Als negative soziale Auswirkung der „Lockdowns“ zeigte sich in dieser Gruppe eine besonders hohe Armutsgefährdung und wirtschaftliche Not durch die Pandemiemaßnahmen und häufiger Arbeitslosigkeit.
Hayward et al. (2021) fanden Risikofaktoren, die eine erhöhte Anfälligkeit für eine Covid-19-Infektion bei Migrantinnen und Migranten erklären könnte:
1. Chronische Vorerkrankungen wie Diabetes mellitus, Bluthochdruck und Adipositas, die mit schlechteren Covid-19-Therapieergebnissen verbunden zu sein scheinen, waren in der Migrantenpopulation häufiger (Doan et al. 2021).  
2. Mangelnde Information, allgemeine, schon vorbestehende sprachliche und kulturelle Barrieren sowie befürchtete Kosten gelten als Inanspruchnahme- bzw. Versorgungshindernis.
3. Ebenfalls ein Risikofaktor für eine erhöhte Anfälligkeit für eine Covid-19-Infektion sind problematische Unterbringungsverhältnisse, wie sie Gemeinschaftsunterkünfte, Flüchtlingslager u.ä. bieten (modif. nach Hayward et al. 2021).
Die Abbildung 3 fasst migrantenspezifische Vulnerabilitätsfaktoren zusammen, wobei nach besonderen Expositionsfaktoren, Risiken und Auswirkungen für Personengruppen mit Migrationshintergrund unterschieden wird.
Es ergeben sich eine Reihe von Lehren für die Zukunft, die allerdings nicht nur für die nächste Pandemiesituation gelten sollen. Folgende Maßnahmen werden in den ausgewerteten Übersichtsarbeiten vorgeschlagen: Initiierung von großen retrospektiven und prospektiven Studien, die Migrantinnen und Migranten angemessen repräsentieren, den Migrationsstatus systematisch berücksichtigen und mögliche Unterschiede bei Tests und Diagnosen, Krankenhausaufenthalten und Covid-19-bedingten Todesfällen untersuchen; sammeln und analysieren von Daten zur Impfsituation unter Berücksichtigung des Migrationsstatus; Gewährleistung einer kontinuierlichen und vollständigeren Einbeziehung des Migrationsstatus in Gesundheitsüberwachungs- und -informationssysteme unter Berücksichtigung der geschlechtsspezifischen, ethnischen, sprachlichen, bildungsbezogenen und beruflichen Heterogenität in der Migrantenpopulationen; Entwicklung von länderübergreifenden Pandemieplänen, die explizit die Migrantenpopulationen berücksichtigen; Erarbeiten, Produzieren und aktives Anbieten von spezifischen Informationsmaterialien zur Prävention der jeweiligen Infektionsursache, zu Testverfahren, Behandlung, Kontaktverfolgung, Selbst-isolation usw. unter besonderer Berücksichtigung kultureller und sozialer Aspekte sowie spezifischer Risikofaktoren; Sicherstellung einer schnellen und qualitativ hochwertigen Übersetzung und einer effektiveren Verbreitung von Informationen und Richtlinien des öffentlichen Gesundheitsbereiches in den wichtigsten Sprachen der jeweiligen Migrantengruppen; intersektorale Zusammenarbeit der verantwortlichen Stellen; Berücksichtigung besonderer Migrantengruppen, die in Flüchtlingslagern, Aufnahmezentren, Haftanstalten usw. leben sowie von „Menschen ohne Papiere“ (modif. nach Hayward et al. 2021, Politi et al. 2021, Van Hout et al. 2021, Jaljaa et al. 2022, Doan et al. 2021, Obinna 2021).

Fazit

1. Migrantinnen und Migranten stellen in den jeweiligen Zuwanderungsländern aus soziodemografischen Gründen eine sehr heterogene Gruppe dar. Während der Zusammenhang zwischen sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit vielfach belegt ist, scheinen Menschen mit Migrationshintergrund – aus unterschiedlichen Gründen – weltweit zusätzlich in den Gesundheitssystemen der Zuwanderungsländer in unterschiedlichem Ausmaß Benachteiligungen bei der Gesundheitsversorgung ausgesetzt zu sein. Die Menschen mit Flüchtlingsstatus stellen innerhalb der Migrantenpopulation nochmals eine besonders vulnerable Subgruppe dar.
2. Die meisten Autorinnen und Autoren der zitierten Übersichtsarbeiten gehen davon aus, dass es während der Corona-Pandemie zu einer Verstärkung der ungleichen Gesundheitsversorgung von Menschen mit Migrationshintergrund, insbesondere der mit prekären Arbeitsverhältnissen oder mit unsicherem Aufenthalts- oder Flüchtlingsstatus.
3. Die Pandemiesituation hat brennglasartig in den entwickelten Industrieländern die bereits vorhandenen Defizite verstärkt bzw. sichtbar gemacht.
4. Daraus erwächst die Chance, mithilfe der nun vorhandenen umfangreichen auszuwertenden Daten, die für die Jahre 2021/22 quasi einer epidemiologischen Studie entsprechend, (selbst-) kritische Analysen der bisher vernachlässigten Probleme vorzunehmen und Lösungswege zu erarbeiten.
5. Zukünftige Pandemiepläne sollten Bevölkerungsgruppen mit besonderen Belastungen, darunter eben auch Migrantinnen und Migranten, ausreichend und angemessen berücksichtigen. <<

Migration

Weltweit sind derzeit ca. 82,4 Millionen Menschen vor Krieg, Gewalt, Hunger oder Armut auf der Flucht. Ca. 48 Millionen von ihnen sind sog. Binnenflüchtlinge, die sich innerhalb ihres Heimatlandes zur Flucht gezwungen sehen (CARE 2022). In Deutschland gilt seit 2005 lt. statistischem Bundesamt folgende Definition: Eine Person hat einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurden (Statistisches Bundesamt 2022). Flüchtlinge werden lt. Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention definiert als „Personen, die sich außerhalb des Landes befinden, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen oder in dem sie ihren ständigen Wohnsitz haben, und die wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung haben und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen können oder wegen dieser Furcht vor Verfolgung nicht dorthin zurückkehren können…“ (Statistisches Bundesamt 2022).
Männer und Frauen mit Flüchtlingsstatus stellen demnach eine besondere Subgruppe der Personen mit Migrationshintergrund dar. Derzeit erleben wir eine erneute Flüchtlingswelle aus der Ukraine als Folge des russischen Angriffskrieges.
„2020 lebten nach Zahlen des Mikrozensus in den deutschen Privathaushalten 21,9 Millionen Menschen, die selbst oder bei denen mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht seit Geburt besitzt. Dies entspricht einem Bevölkerungsanteil der Menschen mit Migrationshintergrund von 26,7%. Mehr als die Hälfte davon sind deutsche Staatsangehörige, knapp zwei Drittel selbst zugewandert...“ (BAMF 2020)

Ausgabe 03 / 2022

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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