Digitalisierungspotenziale in der Pflege
http://doi.org/10.24945/MVF.03.22.1866-0533.2407
>> Die Pflegelandschaft in Deutschland steht vor großen Herausforderungen. Mit der älter werdenden Gesellschaft geht eine wachsende Zahl Pflegebedürftiger einher. Ihre Anzahl hat sich von 1999 bis 2019 mehr als verdoppelt [1] – ein Trend, der sich weiter fortsetzen wird. Gleichzeitig besteht ein Pflegenotstand. Insgesamt wird für 2030 im Vergleich zu 2015 durchschnittlich über alle Pflegebereiche ein um 22 bis 26% höherer Bedarf an Pflegefachkräften prognostiziert, der im Bereich der ambulanten Pflege mit bis zu 50% besonders hoch ausfällt [2]. Dabei sind die finanziellen Mittel der sozialen Pflegeversicherung begrenzt. In Summe ergibt sich eine für Pflegebedürftige, pflegende Angehörige sowie Pflegefachkräfte belastende und angespannte Versorgungssituation.
Einführung von digitalen Pflegeanwendungen (DiPA) als neuer leistungsrechtlicher Regelungsbereich
Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG)
wurden in 2019 die Versorgungsmöglichkeiten von Patientinnen und Patienten um digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) erweitert, um „zunehmende[.] Herausforderungen wie eine[.] alternde[.] Gesellschaft, [die] Zunahme der Anzahl chronisch Kranker, [den] Fachkräftemangel sowie [die] Unterversorgung in strukturschwachen Regionen“ mit digitalen Angeboten besser zu meistern [3]. Zwei Jahre später hat die Verabschiedung des Digitale-Versorgung-und-Pflege-Moder-
nisierungs-Gesetzes (DVPMG) den Startschuss für die digitale Innovation der häuslichen Pflege gesetzt: Mehr als 4 Mio. häuslich versorgte Pflegebedürftige (Stand 2019 [4]) haben nunmehr einen Anspruch auf digitale Pflegeanwendungen (DiPA) – unabhängig davon, ob die Versorgung allein durch ihre Angehörigen oder auch durch ambulante Pflegedienste erfolgt, und unabhängig vom individuellen Pflegegrad (§ 40a SGB XI). Als digitale Apps auf dem Smartphone oder browserbasierte Anwendungen auf dem Tablet beziehungsweise Laptop sollen DiPA helfen, die Pflege zu verbessern und den Gesundheitsverlauf positiv zu beeinflussen.
Panel-Diskussion zu DiPA in der
Versorgung: Wo werden sie am
meisten gebraucht?
Von einer Listung erster DiPA ist vor Anfang 2023 nicht auszugehen [5]. Doch bereits heute stellt sich die Frage, in welche Richtung die digitale Pflegeinnovation weisen wird: Welche Arten digitaler Anwendungen haben das größte Potenzial, Versorgungshürden in der Pflege zu überwinden und die Pflege zu verbessern? Wo liegen die drängendsten ungedeckten Unterstützungsbedarfe? Welche dieser Bedarfe können durch ein digitales Produkt am besten adressiert werden?
Diese Fragen betreffen die Nützlichkeit von DiPA in der alltäglichen pflegerischen Versorgung. Auf der Suche nach Antworten führte die _fbeta GmbH eine multidisziplinäre Panel-Diskussion mit Expert:innen aus Pflege und Digital Health durch. Darüber hinaus wurden die Zuhörenden des Panels im Rahmen einer Umfrage um ihre eigene Einschätzung gebeten.
Um als DiPA erstattungsfähig zu sein, müs-
sen digitale Anwendungen einen Nachweis über einen pflegerischen Nutzen erbringen. Da der pflegerische Nutzen ein neuer Begriff der Sozialgesetzgebung ist, muss er noch durch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) in einer Rechtsverordnung konkretisiert werden (§ 78a Abs. 6 Nr. 2 SGB XI). Die Definition des pflegerischen Nutzens wird DiPA-Herstellern als Anhaltspunkt dienen, mit welchen digitalen Funktionen sie auf eine Listung im DiPA-Verzeichnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hoffen können.
Noch ist unklar, welche Dimensionen den pflegerischen Nutzen ausmachen werden. Fest steht jedoch, dass DiPA Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten von Pflegebedürftigen mindern oder einer Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit entgegenwirken sollen (§ 40a SGB XI). Daher wurden die sechs Bereiche, anhand derer eine Pflegebedürftigkeit gemessen wird (§ 14 SGB XI), als Gesprächsgrundlage für die Panel-Diskussion verwendet. Ein positiver Einfluss in jedem dieser Bereiche stellt erwartbar einen pflegerischen Nutzen dar. Diese Bereiche sind:
• Mobilität
• Kognitive und kommunikative Fähigkeiten
• Verhaltensweisen und psychische Problemlagen
• Selbstversorgung
• Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen
• Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte
Ungedeckte Bedarfe und Digitalisierungspotenzial allgemein hoch
Allgemein wurde die Bedarfslage in der Pflege hoch eingeschätzt. Im Mittelwert wurden die ungedeckten Bedarfe bei allen pflegefachlichen Bereichen zwischen 3,82 und 4,1 bewertet (Skala von 1 bis 5, s. Abb. 1 oben). Alle Bereiche liegen also nahe beieinander. Der größte Bedarf wurde hinsichtlich der Selbstversorgung angegeben, die beispielsweise mit Körperpflege oder Nahrungsaufnahme insbesondere solche Unterstützungstätigkeiten umfasst, die häufig anfallen, zeitintensiv sind und in einer allgemein angespannten Pflegesituation besonders herausfordernd sein können. Auffällig ist, dass nur sehr selten in einem der abgefragten Bereiche keine oder nur wenig ungedeckte Bedarfe identifiziert wurden (mit 12% Bewertung 1-2 bei „Verhaltensweisen und psychischen Problemlagen“ am häufigsten genannt).
Hinsichtlich ihres Digitalisierungspotenzials schienen den Teilnehmenden manche pflegefachlichen Bereiche besser geeignet als andere. So wurde das höchste Digitalisierungspotenzial im Bereich der kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten der Pflegebedürftigen gesehen (Mittelwert 4,22, 83% Bewertung 4-5, s. Abb. 1). Mit einer mittleren Bewertung von 3,64 und 3,47 lag die Einschätzung der Teilnehmenden zum Digitalisierungspotenzial bei Selbstversorgung und Mobilität näher am Mittelpunkt der Skala. Mit 24% niedrigem (Bewertung 1-2) und 47% hohem (Bewertung 4-5) Digitalisierungspotenzial war das Bild bei der Mobilität am gespaltensten.
Die Ranglisten der Pflegebereiche sind hinsichtlich der ungedeckten Bedarfe und Digitalisierungspotenziale unterschiedlich. „Kognitive und kommunikative Fähigkeiten“ sowie „Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte“ befinden sich jedoch in beiden Kategorien unter den Top 3.
Sweet Spot in bestimmten
Pflegebereichen erkennbar
Zwar scheinen die Umfragemittelwerte der Pflegebereiche nahe beieinander zu liegen. Doch zeichnen sich solche Bereiche ab, die nach Einschätzung der Teilnehmenden besser für die Digitalisierung der Pflege geeignet sind als andere, da eine digitale Anwendung nicht nur möglich scheint, sondern diese auch auf hohe ungedeckte Bedarfe stößt.
Sowohl ein hohes Maß an ungedeckten Bedarfen als auch ein hohes Digitalisierungs-
potenzial wurde bei „Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte“ (64% Bewertung 4-5 in beiden Kategorien) und „kognitive und kommunikative Fähigkeiten“ (63%) identifiziert (Abb. 2). Diese beiden Pflegebereiche scheinen also aus Teilnehmersicht den Sweet Spot für digitale Innovation darzustellen. Sie umfassen beispielsweise die Gestaltung des Tagesablaufs und das Steuern mehrschrittiger Handlungen, die örtliche und zeitliche Orientierung und das Vornehmen in die Zukunft gerichteter Planungen, die Interaktion mit Personen und das Mitteilen von Bedürfnissen sowie das Verstehen von Sachverhalten und Informationen (§ 14 SGB XI).
Als besonders herausfordernd sind solche Pflegebereiche zu benennen, für die verhältnismäßig häufig ein hoher ungedeckter Bedarf diagnostiziert, das Potenzial einer digitalen Lösung jedoch als gering eingeschätzt wurde. Dies war insbesondere bei der „Selbstversorgung“ (23%) und der „Mobilität“ (25%) der Fall. Diese werden beispielsweise gemessen an der Fähigkeit einer pflegebedürftigen Person, sich fortzubewegen, eine stabile Sitzposition zu halten, Körperpflege zu betreiben und sich eigenständig zu ernähren.
Die Einschätzung eines geringen Digitalisierungspotenzials in diesen Bereichen mag teilweise von der Vorstellung herrühren, eine DiPA solle die im jeweiligen Pflegebereich anfallenden analogen Pflegehandlungen, beispielsweise den Positionswechsel im Bett oder das An- und Auskleiden, digital ersetzen oder unterstützen. Jedoch kann eine DiPA auch Problematiken adressieren, die für Einschränkungen im Bereich der Selbstversorgung oder Mobilität ursächlich sind und Pflegehandlungen überhaupt erst notwendig machen. Statt mobilitätsbezogene Einschränkungen zu kompensieren, könnte eine DiPA demnach die Mobilität der pflegebedürftigen Person beispielsweise durch Übungen verbessern, damit Einschränkungen verringert werden oder überhaupt nicht erst auftreten. Dennoch ist festzuhalten: DiPA, die in der Lage sind, die fähigkeitsbedingte Abhängigkeit von fremder Hilfe in Bezug auf körperliche Aktivitäten zu reduzieren, haben das Potenzial, einen großen pflegerischen Mehrwert zu schaffen.
Fokus auf Sorgegemeinschaft für DiPA-Erfolg essenziell
und vorgesehen
In der Panel-Diskussion kehrte der Gesprächsfokus wiederholt zu einem Thema zurück, das in Bezug auf DiPA insbesondere Pflegefachpersonen und -Expert:innen sowie Angehörige umtreibt: Die Rolle einer DiPA innerhalb der pflegerischen Sorgegemeinschaft beziehungsweise im Pflegearrangement aus Pflegebedürftigen, pflegenden Angehörigen, Pflegediensten und gegebenenfalls ehrenamtlich Pflegenden. Um einen relevanten Mehrwert zu schaffen und allgemeine Akzeptanz zu erwirken, sei es essenziell, dass nicht nur die pflegebedürftige Person selbst, sondern auch Pflegepersonen die Nutzung der DiPA als Gewinn sähen. Dies bedeutet zum einen, dass bei der Entwicklung von DiPA der gesamte Pflegekontext der Berücksichtigung bedarf, die Anwendung also nicht störend in etablierte Prozesse und Strukturen eingreift. Zum anderen ist darauf zu achten, dass DiPA auch abseits des noch zu definierenden pflegerischen Nutzens für Pflegebedürftige bestenfalls auch einen anderweitigen Nutzen für Pflegepersonen entfalten.
Diese Perspektive der engen Interdependenz im Pflegearrangement ist im regulatorischen Rahmen mehrfach abgebildet: Zum einen kommen nicht nur Pflegebedürftige selbst als Nutzer:innen einer DiPA in Frage. Im Zuge einer Anpassung der DiPA-Gesetzgebung im Februar 2022 stellte das BMG klar, dass DiPA auch auf Pflegepersonen ausgerichtet sein können, solange sie „mittelbar positive Auswirkungen auf die von diesen betreuten Pflegebedürftigen haben“ [5]. DiPA können also ihren Nutzen nicht nur im, sondern auch über das Pflegearrangement realisieren.
Des Weiteren werden zusätzlich zur eigentlichen DiPA auch ergänzende Unterstützungsleistungen vergütet, die durch ambulante Pflegedienste erbracht werden können. Denn die Nutzergruppe der Pflegebedürftigen kann auf Unterstützung bei der Nutzung einer digitalen Anwendung angewiesen sein. Diese Regelung stellt sowohl die Nutzbarkeit der DiPA unter Berücksichtigung der individuell vorliegenden Einschränkungen sicher als auch, dass durch DiPA zusätzlich anfallende Pflegehandlungen als solche benannt und entlohnt werden, was für die Akzeptanz in einem bereits stark belasteten Pflegesystem maßgeblich scheint. Auch pflegende An-
gehörige und informell Pflegende führen gegebenenfalls DiPA-bezogene Pflegehandlungen aus, ohne Anspruch auf zusätzliches Pflegegeld. Dass auch deren Unterstützungsbedarfe bei der Entwicklung von DiPA Berücksichtigung finden müssen, wurde daher in der Panel-Diskussion explizit als Erfolgsbedingung benannt.
Darüber hinaus äußerten Teilnehmende den Wunsch, dass sich DiPA nahtlos in andere Versorgungsbereiche integrieren ließen, beispielsweise die Anbindung an die medizinische Versorgung Pflegebedürftiger oder an Smart-Living-/Ambient-Assisted-Living-Systeme. Dies vergegenwärtigt, dass punktuelle Einzellösungen in einer zunehmend digitalisierten Welt allgemein herausfordernd sind, jedoch für die DiPA-Zielgruppe der Pflegebedürftigen ein besonderes Hemmnis darstellen dürften. Der Wunsch nach Integration geht über eine individuelle Betrachtung der Nutzerfreundlichkeit und Alltagstauglichkeit hinaus. Allein aufgrund der komplexen Interaktionen im Pflegebedürftigkeitskontext sei der Bedarf an übergreifenden Lösungen groß, die keine leistungsrechtlichen Inseln, sondern das versorgungspraktische Ökosystem adressierten. Hieraus scheinen sich zwei mögliche Stoß-
richtungen für DiPA zu ergeben:
• DiPA, die für sich alleinstehend die Pflegebedürftigkeit selbst in ihren Ursachen und Symptomen adressieren und so die Selbstständigkeit der Betroffenen erhöhen oder erhalten.
• DiPA, die ihren Mehrwert im Zusammenhang mit der Erbringung menschlichen pflegerischen Handelns entfalten, so die Effektivität des Pflegearrangements stärken und sich in den erweiterten analogen wie digitalisierten Lebenskontext einbetten.
Fazit
Welche Arten von DiPA mit welchen Funktionen in der Pflege am meisten gebraucht werden und am erfolgversprechendsten sind, konnte im Rahmen der Panel-Diskussion und anhand der Umfrageergebnisse nicht abschließend geklärt werden. Wenngleich relevante Bedarfe und Potenzialbereiche identifiziert wurden, wird sich die noch ausstehende und durch das BMG im Rahmen einer Rechtsverordnung vorzunehmende Definition des pflegerischen Nutzens als wesentlicher Anhaltspunkt und Innovationstreiber für die Digitalisierung der Pflege erweisen. Darüber hinaus wird es jedoch an der Innovationskraft potenzieller DiPA-Hersteller liegen, die regulatorischen Möglichkeiten einer digitalisierten Versorgung in Deutschland für sich zu nutzen, digitale Versorgungsschwerpunkte zu setzen und so die Zukunft der Pflege im Sinne aller Beteiligten mitzugestalten. <<
von:
David Messinger MSc
ORCiD: 0000-0003-2977-052X
Cornelius Roll MSc
ORCiD: 0000-0002-1451-6847
Hans-Holger Bleß1
ORCiD: 0000-0001-7643-9966
1: Alle Autoren sind Mitarbeiter der
_fbeta GmbH, Berlin
Zitationshinweis: Messinger, D., Roll, C., Bleß, H.-H.: „Digitalisierungspotenziale in der Pflege“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (03/22), S. 36-39. http://doi.org/10.24945/MVF.03.22.1866-0533.2407
Literatur
[1] Gesundheitsberichtserstattung des Bundes, „Pflegebedürftige (Anzahl und Quote). Gliederungsmerkmale: Jahre, Region, Alter, Geschlecht,“ Gesundheitsberichterstattung des Bundes, 16 12 2020. [Online]. Available: https://www.gbe-bund.de/gbe/pkg_isgbe5.prc_menu_olap?p_uid=gast&p_aid=73803398&p_sprache=D&p_help=0&p_indnr=510&p_indsp=138&p_ityp=H&p_fid=. [Zugriff am 07 04 2022].
[2] K. Blum, M. Offermanns und P. Steffen, „Situation und Entwicklung der Pflege bis 2030,“ Deutsches Krankenhausinstitut, Düsseldorf, 2019.
[3] Deutscher Bundestag (19. Wahlperiode), Drucksache 19/14867: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss), Berlin, 2019.
[4] Statistisches Bundesamt, „Pflegebedürftige nach Versorgungsart, Geschlecht und Pflegegrade,“ DESTATIS, 2020 12 2020. [Online]. Available: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Pflege/Tabellen/pflegebeduerftige-pflegestufe.html;jsessionid=7B89F3730949B284C2ED33732F2ED6C1.live741. [Zugriff am 07 04 2022].
[5] Deutscher Bundestag (20. Wahlperiode), Drucksache 20/734: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss), Berlin, 2022.