„Wir gehen offensiv mit den uns zur Verfügung stehenden Daten um“
http://doi.org/10.24945/MVF.03.22.1866-0533.2398
>> Frau Teichert, bei einem Janssen Open House 2021 sagten Sie in einem Nebensatz, dass man „Qualität mit Routinedaten messbar machen“ könne. Wie funktioniert das?
Das ist nichts Neues. Mit der Aussage habe ich auf die Qualitätsmessung und -entwicklung hingewiesen, die die AOKen seit Jahren weit über die gesetzlichen Vorgaben und Gestaltungsmöglichkeiten hinaus verfolgen. Eine Initiative heißt Verfahren zur Qualitätssicherung mit Routinedaten – kurz QSR. Dieses Verfahren zu ausgewählten
Leistungsbereichen, entwickelt vom
Wissenschaftlichen Institut der Ortskrankenkassen (WIdO), dient als Orientierungshilfe für Patient:innen und einweisende Ärzt:innen. Das QSR-Verfahren konzentriert sich auf Behandlungen, die häufig und vergleichsweise komplikationsträchtig sind und für deren Bewertung ausreichende Daten vorhanden sind. Patient:innen und einweisende Ärzt:innen können mit Hilfe der Krankenhaussuche des im Internet ver-
fügbaren AOK-Gesundheitsnavigators Behandlungsergebnisse recherchieren. Im Navigator sehen sie auf einen Blick auch, in welchen Krankenhäusern bei bestimmten Operationen wie häufig Komplikationen vorkommen – und in welchen Krankenhäusern die Qualitätsergebnisse unterdurchschnittlich ausfallen. Das Ganze ergibt dann die AOK-Lebensbaumsystematik, die im AOK-Gesundheitsnavigator zu sehen ist.
Warum diese Form der Darstellung?
Je nach der Gesamtqualität kann ein Krankenhaus für eine bestimmte Behandlung drei Lebensbaumsymbole für über-, zwei für durchschnittliche und einen Baum
für unterdurchschnittliche Ergebnisse bekommen. Wir
wollen unseren Versicher-
ten damit eine Möglichkeit anbieten, sich über die
Qualitätsergebnisse von Krankenhäusern zu ausge-wählten Behandlungen im Vorfeld zu informieren. Da-
für gehen wir offensiv mit
den uns zur Verfügung ste-
henden Daten um. Transparenz ist kein Selbstzweck, sondern soll unseren Versicherten ermöglichen, selbst zu entscheiden, in welchem Kran-
kenhaus sie sich behandeln lassen wollen – und in welchem eben nicht.
Prof. Busse von der TU Berlin gab beim Kongress „Das Ergebnis zählt!“, veranstaltet von der B. Braun-Stiftung und OptiMedis (s. MVF 06/21), zu Protokoll, dass es zwischen einzelnen Krankenhäusern riesige Qualitätsunterschiede gebe. Dazu hat er diverse Ergebnisse von Standard-Operationen analysiert und unter anderem herausgefunden, dass zum Beispiel bei Gallenblasen-Operationen die schlechtesten Krankenhäuser 34-mal höhere Re-Operationsraten haben als gute. Sein Rat: Solche Krankenhäuser sollten am Eingang Transparente aufhängen müssen, auf denen steht: „Achtung, unsere risikoadjustierte Sterblichkeit ist leider x-mal so hoch wie im Durchschnitt in Deutschland.“
Das ist plakativ zugespitzt – und sicherlich gewollt, damit ein derart wichtiges Thema auch wirklich Aufmerksamkeit bekommt. Richtig ist: Wir wollen nicht, dass unsere Versicherten in das nächste geeignete Krankenhaus fahren. Sondern in das nächste, dass für die jeweils anstehende Operation eine qualitativ gute Behandlung bietet. Die QSR-Daten bieten für die Wahl des richtigen Krankenhauses eine gute Entscheidungshilfe. Prof. Busse könnte übrigens selbst keine Plakate aufhängen – denn er wertet hier die InEK-Daten des IQTiG aus, die er nicht auf Klinikebene zurückführen kann, weil ihm das leider nicht erlaubt ist. Es ist zu hoffen, dass unser neuer Gesundheitsminister das Datennutzungsgesetz auf den Weg bringt, in dem vorgeschrieben werden sollte, dass Transparenz nicht nur schön ist, sondern auch genutzt werden muss, um die Qualität der Versorgung weiter nach vorne zu bringen. Bis es so weit ist, werden wir unseren Weg weiter verfolgen – auch wenn unsere Lebensbaumsystematik von Kliniken mit wenigen Bäumchen sehr kritisch gesehen wird, weil sie die Darstellung von unterdurchschnittlicher Qualität oftmals nicht teilen. Aus unserer Sicht sind die QSR-Daten aber valide genug, um solch eine Aussage zu treffen. Bei der AOK sind die Anzahl der Bäume entscheidend, wobei ein Lebensbaum für eine unterdurchschnittliche, zwei Bäume für eine durchschnittliche und drei für eine überdurchschnittliche Qualität stehen.
In diese drei Qualitätskategorien werden die Kliniken einsortiert, ob sie dem zustimmen oder nicht?
So machen wir das für inzwischen elf Leistungsbereiche. Allerdings gibt es noch viele weitere, die wir ausschließlich den Kliniken transparent zur Verfügung stellen. Dennoch ergeben diese Leistungsbereiche – umso mehr, wenn man sich ein Bild über mehrere Indikationen und deren Behandlungsergebnisse hinweg verschafft – eine wichtige Orien-tierungshilfe bei der Suche nach einem geeigneten Krankenhaus. Ergänzend dazu führen wir Versichertenbefragungen durch, mit denen wir ergänzend versuchen, die Qualitätsdimension aus der Versichertenperspektive abzubilden. Zusammen mit den QSR-Daten ergibt das dann einen recht guten Eindruck, welche Qualität ein Krankenhaus abliefert.
Wie reagieren die Krankenhäuser?
Das ist sehr unterschiedlich. Manche Häuser mit wenigen Lebensbäumen – am häufigsten natürlich die mit nur einem – treten aktiv an uns heran. Sie tun dies in erster Linie, um Kritik an der von uns verwandten Methode zu üben. Teilweise wird infrage gestellt, ob die AOK solche Qualitätsvergleiche überhaupt durchführen sollte. Wenn wir es dann schaffen – was gar nicht so selten der Fall ist – in einen konstruktiven Dialog zu treten, verstehen die meisten Klinikmanager:innen und die Ärzt:innen häufig, dass sowohl das QSR-Verfahren als auch die Versichertenbefragung gute Tools für das interne Qualitätsmanagement eines jeden Krankenhauses sind. Krankenhäuser haben häufig gar keine andere Möglichkeit, sich mit dem lokalen oder auch regionalen Mitbewerbern oder gar den besten in ganz Deutschland zu vergleichen. Das bekommen sie von uns kostenlos.
Aber nicht selbstlos.
Natürlich nicht. Unser Ziel ist es, nach und nach den Boden für eine bessere Ergebnisqualität zu bereiten. Für uns steht im Fokus, die Versorgungsqualität kontinuierlich zu verbessern und die Patientensicherheit zu erhöhen. Dass man das nicht über Nacht schafft und man auch sehr viel Geduld sowie obendrein einen breiten Rücken haben muss, ist uns klar.
Was meinen Sie damit konkret?
In unseren Qualitätsdialogen mit den Krankenhäusern kommen wir anfangs oft in sehr kontroverse und auch kritische Gespräche. Das liegt auch daran, dass wir diese nicht nur mit den Verwaltungschefs, sondern auch mit den Chefärzt:innen führen, die es per se schwierig finden, dass die AOK ihre Qualität zum einen überhaupt misst und die Ergebnisse zudem öffentlich zugänglich macht.
Transparenz ist immer gut, wenn sie einen nicht selbst (be)trifft.
Die offensive Kommunikation von medizinischer Ergebnisqualität erzeugt einen gewissen Handlungsdruck bei den Krankenhäusern. Genau das bezwecken wir ja auch, denn eine kritische Diskussion zu Behandlungsergebnissen und das Lernen daraus haben den größten Impact auf die kontinuierliche Verbesserung des Versorgungsniveaus. Dabei helfen die Datenanalysen, die auf den Abrechnungsdaten der Krankenhäuser basieren, enorm, weil sie absolut objektiv sind. Dazu muss man wissen, dass hinter den netten, grünen Lebensbäumchen ausgefeilte und sehr detaillierte Analysen stehen, die wir den Krankenhausleitungen in einem internen, vertraulichen Klinikbericht zur Verfügung stellen. Nur so kann man unserer Meinung nach Kliniken dazu bringen, in ein Qualitätsmanagement zu investieren, um aus den von uns identifizierten Verbesserungspotenzialen eigene Handlungsoptionen zu erarbeiten.
Krankenkassen haben doch nur auf Abrechnungsdaten Zugriff.
Wir sprechen hier von Routinedaten von über 26 Millionen AOK-Versicherten. Damit kann man schon einiges an Versorgungsforschung leisten. Wir bei der AOK Nordost selbst können allerdings nur auf unsere eigenen Daten auf Landesebene zugreifen, wir speisen diese allerdings anonymisiert in das bundesweite QSR-Verfahren ein.
Ebenso besteht das grundlegende Problem bei Routinedaten, dass sie nicht unmittelbar zur Qualitätssicherung erhoben wurden, sondern eben zur Abrechnung.
Richtig ist, dass es Dinge gibt, die man aus Routinedaten herauslesen kann - und andere eben nicht. Um definieren zu können, wie wir die Daten sinnvoll und wissenschaftlich sauber nutzen können, arbeiten wir hier mit vielen Akteuren aus der Praxis zusammen – in der Regel sind das Chef- und Oberärzt:innen großer Kliniken, die sich zu Expertenpanels zusammenfinden. Hier wird diskutiert und konsentiert, welche Diagnosen sich eignen, um mit Routinedaten Qualität messen zu können. Das sind klassischerweise Diagnosen mit einfacheren Interventionen, wie etwa Knie- und Hüft-Endoprothetik und Blinddarm-OPs etc. Bei Komplexinterventionen ist es derzeitig noch schwierig bis unmöglich, genau zu bestimmen, welche Komplikation und unerwünschten Ereignisse sich originär auf die Behandlung in einem Krankenhaus zurückführen lassen.
Obwohl die Daten anonymisiert sind, können sie diese auf das behandelnde Krankenhaus zurückführen?
Dafür nutzen wir die Standortkennzahlen der Krankenhäuser. Die Daten der Versicherten werden fallübergreifend analysiert. Alle Daten werden so anonymisiert, dass verschiedene Behandlungsereignisse einem Patienten zugeordnet werden können. Der Datenschutz ist durchgehend gewährleistet, da die Identität der Patient:innen weder bekannt noch ermittelbar ist.
Nun wird jeder Verwaltungschef oder Chefarzt sagen: Unsere Patient:innen sind anders und obendrein viel kränker als andere.
Dieser Argumentation könnte man folgen, wenn wir keine Risikoadjustierung hätten.
Die Sie aber haben …
... und zwar ein sehr ausgefeiltes Risikoadjustierungsverfahren. Damit können wir die Vergleichbarkeit der Ergebnisse verschiedener Krankenhäuser sicherstellen. Es ermöglicht uns beispielsweise relevante Unterschiede sehr heterogener Patientengruppen einer großen Universitätsklinik mit einem kleinen 100-Betten-Haus auf dem Land zu vergleichen.
Dann müsste auf Krankheitslast adjustiert werden.
Auf Alter, Geschlecht und Morbidität, einschließlich relevanter Nebendiagnosen.
Zum Beispiel?
Nehmen wir die sehr gut abgrenzbare Knie-Endoprothetik. Nehmen wir zudem an, dass in einer bestimmten Klinik 400 Patient:innen mit dieser OP behandelt wurden. Dann kann man rund 50 Patient:innen von vornherein aus der Analyse ausschließen, weil sie zusätzlich die Nebendiagnose einer Tumorerkrankung haben. 100 weitere Patient:innen fallen heraus, weil sie sich einer Revisions-OP unterzogen haben. Nur die restlichen 250 gehen in eine Risikostratifizierung. Damit soll sichergestellt werden, dass in eine zu analysierende Grundpopulation „Knie-Endoprothetik“ nur diejenigen Patient:innen eingeschlossen werden, die in etwa gleiche, relative Voraussetzungen haben. Damit wird auch ausgeschlossen, dass beispielsweise Unikliniken nicht deshalb benachteiligt werden, weil sie oft eine höhere Ausgangs-Krankenlast zu versorgen haben. Wenn man all das beachtet, kann man einen durchaus fairen Vergleich zwischen den Kliniken hinbekommen, der aufzeigt, wie hoch in Kliniken, die die Leistungsgruppe „Knie-Endoprothetik“ abrechnen, die Revisionsraten, die Nachblutungen oder Nahtinsuffizienzen, Rehospitalisierungen oder gar Todesfälle ausfallen. All diese Komplikation und unerwünschten Ereignisse kann man sehr gut aus Routinedaten herauslesen. Was wir aus unseren Daten nicht herauslesen können, sind die damit verbundenen Einschränkungen von Lebensqualität und sozialer Teilhabe, Leiden, Schmerzen oder bleibende Schäden, die verhindert hätten werden können.
Wie steht es um ökonomische Parameter?
Es geht uns natürlich auch um Vermeidung von Fehlallokationen durch schlechte Qualität. Zwischen dem, was eine Krankenkasse an eine Klinik mit guter oder schlechter Qualität bezahlen muss, liegen manchmal für einen einzigen Behandlungsfall einige Tausend Euro. Durch Komplikationen oder Wiederaufnahmen kann es zu weiteren deutlichen Mehrkosten kommen.
Wenn Qualität verbessert werden sollte, müsste man eigentlich in eine Belohnungs- oder eine Regresssystematik einsteigen.
Unser Ziel muss es doch sein, eine gute Qualität zu ermöglichen und diese den Menschen transparent für ihre zu treffenden Entscheidungen verfügbar zu machen. Was da gar nicht hilft, ist es, weniger gute Krankenhäuser weiterhin ihre Leistungen erbringen zu lassen, mit dem einzigen Unterschied, dass diese dann weniger Geld erhalten. Das halte ich für unethisch und den völlig falschen Ansatz, den wir als AOK Nordost auch nicht mittragen würden. Bei der angekündigten Krankenhaus-Reform benötigen wir andere Instrumente, um die Qualität zu verbessern.
Wie etwa mehr Mindestmengen.
Die gesetzlichen Mindestmengen sind ein wichtiges Instrument für mehr Patientensicherheit. Ziel ist es, besonders anspruchsvolle, komplizierte und planbare Operationen und Behandlungen nur in Kliniken durchzuführen, die über viel Erfahrung verfügen. Studien belegen einen deutlichen Zusammenhang zwischen Routine und Behandlungsergebnis. In Kliniken, in denen die Mindestmenge erreicht wird, ist das Risiko für Komplikationen bei den behandelten Patient:innen deutlich niedriger als in Kliniken, mit wenigen Eingriffen pro Jahr. Letztlich lässt sich die Mindestmengenthematik auf den sehr bekannten Spruch: „Übung macht den Meister“ herunterbrechen. Auf die Vorteile einer Spezialisierung bei Zentren weist auch die aktuelle Studie des WIdO hin. Sie hat ergeben, dass Patient:innen die in zertifizierten onkologischen Zentren behandelt wurden, im Schnitt bessere Überlebenschancen hatten als Patient:innen, die in nicht zertifizierten Krankenhäusern behandelt wurden.
Gibt es denn Fälle, bei denen die Mindestfallzahl eigentlich gar nicht der richtige Parameter ist? Es mag ja Operateure geben, die auch unterhalb der Mindestfallzahl gut sind.
Das wird eher die Ausnahme als die Regel sein. Im Großen und Ganzen sind Mindestmengen – also Untergrenzen für bestimmte Leistungsmengen – schon die richtigen Parameter. Natürlich ist die Erfahrung des einzelnen Operateurs wichtig, aber eben auch die des gesamten Teams, um beispielsweise Komplikationen rechtzeitig zu erkennen und zu behandeln. Mindestmengen sind daher ein wichtiger Bestandteil der Qualitätssicherung, weil sie dazu dienen, die notwendige Erfahrung bei hochkomplexen Leistungen sicherzustellen und damit das Risiko für Patient:innen zu minimieren.
Die vom G-BA beschlossenen Mindestmengen-Regelungen gibt es bislang jedoch nur für sieben planbare Leistungen wie die Leber- oder Nierentransplantation, komplexe Eingriffe an der Speiseröhre oder der Bauchspeicheldrüse, ebenso für Stammzelltransplantationen, Kniegelenk-Totalendoprothesen oder auch für die Versorgung von Früh- und Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht von unter 1.250 Gramm. Warum gibt es nicht mehr?
Der G-BA wurde vom Gesetzgeber aufgefordert, kontinuierlich weitere Mindestmengenregelungen für andere Leistungsbereiche wissenschaftlich fundiert zu beschließen – der Prozess läuft. So hat der G-BA im Dezember vergangenen Jahres neue Mindestmengen für Brust- und Lungenkrebs-Operationen festgelegt, die die Krankenhäuser ab 2025 erreichen müssen. Das begrüßen wir ausdrücklich. Doch Mindestmengen haben nicht nur eine wissenschaftliche Basis, sondern darüber hinaus auch eine enorme politische Dimension.
Ein Beispiel?
Nehmen wir die Mindestmengen für die Früh- und Neugeborenen unter 1.250 Gramm. Die Mindestfallzahl für diese sehr kleinen Frühchen, die eine sehr komplexe Betreuung benötigen, wurde kürzlich von 14 auf 25 erhöht. Wenn man strikt evidenzbasiert vorgehen würde, wäre die Mindestmenge sogar noch höher, als die nun festgesetzte Zahl. Das aber war politisch nicht durchsetzbar, weil befürchtet wurde, dass damit deutlich weniger Frühgeborenenstationen die Mindestmenge erreichen und damit nicht mehr an der Betreuung dieser kleinen Patienten teilnehmen könnten. Im Krankenhausstruktur-Gesetz und in den Vorgaben des G-BA wird nämlich eine rechtsklare Ausgestaltung der Mindestmengen-Regelung umgesetzt, nach der ein Krankenhaus, das die Mindestmenge für eine Leistung nicht erreicht, diese in der Regel nicht erbringen darf und auch keinen Anspruch auf Vergütung durch die gesetzlichen Krankenkassen hat.
Obwohl allen bewusst ist, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen Mindestmengen und Outcome gibt und laut Studien sogar das Sterberisiko signifikant höher ist.
Das wird leider in Kauf genommen, weil die Zugangsqualität scheinbar höher gewichtet wird. Wir würden uns wünschen, dass der Zusammenhang zwischen Mindestmenge und Ergebnisqualität in der Politik, aber auch in der Bevölkerung deutlicher wahrgenommen und akzeptiert wird.
Was ist mit Krankenhäusern, die zum ersten Mal beispielsweise eine Neugeborenenstation aufmachen?
Hier besteht häufig – auch in der öffentlichen Wahrnehmung – ein Missverständnis. Die Neugeborenenstation allein ist es ja nicht, um die es hierbei geht. Krankenhäuser können unter den entsprechenden Voraussetzungen natürlich solche Stationen eröffnen. Wenn sie dann Neugeborene mit einem höheren Geburtsgewicht als 1.250 Gramm betreuen, unterliegen sie nicht der Mindestmengenregel. Nur die Betreuung der hochkomplex zu behandelnden sehr kleinen Frühchen unterliegt der Mindestmengen-Regel und soll daher nur dort erfolgen, wo eine ausreichende Anzahl an Behandlungsfällen mit einer ausreichenden Erfahrung vorliegt. Diese Krankenhäuser müssen dann innerhalb der ersten zwölf Monate mindestens 50 Prozent der Mindestmenge erbringen. Daneben werden sie in der sogenannten Mindestmengen-Transparenzliste gesondert mit „erstmalige oder erneute Leistungserbringung“ gekennzeichnet. Das gilt übrigens für alle anderen Leistungsbereiche, die der Mindestmengen-Regel unterliegen, genauso.
Im Endeffekt sind damit alle Schwangeren Beta-Testerinnen, die ein höheres Risiko für ihr Neugeborenes auf sich nehmen.
Das könnte man so interpretieren. Das gefällt uns nicht, ist aber eine Frage der Politik und der Selbstverwaltung. Es ist aber die absolute Ausnahme, dass neue Perinatalzentren hinzukommen, die sehr kleine Frühgeborene versorgen wollen. Wenn Zentren die nun erhöhte Mindestmenge nicht erfüllen, geht es auch nicht um die Schließung einer solchen Station oder gar Abteilung, sondern um den Entzug der Berechtigung, dort auch diese sehr kleinen Frühgeborenen betreuen zu dürfen. Die sehr kleinen Frühchen unter 1.250 Gramm machen nur 10 Prozent aller Frühgeborenen insgesamt aus.
Kommen wir auf die Schwangeren zurück, die ihr stark untergewichtiges Baby in Kliniken zur Welt bringen sollen, die die Mindestfallzahlen noch nicht erreicht haben. Wissen sie, dass das so ist?
Sie, aber auch ihre betreuenden Ärzte, könnten es wissen, wenn sie vorher einen Blick in den AOK-Gesundheitsnavigator geworfen hätten.
Ein Konjunktiv irrealis, weil das viele nicht tun, und damit – ohne es zu ahnen – die Lernkurven der einzelnen Teams mitmachen müssen.
Genau darum gibt es Instrumente wie den AOK-Gesundheitsnavigator oder die Mindestmengen-Transparenzliste. Besser wäre allerdings, dass im ersten Aufklärungsgespräch vor der Aufnahme in einem Krankenhaus die Mindestmenge verpflichtend thematisiert werden muss. Ebenso wäre zu hoffen, dass sich mehr Patient:innen informieren und – wie man so schön sagt – „mit den Füßen“ abstimmen würden. Das tun auch manche, vor allem jene, die in Metropolregionen leben. Auf dem Land sieht es z.B. bei planbaren Eingriffen etwas anders aus. Hier spielt die reine Verfügbarkeit im „Krankenhaus um die Ecke“ noch immer eine große Rolle, nicht selten eine größere, als die Frage nach der Behandlungsqualität. Hinzukommt, dass gerade in den Flächenländern viele kleine Kliniken wirtschaftlich unter erheblichem Druck stehen, viele auch schon mit dem Rücken an der Wand. Da zählt quasi jeder einzelne Patient als Existenzsicherung. In einer solchen Ausgangssituation ist es häufig sehr schwierig, die Wichtigkeit der Qualitätssicherung miteinander objektiv zu diskutieren. Da ist häufig eine Menge Emotionalität im Spiel, sowohl von Seiten der Akteure in den Krankenhäusern als auch in der Bevölkerung.
Müsste man nicht knallhart sagen: Wenn Ihr die Mindestmenge nicht erfüllt, dürft Ihr Patient:innen nicht mehr aufnehmen, sondern müsst sie an das nächste Krankenhaus mit erfüllter Mindestmenge weiterschicken?
Das ist richtig und ist ja auch so schon in der Mindestmengen-Regelung enthalten: Wer die Mindestmenge nicht erfüllt, darf nicht geplant behandeln und nicht abrechnen. Eine Aufnahme in diesem Krankenhaus ergibt dann keinen Sinn. Und nur zur Klarstellung: Notfälle sind davon ausgenommen. Die Mindestmenge bezieht sich nur auf planbare Operationen und Prozeduren. Allerdings kann einem Krankenhaus die Landesbehörde in bestimmten Fällen, in denen die Anwendung der Mindestmengen-Regelung eine flächendeckende stationäre Versorgung der Bevölkerung vermeintlich gefährden würde, die Leistungsberechtigung mittels Genehmigung erteilen.
Was können Krankenkassen noch tun, um Qualität sicherzustellen?
Wir nutzen alle Möglichkeiten, die uns per Gesetz gegeben sind, bis hin zu gerichtlichen Auseinandersetzungen. Wir von der AOK Nordost sind da recht unerschrocken und investieren viel Energie und Überzeugung, um die Vorgaben der Qualitätssicherung zur Geltung zu bringen, auch indem wir die Vergütungen für Leistungen aussetzen, die unberechtigt erbracht wurden. Allerdings sind alle diese restriktiven Möglichkeiten nicht unsere erste Wahl. Das ist für uns nach wie vor der konstruktive Dialog mit allen Beteiligten.
Müssten Sie nicht bereits Qualitätsverträge mit Kliniken mit bestimmten Volumen abschließen?
Das wurde wegen Corona verschoben, weil wir im Moment nicht all zu viele Kliniken finden, die über Qualitätsverträge verhandeln wollen. Das Problem ist auch, dass zur Zeit niemand weiß, wie man eine fundierte Evaluation aufsetzen könnte, die sicherstellt, dass sich die Qualität wirklich verbessert. Wir wollen doch keine Verträge mit höheren Honoraren abschließen, ohne sicher gehen zu können, dass damit tatsächlich Lebensqualitätsverbesserungen und weniger Komplikationen einhergehen. Fakt ist, dass die Konzeption, einen Qualitätsvertrag aufzusetzen, der wirklich den Namen verdient, sehr teuer ist. Auch sind die personellen Ressourcen, die Krankenkassen wie Kliniken investieren müssten, zur Zeit schwer darstellbar
Was würden Sie sich noch wünschen, um dieses System Qualität noch besser fördern zu können?
Ich wünsche uns allen, dass es bei der Diskussion um Qualität tatsächlich um Qualitätsaspekte geht und nicht in erster Linie um Arbeitsplatzsicherung oder Lokalpolitik. Der gemeinsame Fokus sollte auf der Weiterentwicklung und Verbesserung der sektorenübergreifenden Versorgungsqualität und Patientensicherheit liegen. Über die gesetzliche Qualitätssicherung hinaus engagiert sich die AOK Nordost nicht nur für die Qualitätsmessung im stationären Sektor. Auch im ambulanten Sektor untersucht die AOK Nordost in Zusammenarbeit mit regionalen Arztnetzen die Ergebnisqualität. Ein weiteres spannendes AOK-Projekt ist die Qualitätsmessung mit Routinedaten im Bereich der Pflege. <<
Das Interview führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.
Zitationshinweis: Teichert, D., Stegmaier, P.: „Wir gehen offensiv mit den uns zur Verfügung stehenden Daten um“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (03/22), S. 6-10. http://doi.org/10.24945/MVF.03.22.1866-0533.2398
Vita
Daniela Teichert
ist seit mehr als 25 Jahren für die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) tätig. Ihre Berufslaufbahn startete sie 1990 mit ihrer Ausbildung zur Sozialversicherungsfachangestellten in Cottbus; anschließend übernahm sie bereits früh mit 22 Jahren erste Führungsaufgaben. Nach ihrem Studium der Gesundheits- und Sozialökonomie an der Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie war sie in weiteren verschiedenen Führungspositionen und Projekten verantwortlich tätig. Ab April 2016 war sie Mitglied der Geschäftsleitung und verantwortlich für das Ressort Markt- und Versicherungsservice. Seit Januar 2020 ist Daniela Teichert Vorstandsvorsitzende der AOK Nordost. Neben ihrer hauptberuflichen Tätigkeit für die AOK Nordost engagiert sie sich ehrenamtlich für Schulprojekte und den Jugendsport. Daniela Teichert ist verheiratet und hat zwei Kinder.