„Meilenstein der digitalen Medizin in Deutschland“
http://doi.org/10.24945/MVF.03.22.1866-0533.2401
>> Dr. med. Mirja Mittermaier (Berliner Institut für Gesundheitsforschung und Mitglied der DGIM-Arbeitsgruppe Digitale Gesundheitsanwendungen/KI in Leitlinien) erläuterte zu Beginn des DGIM-Talks die Bedeutung Digitaler Gesundheitsanwendungen, kurz DiGA. In Deutschland können seit Inkrafttreten des Digitale-Versorgung-Gesetz am 19. Dezember 2019 DiGAs von Ärzten oder Psychotherapeuten zu Lasten der GKV verordnet werden. Im ersten Jahr (2020) seien schon rund 50.000 DiGA verordnet und circa 80% von diesen auch aktiviert worden, wofür die Kassen rund 13 Millionen Euro an Leistungsausgaben bezahlt hätten. 90% seien laut Mittermaier verordnet worden, während die Kassen 10% (ohne Vorliegen einer Verordnung) genehmigt hätten. Bei den DiGAs handelt es sich um Medizinprodukte einer niedrigen Risikoklasse, deren Hauptfunktion wesentlich auf digitalen Technologien beruht („App auf Rezept“); bei erfolgreicher Listung durch das BfArM übernehmen die Krankenkassen die Kosten (§§ 33a, 139e SGB V).
Dagegen handelt es sich beim Telemonitoring nicht um eine DiGA, sondern um eine gemäß § 135 Abs. 1 SGB V anerkannte ärztliche Untersuchungs- und Behandlungsmethode der vertragsärztlichen Versorgung („Telemedizin auf Überweisung“) (1). Den dafür notwendigen Beschluss hatte der Gemeinsame Bundesausschuss bereits am 15.12.2020 gefasst, die sog. „Methodenrichtlinie“ (2). Die Grundlagen für die Vergütung der Telemonitoringleistungen der Vertragsärzte hat der erweiterte Bewertungsausschuss mit seinem Beschluss am 15.12.2021 geschaffen (3).
Gemäß § 1 der Methodenrichtlinie ist das Telemonitoring bei Herzinsuffizienz ein datengestütztes, zeitnahes Management, das in Zusammenarbeit zwischen einer primär behandelnden Ärztin oder einem primär behandelnden Arzt (PBA) und einem ärztlichen telemedizinischen Zentrum (TMZ) erfolgt. Der PBA stellt die Indikation und überweist den Patienten an das TMZ. Gemäß § 2 der Methodenrichtlinie müssen beim Patienten kumulativ folgende Bedingungen festgestellt sein: Es liegt eine Herzinsuffizienz nach NYHA-II- oder NYHA-III-Stadium mit einer Ejektionsfraktion < 40% vor, die Patient:in ist Träger:in eines implantierten kardialen Aggregates (ICD, CRT-P, CRT-D) oder ist im zurückliegenden Jahr wegen kardialer Dekompensation stationär behandelt worden.
Gemäß § 3 der Methodenrichtlinie ist das TMZ verantwortlich für die Durchführung des Telemonitorings und für die Dokumentation. Ferner trägt das TMZ insbesondere Sorge für das Funktionieren der technischen Infrastruktur bei dem Patienten und die Aufrechterhaltung der Verbindung zur Datenübertragung.
Die Durchführung und Abrechnung des Telemonitorings zu Lasten der GKV erfordert eine Genehmigung der zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung. Gemäß § 2 der Qualitätssicherungsvereinbarung Telemonitoring bei Herzinsuffizienz (4) – kurz QS-V TmHi – ist dem Arzt die Genehmigung zu erteilen, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind:
1. Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung;
2. Berechtigung zum Führen der Facharztbe-
zeichnung „Innere Medizin und Kardiologie“ bzw. „Innere Medizin mit der Schwerpunktbezeichnung Kardiologie“ und Ge-
nehmigung gemäß der Qualitätssicherungsvereinbarung Rhythmusimplantat-Kontrolle;
3. Erfüllung der technischen Voraussetzungen gemäß § 5 QS-V TmHi
Demnach sind vom TMZ zu verwenden: Kardiale implantierbare Aggregate (ICD, CRT-P, CRT-D) oder externe (Mess-) Geräte zur Erfassung des Körpergewichts, der elektrischen Herzaktion, des Blutdrucks und zur Übermittlung der vom Patienten selbst erhobenen Informationen zur subjektiven Einschätzung seines allgemeinen Gesundheitszustands.
Diese sehr genaue, wenn auch technisch-kompliziert anmutende Spezifizierung geht zurück auf den IQWiG Rapid Report N19-01 „Datengestütztes, zeitnahes Management in Zusammenarbeit mit einem ärztlichen telemedizinischen Zentrum bei fortgeschrittener Herzinsuffizienz“ (5). Insbesondere die Ergebnisse der TIM-HF2-Studie, einer randomisierten kontrollierten Studie von Prof. Köhler zum Telemonitoring bei chronischer Herzinsuffizienz, fielen eindeutig aus, wie die Charité auf der Studienseite (5) schreibt: Nach Vorliegen erster veröffentlichter Ergebnisse der TIM-HF-Studie (6) sei im Rahmen der TIM-HF2-Studie (7) nachgewiesen worden, dass telemedizinisch betreute Patienten deutlich an Lebensqualität hinzugewännen und bei Hochrisikopatienten sogar eine geringere Sterblichkeit erzielt werde. Zudem hätte sich bei nicht-depressiven Patienten mit ausreichender Herzleistung, die in den vorangegangenen zwei Jahren aufgrund einer Dekompensation im Krankenhaus behandelt worden seien, eine Halbierung der Sterblichkeit an Herz-Kreislauferkrankungen gegenüber der Kontrollgruppe ergeben. So haben die Ergebnisse der TIM-HF2-Studie die Voraussetzungen geschaffen für den G-BA-Beschluss.
Spethmann führte zu Beginn seines Vortrags aus, dass an Telemonitoring in einer älter werdenden Gesellschaft eigentlich kein Weg vorbei führe. Die Auswirkungen der sich ändernden Alterspyramide seien schon jetzt deutlich, besonders akzentuiert in den neuen Bundesländern zu beobachten. In Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen läge aktuell der Anteil der 60-70-Jährigen bei 11 Prozent, ähnlich sähe es bei den Über-80-Jährigen aus. Das habe laut Spethmann eine besondere Bedeutung, da viele kardiovaskuläre Erkrankungen eine höhere Prävalenz im höheren Lebensalter aufweisen würden. Demgegenüber sei in den drei Bundesländern der Anteil der für die ambulante Versorgung zur Verfügung stehenden Kardiologen höchst unterschiedlich: Durchschnittlich betreut in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen ein Kardiologe rund 37.000 Einwohner, im Saarland hingegen nur 16.000, der Bundesdurchschnitt läge bei rund 24.000. Dies seien zwar nur Teilaspekte, würden jedoch im Zusammenspiel mit anderen Faktoren dazu führen, dass es laut Deutschem Herzbericht 2019 in den drei Ost-Bundesländern sowohl eine über dem Durchschnitt liegende Hospitalisierungs- als auch eine erhöhte Mortalistätsrate bei Myokardinfakten gebe.
Da nun die Herzinsuffizienz die mit Abstand häufigste Einzeldiagnose für vollstationär behandelte Patient:innen sei, gäbe es Handlungsbedarf. Dies, weil zum einen Herzinsuffizienz die Gesellschaft rund fünf Milliarden Euro pro Jahr koste, wobei der größte Anteil auf die stationäre Behandlung entfalle, vor allem aber weil – so Spethmann – „jede Hospitalisierung die Prognose für unsere Patient:innen verschlechtert“. Da nun der normale Behandlungsablauf der Herzinsuffizienz hauptsächlich im ambulanten Bereich stattfinde und die Patient:innen nur nach bestimmten Zeitintervallen zu ihrem Hausarzt kämen, sei eine engmaschigere Betreuungsmöglichkeit samt einer möglichst täglichen Bewertung des Krankheitszustands angesagt – genau dieser Gedanke, so Spethmann, habe zum Telemonitoring geführt.
Das war zwar im Bereich der Herzinsuffizienz bisher schon länger im Rahmen von IV-Verträgen möglich und auch von diversen Anbietern durchgeführt, kann aber nun in der Regelversorgung eingesetzt werden. Wenn es denn, schränkt Spethmann ein, gelänge, möglichst schnell entsprechende Ressourcen an bestehenden und sich neu zu gegründenden TMZ zu schaffen und in die nötige Größenordnung zu skalieren, was seiner Einschätzung nach nur durch additive Entscheidungsunterstützungssysteme mit
dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz mög-
lich sein werde. Denn immerhin läge die Zahl der Herzinsuffizienz-Patient:innen, die in Deutschland von einem Telemonitoring profitieren würden, bei rund 200.000.
Keine künstliche, sondern jede Menge humane Intelligenz benötigen hingegen Ärzt:innen, die schon jetzt bereit und willens sind, bei ihrer jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung einen Antrag auf TMZ-Zulassung zu stellen. So fordert etwa die KV Bayern vom Antragsteller die Abgabe von Erklärungen, die auch einem Experten für Medizinprodukterecht mindestens konzentriertes Lesen abverlangen. Dabei geht es auch einfacher, wie die Beispiele der KV Berlin oder der KV Hamburg zeigen. Diese fordern vom Kardiologen nur eine Bestätigung seines Dienstleisters, dass die technischen Anforderungen der QS-V TmHi erfüllt werden. Damit kann der Kardiologe seine Zeit dem Patienten widmen – statt dem Studium medizinprodukterechtlicher Texte.
Weil Medizinprodukthersteller im Markt bereits für Verwirrung gesorgt haben, muss klargestellt werden: Nicht jede Software, die im Zusammenhang mit dem Telemonitoring genutzt wird, muss ein CE-Kennzeichen als Medizinprodukt haben. Das schreibt
Dr. Wolfgang Rehmann, einer der führenden Experten für Medizinprodukterecht in Deutschland, in seinem Beitrag über die Anforderungen an die technische Ausstattung für die Umsetzung des Telemonitorings bei Herzinsuffizienz.
Im Unterschied zu DiGA und Videosprechstunde fordert das Telemonitoring eine asynchrone Kommunikation und eine Verteilung von Aufgaben zwischen Patienten, TMZ, PBA und Dienstleistern. Genau dafür sind Cloud-Dienste prädestiniert. In der Cloud wird ein sehr viel höherer Schutz vor Hackerangriffen, Datenverlusten und Systemausfällen erreicht als beim Betrieb eines Rechners in der Arztpraxis. Eine lückenlose Patientenbetreuung erfordert ständige Verfügbarkeit und blitzschnelle Skalierung, wie eigentlich nur Cloud-Dienste sie mit ihrer enormen Rechenleistung ermöglichen (darüber lesen Sie in dieser Ausgabe ab S. 34).
Jedenfalls gab Köhler im DGIM-Talk seiner Hoffnung Ausdruck, dass sich die Anbieterschaft der TMZ nach und nach entwickle und es „bis zum Sommer Einrichtungen gibt, die entsprechende Angebote machen können“.
Die ersten gibt es schon: Dr. Ali Halboos, ärztlicher Leiter eines deutschlandweit tätigen TMZ, berichtet in dieser Ausgabe (S. 33) über die Aufgaben, die spezialisierte Dienstleister für Kardiologen übernehmen können und worauf TMZ bei der Auswahl eines Anbieters zu achten haben. Es gebe wichtige Unterschiede zwischen den Angeboten, besonders in Hinblick auf das Nutzungserlebnis für die Patient:innen. Mit einem Entrepreneur-Arzt aus Hamburg sprach „Monitor Versorgungsforschung“ im Interview (s. 28 ff.). <<
von: MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier
Zitationshinweis: Stegmaier, P.: „Meilenstein der digitalen Medizin in Deutschland“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (03/22), S. 24-26. http://doi.org/10.24945/MVF.03.22.1866-0533.2401