Theorie der Pfadabhängigkeit
http://doi.org/10.24945/MVF.03.22.1866-0533.2412
>> Die Pfadabhängigkeitstheorie hat ihren Ursprung in der Ökonomie (David 1985; Arthur 1994) und wurde nachfolgend von der Politikwissenschaft (Pierson 2000) sowie der Organisations-, Management- und Information-Systems-Forschung (Singh et al. 2015) aufgegriffen. Nachfolgend wird das „Berliner Pfadmodell“ (Phasen I bis III in der Abbildung), welches die Entstehung von organisationaler Pfadabhängigkeit erklärt, genauer dargestellt (Sydow et al. 2009).
Im Zentrum des Modells steht die Annahme, dass unbeabsichtigte Folgen von Entscheidungen in Kombination mit selbstverstärkenden Mechanismen zu einem möglicherweise nicht optimalen, aber schwer veränderlichen Zustand führen. Dies kann auf verschiedenen Analyseebenen erfolgen, zum Beispiel mit Blick auf die Herausbildung überaus stabiler Sektoren- und Professionsgrenzen im deutschen Gesundheitswesen auf einer Makro-Ebene bis hin zur Etablierung eigentlich ineffizienter Verschreibungspraktiken bei Leistungserbringern auf einer Mikro-Ebene (Reuter 2012). Dabei entsteht Pfadabhängigkeit in drei Phasen: In der ersten Phase existiert eine Vielzahl von Handlungsoptionen. Die Wahl einer dieser Handlungsoptionen – ausgelöst durch ein kritisches Ereignis an einer „critical juncture“ – führt dann zum Wirken eines oder mehrerer selbstverstärkender Mechanismen. Das leitet die zweite Phase ein, in der die selbstverstärkenden Mechanismen greifen und mögliche alternative Handlungsoptionen von Akteuren und Organisationen zunehmend einschränken. Dies mündet schließlich in die dritte Phase des Lock-in bzw. der Hyperstabilität. Hier ist ein Pfad entstanden, der das Wählen alternativer Handlungsoptionen quasi unmöglich macht. Eine vierte Phase kennzeichnet dann Versuche und deren Folgen, die entstandene Rigidität durch Maßnahmen zu überwinden („Pfadbruchstrategien“) (s. Abb. 1).
Die bestehende Pfadforschung kennt vier Mechanismen, die zur Selbstverstärkung eines Pfades führen können, ohne dass es weiterer Impulse oder Eingriffe von außen bedarf. Hierzu zählen:
1) Koordinationseffekte („der Status Quo ist mit dem geringsten
Koordinationsaufwand verbunden“),
2) Komplementaritätseffekte („so, wie alles ist, passt es am besten zusammen“),
3) Lerneffekte („Lernen erster Ordnung stabilisiert bestehende Muster“) und
4) adaptive Erwartungen („selbsterfüllende Prophezeiungen, insb. beim Blick mehrerer Personen auf zukünftige Entwicklungen“).
Im Rahmen der Pfadtheorie gilt die Annahme, dass bewusste Handlungen von Akteur:innen wie z. B. Gesundheitsmanager:innen zwar die Pfadabhängigkeit bedingen; dies aber nicht zwangsweise so beabsichtig war. Deren Verhalten kann aus der individuellen Perspektive durchaus sinnvoll erscheinen. Erst das Zusammenwirken einer Vielzahl von Entscheidungen und hierbei wirksamer Mechanismen bedingen dann die skizzierten Auswirkungen eigendynamischer Vorgänge. Pfadabhängigkeit kann also „hinter dem Rücken“ von Akteuren entstehen und schwer zu bemerken sein. Gleichzeitig kann eine bestehende Pfadabhängigkeit eine Zeit lang, z. B. unter gleichbleibenden Rahmenbedingungen, einen, zumindest für einzelne Stakeholder, besonders effizienten Zustand darstellen. Beides erschwert ein Durchbrechen von Pfadabhängigkeit.
Pfadbruch als Ausweg?
Pfadbruchstrategien (s. Phase IV in der Abbildung) werden als ein möglicher Ausweg aus Pfadabhängigkeiten diskutiert. Sie sollen spätestens dann angewendet werden, wenn die Pfadabhängigkeit keinen effizienten Zustand mehr darstellt. Pfadbruchstrategien setzen im Idealfall selbstverstärkende Mechanismen außer Kraft und können die Erschaffung eines neuen Pfades (Pfadkreation) bedingen. Hierzu diskutiert die Literatur z.B. diskursive Praktiken, regulatorische Eingriffe und die Veränderung von bestehenden Machtstrukturen (Schreyögg et al. 2003).
Allerdings sind die Erfolgsaussichten dieser und weiterer denkbarer Pfadbruchstrategien bisher nur relativ weniger erforscht als die Entwicklung und Wirkung von Pfadabhängigkeit.
Potenziell pfadbrechende Ereignisse (z. B. groß angelegte politische Reformen, die Corona-Pandemie) könnten ein weiterer Auslöser für einen möglichen Pfadbruch sein (Sydow et al. 2020). Allerdings zeichnen sich Gesundheitssysteme durch eine hohe Komplexität und viele Interdependenzen aus, was das Durchbrechen einmal etablierter selbstverstärkender Mechanismen extrem erschweren kann. Obwohl Pfadbrüche im Gesundheitswesen dokumentiert sind (Singh et al. 2015; Stache/Sydow 2022), stellen sie gleichzeitig mit Blick auf das deutsche Gesundheitssystem eine enorme gestalterische Herausforderung dar (Schreyögg 2004; Gersch/Sydow 2017).
Verwendung und Nutzen für die Versorgungsforschung
Die Theorie der Pfadabhängigkeit beschreibt mit der Hyperstabilität eines Systems nicht nur einen Ist-Zustand. Vielmehr handelt es sich um eine Prozesstheorie, die den Weg zu diesem Zustand – bzw. sein Durchbrechen – in den Blick nimmt. Somit kann dieser theoretische Ansatz die Stabilität bzw. Veränderung von sozialen und technischen Systemen erklären. Auf den ersten Blick erscheint die Pfadtheorie daher als überaus attraktiv, um festgefahrene Zustände und Wandlungsresistenzen in der Gesundheitsversorgung auf technologischer, organisationaler und systemischer Ebene zu illustrieren. Pfadabhängigkeit wird dabei als Ursache für eine in Deutschland weiterhin bestehende Sektorentrennung (z. B. Auschra/Sydow 2021), eine langsam voranschreitende Digitalisierung (SVR 2021) oder eine generelle Rigidität gegenüber Innovation (Gersch/Sydow 2017) angenommen.
Somit ist die Pfadtheorie in der Lage, Entwicklungen in Gesundheitssystemen ex post und auf verschiedenen Analyseebenen zu erklären. Vor allem Politikwissenschaftler:innen haben die Theorie angewandt, um Mechanismen der Wandlungsresistenz ganzer Gesundheitssysteme darzustellen (z. B. Wilsford 1994). Dies zeigt die Rahmenbedingungen, unter denen Versorgungsorganisationen agieren, und damit verbundene Auswirkungen auf, wie etwa die Trägheit gesundheitlicher Versorgung gegenüber (gesundheits-) politisch oder wirtschaftlich wünschenswerten Wandel. Ökonom:innen konnten beispielsweise zeigen, dass die Versorgung von Diabetespatienten von Lerneffekten und adaptiven Erwartungen auf der Ebene der einzelnen Handelnden in einer unerwünschten Weise stabilisiert werden (Reuter 2012).
Gleichzeitig kann die Theorie auch einen vorausblickenden Charakter entwickeln. Dies geschieht, wenn sie zur Identifikation selbstverstärkender Mechanismen eingesetzt wird, um so z.B. Prognosen für vermutete Standardisierungsprozesse oder Perspektiven für eine unter Umständen ungewünschte Pfadentstehung oder einen zukünftigen Pfadbruch zu entwickeln. Ein Beispiel hier wäre die Frage, welche Mechanismen wie etwa Koordinations- und Komplementaritätseffekte in Kombination mit adaptiven Erwartungen zu mangelnder Interoperabilität technologischer Standards im deutschen Gesundheitswesen führen (Stegemann/Gersch 2019). Eine Überwindung des Lock-in in anbieter-individuelle Spezifikationen sowie isolierte Datensilos könnte gelingen, wenn eine geeignete Kombination aus regulativem Rahmen und ökonomischen Anreizen für die Verwendung internationaler Standards ein neues Momentum schaffen. Dadurch würde jede Entscheidung von einer neuen, veränderten Erwartung getragen, was zu einer hinreichend „kritischen Masse“ an neuen Lösungsimplementierungen führen könnte, insbesondere bei einer gleichzeitigen Unterstützung durch entsprechende infrastrukturelle Ankündigungen und Maßnahmen. Dennoch bleibt offen, ob dies durch eine Kopplung des aktuellen KHZG (2021) an die Beachtung internationaler Standards, einem gematik Kurswechsel zur Ankündigung einer TI 2.0 und zur Einrichtung eines Interoperabilitätsrats („INTEROP Council“: gematik 2022) sowie der Änderung der Förderbedingungen des Innovationsfonds (Gemeinsamer Bundesausschuss 2022) besser gelingen kann als bei vorherigen Versuchen (Gersch/Sydow 2017).
Überraschenderweise gibt es bisher wenige Studien aus dem Bereich der Versorgungsforschung, die die Pfadtheorie nutzen (Auschra/Sydow 2021). Dies mag daran liegen, dass die Theorie vor allem dazu geeignet ist, Prozesse rückblickend zu erklären sowie komplexe empirische Erhebungen voraussetzt (s. unten). Allerdings wird die Pfadabhängigkeitstheorie hier nicht nur auf der Ebene des Gesundheitssystems genutzt. So wird dargelegt, dass selbstverstärkende Mechanismen die Reorganisation von Krankenhäusern hemmen (Krantz/Knoch 2013) oder auf organisatorischer Ebene die Implementation von Versorgungsinnovationen behindern können (z. B. Ilott et al. 2016). Wenige Studien wenden die Theorie der Pfadabhängigkeit im Kontext einzelner Indikationen an, zum Beispiel Reuter (2012) für Diabetes oder Matsuoka und Yamaguchi (2011) für Demenz.
Methodische Herausforderungen und blinde Flecken
Die Messung bzw. der Nachweis von Pfadabhängigkeit ist mit methodischen Herausforderungen verbunden (siehe auch Sydow et al. 2012; Sydow et al. 2020). So ist es naheliegend, bei einer beobachteten starken Wandlungsresistenz eine Pfadabhängigkeit zu vermuten. Diese Vermutung wird jedoch bislang eher selten durch die Darstellung der zur Pfadabhängigkeit führenden Ursachen – kritische Ereignisse und selbstverstärkende Mechanismen – untermauert (Auschra/Sydow 2021). Dies kann in den meisten Fällen nur durch eine detaillierte, oft rückblickende Analyse erreicht werden – was insbesondere bei der Untersuchung von Pfadabhängigkeiten auf systemischer Ebene sehr aufwändig ist. Beispielsweise ist die Identifikation eines kritischen Ereignisses, das zur Pfadabhängigkeit geführt hat, im Nachhinein systematisch schwierig. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn das Ereignis weit zurückliegt und Forschungsergebnisse vom Erinnerungsvermögen bestimmter Schlüsselpersonen abhängen. Auf jeden Fall setzt die Analyse von Pfadabhängigkeiten longitudinale und nach Möglichkeit mehrere Ebenen adressierende Datenerhebungen voraus.
Die Pfadabhängigkeitstheorie bietet sich kaum bei der Evaluation konkreter Innovationen zur Verbesserung der Versorgung an. Nichtsdestotrotz liegt die Stärke dieser Theorie darin, historische Rahmenbedingungen, die die Implementation einer solchen Innovation erschweren, reflektierend in den Blick zu nehmen und damit eine fundierte Analyse der allseits bekannten Rätsel zu ermöglichen: warum fallen Veränderungen so schwer, warum sind sie bzgl. Verlauf und Ergebnis so wenig vorhersehbar und warum gelingen Veränderungsvorhaben so oft nicht? <<
Zitationshinweis: Auschra, C., Gersch, M.: „Theorie der Pfadabhängigkeit“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (03/22), S. 54-56. http://doi.org/10.24945/MVF.03.22.1866-0533.2412
Literatur
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