Gefährdet die Corona-Pandemie die transfusionsmedizinische Versorgung?
http://doi.org/10.24945/MVF.05.22.1866-0533.2433
Als Grund für den Notstand nannte Eichler die Tatsache, dass vor allem zu Beginn der Corona-Pandemie viele Menschen aus Angst vor einer Ansteckung den Besuch von Blutspende-Terminen vermieden hätten, wodurch sehr schnell Engpässe in der Blutversorgung entstanden wären. Durch wiederholte öffentliche Aufrufe während des Lockdowns hätten jedoch glücklicherweise ausreichend Mitbürger:innen kurzfristig zur Blutspende motiviert werden können, wodurch die Blutbanken wieder aufgefüllt werden konnten. Auch wäre parallel dazu in dieser ersten Phase der Pandemie der Blutverbrauch um etwa 30 Prozent gesunken, da planbare Eingriffe in den Kliniken verschoben worden seien. Doch nun holten nach Ende der vielfältigen Beschränkungen des öffentlichen Lebens viele Menschen Aktivitäten nach, auf die sie lange Zeit verzichten mussten, vor allem auch Urlaubsreisen. Dies überschneide sich nun mit einem wieder deutlich gestiegenen Blutbedarf, da viele verschobene Operationen nachgeholt werden müssten.
In Deutschland, so Eichler, hätte der Blutverbrauch in den letzten zehn Jahren insgesamt zwar leicht reduziert werden können, vor allem, weil blutsparende Maßnahmen in den Kliniken umgesetzt wurden. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung werde jedoch die stetig steigende Zahl älterer Menschen aber sehr bald schon zu einer kontinuierlichen Erhöhung des Blutbedarfs führen. Daher müssen, so Eichler, auch in der Pandemie große Anstrengungen unternommen werden, um die Zahl der Blutspender:innen deutlich zu steigern, damit das erforderliche Niveau der Blutversorgung langfristig abgesichert werden kann. Aktuell sei es aber nicht sicher, ob mittelfristig ausreichend neue Blutspender:innen in Deutschland gewonnen werden könnten, um die Blutversorgung auf einem hohen Niveau halten zu können.
Das liegt vor allem daran, dass hierzulande einfach von viel zu wenigen Menschen Blut gespendet werde – das allerdings nicht erst seit Corona. Hier rekurriert Eichler auf die Studie „Bevölkerungsbasierte Analyse der Auswirkungen der Demographie auf die aktuelle und zukünftige Blutversorgung im Saarland“ (1)“, die eine Forschergruppe – mit ihm als Erstautor – im Juni 2021 veröffentlicht hat. In dieser retrospektiven Analyse (1.1. bis 31.12.2017) wurde das Blutspendeaufkommen analysiert, das in diesem Zeitraum sowohl an mobilen als auch an lokalen Orten im Saarland gesammelt wurde. Alle saarländischen Blutspendedienste nahmen an der Studie teil und stellten einen vorher definierten Datensatz zur Verfügung. Die Autoren der Studie betonten, dass diese Studie die erste Untersuchung gewesen sei, die in einem westlichen Bundesland durchgeführt wurde und den großen Einfluss der Demografie auf das Blutangebot und die Nachfrage bestätigt hätte. Darüber hinaus zeige sie deutlich, dass diese Auswirkungen nicht nur in naher Zukunft auftreten werden, sondern dass sie bereits existierten.
Während des Beobachtungszeitraums wurden 43.205 WBD (whole blood donations) von 21.152 Spendern entnommen. Die Spenderhäufigkeit zeigte eine große Bandbreite unter den Spendern, wobei die Mehrheit der Spender (69%) nur ein- oder zweimal spendete, was 46,5% der gesamten Blutspenden ausmachte, während 31% der Spender, die 3-6 Mal Blut spendeten, für 53,5% des Spendenaufkommens verantwortlich waren. Somit hätte weniger als ein Drittel der Spender zu mehr als der Hälfte des Blutangebots beigetragen. Insgesamt hätte die Zahl der gespendeten Einheiten pro Altersgruppe nie über 80 pro 1.000 Einwohner gelegen, womit die Spendenzahl in allen Gruppen unter den in Mecklenburg-Vorpommern (MV) beobachteten Zahlen gelegen hätten. Hier lag der Spitzenwert bei 180 pro 1.000 (Alterskohorte 20-24 Jahre).
Die Zahlen sind alarmierend: Unter der Annahme, dass die Spendehäufigkeit von 2017 auch in Zukunft konstant bleibe, prognostiziert die Projektion des WBD-Angebots im Jahr 2030 einen deutlichen Rückgang um rund 5.500 WBD (12,7% des Gesamtangebots von 2017) als Reaktion auf die abnehmende Zahl von Spendern in der Alterskohorte 45-65 Jahre. Angesichts eines bereits bestehenden strukturellen Defizits von fast 8.200 Erythrozyten im Jahr 2017 prognostiziert die Projektion einen dramatischen Anstieg des regionalen Defizits auf >18.300 Erythrozyten im Jahr 2030.
Nun erlebe das Saarland den schnellsten demografischen Wandel in Westdeutschland. Im Vergleich zu den anderen westlichen Bundesländern weise das Saarland den höchsten Anteil an Menschen in der Altersgruppe über 65 Jahre auf (SL 24,1%; Bundesdurchschnitt 21,8%), was mit dem ostdeutschen Bundesland MV (25,3%) vergleichbar sei. Zusammen mit Bevölkerungswanderungen zwischen den Bundesländern, bei dem das Saarlandein jährliches Defizit aufweise, gebe es zudem einen weiteren negativen Saldo zwischen jährlichen Geburten und Sterbefällen, sodass es wahrscheinlich zu einem kontinuierlichen Rückgang der Gesamtbevölkerung im Saarland führen werde. Das Saarland wurde deswegen als Beispielregion ausgewählt, um die derzeitige und künftige Blutversorgung auf regionaler Basis zu analysieren.
Dieser Wandel wird sich laut Aussage der Eichler-Studie auf das Blutangebot und die Blutnachfrage in Deutschland insgesamt auswirken, doch könnten sich die möglichen Folgen regional unterschiedlich manifestieren. So hätte bereits 2017 eine prospektive 10-Jahres-Längsschnittstudie in MV reproduzierbare Daten zu den Auswirkungen des demografischen Wandels auf Blutangebot und -nachfrage erbracht, auf Basis derer angenommen werde, dass die westdeutschen Bundesländer in 10 Jahren vor einer vergleichbaren problematischen Situation stehen werden (2). Darüber hinaus sei in dieser Studie festgestellt worden, dass die steigende Zahl der Menschen in diesen älteren Altersgruppen einen erheblichen Einfluss auf den regionalen Blutbedarf.
Auf der Grundlage ihrer Studie schlagen die Autoren eine 3-Säulen-Strategie vor, um den drohenden Engpass bei der Blutversorgung im Saarland zu bewältigen. Ein Teil dieser Strategie besteht darin, sich mehr auf Patient-Blood-Managament-Programme zu konzentrieren. Der zweite Teil der Strategie besteht darin, die allgemeine Bereitschaft zur Blutspende in der Gesellschaft zu erhöhen. Zum Dritten soll die Spendenhäufigkeit in der derzeitigen Spenderpopulation erhöht werden. Der Grund: Hätten alle Einmal-im-Jahr-Spender im Jahr 2017 zweimal Blut gespendet, wäre die jährliche Gesamtzahl der WBD in SL um >9.000 gestiegen
Zitationshinweis: Stegmaier, P.: „Gefährdet die Corona-Pandemie die transfusionsmedizinische Versorgung?“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (05/22), S. 37
Literatur
1: https://www.karger.com/Article/FullText/512645
2: https://doi.org/10.1182/bloodadvances.2017005876