Blutzuckerteststreifen auf ebay - Hinweise auf Adhärenzprobleme und ihre Kosten
>> Der Diabetes mellitus ist also eine Volkskrankheit mit immenser gesundheitsökonomischer Bedeutung, die sich u. a. in einer Kostenbelastung der Krankenversicherungen zeigt. Demgemäß fand diese Erkrankung als eine der ersten Eingang in strukturierte Behandlungsprogramme, die sogenannten Disease-Management-Programme. Von Seiten der Gesundheitspolitik und der Selbstverwaltung wird seitdem größte Aufmerksamkeit der Definition von Anforderungen an DMPs und deren Umsetzung gewidmet.
In Zeiten der e-Health verwundert es nicht, im Internet auf einschlägigen Online-Handels- oder Auktionsportalen wie bspw. ebay, amazon, hood.de oder auvito Angebote der zur Behandlung des Diabetes mellitus erforderlichen Verbrauchsmaterialien zu finden. Anders verhält es sich, wenn wie in ebay oder bei hood.de Angebote von „Privat“ feilgeboten wird. Am Sonntag, den 27. Mai 2012 reingeschaut, waren bei ebay 1.321 Angebote von Blutzuckerteststreifen zu finden, davon 857 (ca. 65 %) von Privat. Bei hood.de waren es 31 der 43 Angebote, also 72 %. Hier stellen sich unter vielen anderen die Frage, woher genau werden diese dort zum Kauf angebotenen Blutzuckerteststreifen genommen, und welche Auswirkungen hat das für wen? Zentral steht die Frage im Raum, ob diese privaten Angebote von Verbrauchsmaterialien, die der Diabetiker beim Selbstmanagement seiner Krankheit zur Anwendung zu bringen hätte, als ein grundlegendes Adhärenzproblem anzusehen ist?
Im folgenden Beitrag werden im Abschnitt 2 Einblicke in die Kernpunkte eines jeden DMPs und die Anforderungen an Patienten, die am DMP für den Diabetes mellitus teilnehmen, gewährt. Dem schließt sich im Abschnitt 3 eine Analyse der auf ebay zu findenden und von Privat angebotenen Teststreifen in Verbindung mit einem ersten Erklärungsversuch des Beobachteten an. Dabei wird auf die sich daraus ergebenden ökonomischen wie gesundheitlichen Folgen eingegangen und der durch solche Defizite im Selbstmanagement von Diabetikern entstandene gesellschaftliche Schaden zu dimensionieren versucht. Eine Diskussion im Abschnitt 4 rundet den Beitrag ab, in dem u. a. auch auf wirkungsvolle Möglichkeiten bei der Behebung der offenbar gewordenen Adhärenzprobleme beim Diabetes mellitus eingegangen wird. Ein Fazit (Abschnitt 5) rundet den Beitrag ab.
Das Selbstmanagement und seine Defizite
Kernpunkte eines jeden Disease-Management-Programmes (DMP) sind eine leitlinienorientierte und evidenzbasierte Behandlung, die Stärkung der Sensibilität und des Selbstmanagements des Patienten, ein optimaler Mittel- und Ressourceneinsatz und eine zentrale (benchmarking-)Dokumentation zur epidemiologischen Auswertung und Qualitätssicherung. Erklärtes Ziel dieser Programme ist es, die Patienten vor den Spätfolgen ihrer Erkrankung zu bewahren. (Haas 2011: 68) Studien zur Folge (vgl. Schnellbächer 2010: 167 f.) weisen Diabetiker, die in ein DMP eingeschrieben sind, eine verbesserte Lebensqualität auf, als Diabetiker ohne eine solche Unterstützung. Voraussetzung dafür jedoch ist, dass die Diabetiker im Rahmen von Schulungen und Beratungen eine intensive Auseinandersetzung mit ihrer Krankheit erfahren und so Fähigkeiten entwickeln, die an sie gestellten Anforderungen bewältigen zu können. Dem Diabetiker kommt bei der Behandlung seiner Erkrankung die entscheidende Rolle zu. (Kulzer et al. 2011: 33, Lange 2006) Sofern diese Fähigkeiten auf Seiten der Patienten nicht ausgeprägt sind, sollten sie adäquat ausgebildet werden. All dies wird als Selbstmanagement im Rahmen des Diabetes mellitus bezeichnet, welches zugleich auch den Kriterien einer Adhärenz entspricht.
Die Mindest-Bestandteile eines den Anforderungen an DMPs für Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 entsprechenden Selbstmanagements des Diabetikers sind:1
• regelmäßiges Messen des Blutzuckerwertes,
• das Ermitteln der mit der nächsten Mahlzeit aufzunehmenden Menge an Broteinheiten,
• das Ermitteln der zu verabreichenden Insulinmenge und deren Applikation,
• die zeitpunktgenaue Dokumentation dieser drei Werte,
• die rechtzeitige Wiederbeschaffung der verbrauchten Materialien (Insulin, Kanülen, Blutzuckerteststreifen und Lanzetten) sowie
• das Vorlegen dieser Dokumentation beim behandelnden Arzt.
Die permanent zu erstellende Dokumentation, bspw. in Form eines Diabetes-Tagebuches, ist die wesentliche Behandlungsgrundlage des betreuenden Arztes. (Kulzer et al. 2011: 34) Aus diesem ist die Einstellung des Diabetes mellitus erkennbar. Zugleich ist es die Informationsgrundlage für eine Kontrolle der verbrauchten Insulinmengen und Teststreifen.
Studien zur Folge ist bereits das Führen eines Diabetes-Tagebuches z. T. mit erheblichen Problemen verbunden. Franke verglich bei 94 seiner Patienten die Eintragungen in deren handschriftlich geführten Diabetes-Tagebuch mit den in ihrem Blutzuckermessgerät auf automatischem Wege gespeicherten Daten. Dabei konnte er feststellen, dass die Hälfte der eingetragenen Werte falsch oder frei erfunden war, da sie nicht mit den elektronisch dokumentierten Daten übereinstimmten. (o. V. 2008)
Die Dokumentation der applizierten Insulinmenge setzt eine Therapietreue seitens des Patienten voraus. Patienten mit einem geringen Krankheitsbewusstsein verzichten erfahrungsgemäß eher auf ihre Medikation. (Gensthaler 2008) Sofern in solchen Fällen überhaupt eine Dokumentation der Medikation erfolgt, ist sie der Kategorie „frei erfunden“ zuzuordnen.
Wird dann noch die ohnehin knapp bemessene Zeit des direkten Arzt-Patienten-Kontaktes mit berücksichtigt, erfüllt die bisherige Ausgestaltung des Selbstmanagements noch nicht einmal die Anforderungen an eine „Selbsttestung mit Fremdkontrolle“ (Kulzer 2011 nach Stegmaier 2011: 15). Eine adäquate Versorgung und Betreuung eines Diabetikers kann nicht sichergestellt werden, wenn sich der Arzt bereits bei der Frage nach dem Bedarf an verbrauchten Materialien ausschließlich auf die Aussage des Patienten zu verlassen hat und diesen nicht vertrauen kann. Derartige Strukturen tragen dazu bei, dass es u. a. auch zu den im folgenden Abschnitt beschriebenen Phänomenen mit den skizzierten Folgen kommt.
Blutzuckerteststreifen auf Abwegen
Die hier zugrundeliegende Analyse der von Privat angebotenen Teststreifen basiert auf einer etwa bereits 1,5 Jahre andauernden Beobachtung der Angebote auf ebay. Von Anfang 2011 bis Ende Mai 2012 wurden z. T. täglich der Bestand an sowie der Zugang von Teststreifen-Angeboten erhoben. Gelegentlich erfolgten tagesbezogene Detailanalysen.
Grundsätzlich kann festgehalten werden, daß die Zahl der Blutzuckerteststreifen-Angebote im Zeitraum Anfang August 2011 bis Ende Dezember 2011 relativ konstant geblieben ist, vgl. die Trendgerade in der Abbildung 1. Einen wesentlichen Sprung der Angebotszahl gab es Anfang August 2011. Bis zu diesem Zeitpunkt schwankte die Zahl der von Privat unterbreiteten Angebote von Teststreifen um den Wert 200, vgl. den Beginn der durchgezogenen Linie. Seit dieser Zeit kann ein Schwanken mit stärkeren Abweichungen um einen Wert von 900 beobachtet werden. Eine genauere Betrachtung der Schwankungen zeigt, dass es am Anfang und gegen Ende des Monats einen Ausschlag nach oben gibt. Zur Monatsmitte und an den
-grenzen gibt es jeweils die geringste Anzahl von Angeboten. Zum Jahreswechsel hin reduzierten sich die Angebote von Privat auf ebay deutlich. (Abb. 1).
Die gepunktete Linie verdeutlicht die Anzahl der gewerblich angebotenen Blutzuckerteststreifen. Diese ist - bis auf den Sprung Anfang August 2011 - bis heute in etwa konstant geblieben und schwankt um den Wert 300.
Stichtagsbezogene Detail-Analysen ermöglichen Einblicke in die Angebotsstruktur. Eine solche Analyse ist die nach der Anzahl der Packungen pro Angebot sowie die angebotene Packungsgröße. Handelsüblich sind Packungen mit 10, 25, 50, 100 oder 200 Teststreifen. Am Dienstag, den 15. Mai 2012 wurden um 10.30 Uhr auf ebay bei Eingabe der Produktbezeichnung „Blutzuckerteststreifen“ 1.147 Angebote von Privat angezeigt. Bei genauerer Betrachtung waren bei 1.005 der Angebote Blutzuckerteststreifen zu finden. Die restlichen 142 Angebote enthielten Blutzuckermessgeräte, Insulinpens und -pumpen, Lanzetten, Kanülen oder Diabetes-Tagebücher, alles von Privat!
Von den 1.005 Angeboten mit Blutzuckerteststreifen standen zehn für Angebote von 10er Packungen, 28 für Angebote von 25er Packungen, 891 für Angebote von 50er Packungen und 76 für Angebote von 100er Packungen, vgl. auch Abb. 2, in welcher dies relativ dargestellt ist.
In einem nächsten Schritt wurde die Anzahl der Packungen pro Angebot erfaßt. Deutlich wurde, dass sich hinter den zehn Angeboten von 10er Packungen genau 44 Packungen verbargen. Die 28 Angebote von 25er Packungen enthielten 74 Packungen. Bei den 891 Angeboten von 50er Packungen waren es 1.844 Packungen und bei den 76 Angeboten von 100er Packungen 111 Packungen. In Summe standen 105.590 Teststreifen zum Kauf auf ebay.
Eine sich hier anschließende Frage ist die, ob es sich bei diesen Verkäufern um solche handelt, die Blutzuckerteststreifen am 15. Mai 2012 erstmalig oder zum wiederholten Mal anboten. Ebay unterstützt einen solchen Analysegedanken, denn bekanntlich lassen sich u. a. die vergangenen Verkäufe des jeweiligen Verkäufers mit der Angabe von Datum, Inhalt und Preis anzeigen. Eine Sichtung aller Angebote nach genau dieser Information ergab, dass 86 % der privaten Anbieter zum wiederholten Male Teststreifen veräußerten.
Lediglich 14 % waren erstmalige Anbieter.
Eine weitere Analyse ist die Betrachtung danach, ob die Anbieter über einen definierten Zeitraum auf Gebote warten oder ob sie das Sofort-Kaufen ermöglichen. Dies ist insofern wichtig, weil sich hinter diesen Angeboten eine verfügbare Anzahl von Packungen verbergen und ein Preis vorgegeben ist. Zudem ist die Angebotsdauer deutlich kürzer. Der Anteil der Sofort-Kauf-Angebote am 15. Mai 2012 betrug 14,1 %. Hinter diesen Angeboten standen im Durchschnitt fünf 50er Packungen. Es dauerte in etwa anderthalb Tage, bis diese Angebote verkauft waren. Die Gebote an diesem Tag umfassten im Durchschnitt 2,1 50er Packungen über eine Restlaufzeit von 3 Tagen. Wird unterstellt, dass eine 50er Packung für ca. 20 Euro ersteigert oder gekauft wurde, konnten die Verkäufer allein mit diesen Angeboten 54.370 Euro erlösen. Auf das Jahr hochgerechnet werden so ca. 7,6 Mio. Euro umgesetzt.
Ökonomische und gesundheitliche Folgen
Von Privat veräußerte Blutzuckerteststreifen sind in aller Regel Teststreifen, die von einem Arzt verordnet, vom Diabetiker oder einem Angehörigen ohne Zuzahlung in einer Apotheke abgeholt, nicht aber zur Messung des Blutzuckerwertes verwandt wurden. Eine erste ökonomische Folge aus den jährlichen mittels ebay realisierten Umsätzen mit Teststreifen ist der den gesetzlichen Krankenversicherungen entstandene unmittelbare finanzielle Schaden: Wenn einer Krankenversicherungen eine 50er Packung ca. 30 Euro kostet, dann ergeben sich unter Nutzung der obigen Werte Ausgaben in Höhe von 11,4 Mio. Euro pro Jahr. Insofern diese Ausgaben nicht zu dem gewünschten Ziel: Selbstkontrolle des Blutzuckerwertes, sondern zu einem Nebenverdienst führen, ist dies ein unmittelbarer finanzieller Schaden.
Dieser Schaden ist durch einen mittelbaren zu ergänzen. Dieser ergibt sich aus den gesundheitlichen Folgen der Nichtnutzung der Teststreifen. Zur Näherung an diese Frage ist auf die Situation einzugehen, aus der die Teststreifen genommen werden. In aller Regel ist es eine Diabetes-Situation, also jemand leidet an Diabetes mellitus und wurde seitens seines betreuenden Arztes dazu aufgefordert, mit den verordneten Teststreifen regelmäßig die Blutzuckerwerte zu ermitteln, damit dann unter Berücksichtigung der mit der nächsten Mahlzeit aufzunehmenden Menge an Broteinheiten durch Gabe der entsprechenden Menge eines Insulinpräparates auf den Wert reagiert werden kann.
Werden die zu veräußernden Teststreifen aus einer solchen Situation genommen, fehlen sie beim Selbstmanagement des Diabetikers. Die Resultate sind nicht oder zu spät bemerkte Entgleisungen (Hypo- oder Hyperglykämien) mit den bekannten kurzfristig eintretenden akuten Schädigungen des Organismus des Diabetikers oder der sich eher langfristig entwickelnden bedrohlichen Situation. Diese so hervorgerufenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Diabetikers bedeuten eine zusätzliche finanzielle Belastung seiner Krankenversicherung.
Herkunft der Teststreifen und ihre Nachfrage
Aus was für einer Diabetes-Situation stammen die Teststreifen? Entweder es handelt sich um die eigene oder die Diabetes-Situation eines anderen. In der eigenen Diabetes-Situation kann ein Teil der verordneten Teststreifen zum Zwecke der beabsichtigten Veräußerung auf ebay von vornherein eingespart, also nicht genutzt werden. Im entsprechenden Umfang käme es zur Nichtmessung des Blutzuckerwertes. Auf der Seite des Arztes führt dies zu einer fehlerhaften Wahrnehmung des Behandlungserfolges, wenn er doch mehr Teststreifen zum Zwecke der Nutzung verordnet hatte, jedoch nur ein Bruchteil davon tatsächlich genutzt wurde und sich ein entsprechend schlecht eingestellter Diabetes mellitus ergibt. Eine zweite Option ist das Vortäuschen eines höheren Bedarfs. Statt der durchschnittlich z. B. 150 genutzten Teststreifen pro Monat lässt sich der Patient von vornherein 250 Blutzuckerteststreifen verordnen. Die überschüssigen 100 Teststreifen werden verkauft.
Im Rahmen einer fremden Diabetes-Situation ist zu unterscheiden, von wem die Initiative zum „Abzweigen“ der Teststreifen ausgeht. Dies kann einerseits der Diabetiker in der fremden Diabetes-Situation sein oder derjenige, der als Beteiligter in diese Situation eingebunden ist. Als Letztere sind „geschäftstüchtige“ Angehörige oder auch Pflegekräfte vorstellbar. Beide könnten entweder von einer verfügbaren Menge an Teststreifen einen Teil abzweigen oder, sofern der Kontakt zum Arzt über sie läuft, eine entsprechend höhere Menge an Teststreifen verordnen lassen und die überschüssige Menge „bei Seite nehmen“. Dass es dafür aller Wahrscheinlichkeit nach empirische Befunde gibt, läßt sich aus der Existenz von knapp 2 Mio. Treffern unter google.de ableiten, wenn als Suchbegriffe „Diebstahl“ und „Pflege“ eingegeben werden.
Denkbar ist allerdings auch, dass die Initiative vom Diabetiker selbst ausgeht. Für die Abgabe der Teststreifen an den anderen liegen dann bspw. Motive, wie Dankbarkeit, Verbundenheit gegenüber dem pflegenden Angehörigen oder der Pflegekraft oder auch das „Erkaufen von Zuneigung“ dem Handeln zugrunde. Dies kann grundsätzlich bei jeder beliebigen personenbezogenen Dienstleistung beobachtet werden. Das Motiv verstärkt sich, wenn die auf die Dienstleistung Angewiesenen alleinlebende Ältere sind, welchen es an Kommunikationsmöglichkeiten mangelt.
Das grundsätzliche Motiv für das Handeln des Anbieters ist die Realisation eines steuerfreien Nebeneinkommens entweder mit der eigenen Krankheit oder mit der eines anderen. Gelingt es einem Anbieter bspw. jeden Monat zwei 50er Packungen Teststreifen für je 20 Euro zu veräußern, können jährlich 480 Euro auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung, welche dafür 720 Euro verausgabt hatte, nebenbei verdient werden.
Eine Nachfrage nach diesen Angeboten haben zwei Gruppen von Diabetikern. Einerseits sind dies die privatversicherten Diabetiker, die bei ihrer Krankenversicherung einen Tarif mit Selbstbeteiligung gewählt haben. Ein solcher Tarif erspart ihnen monatlich bis zu 150 Euro an Beitragszahlungen. Bei einer Selbstbeschaffung z. B. von monatlich 100 Teststreifen rechnet sich dies einerseits, wenn der privatversicherte Diabetiker diese über ebay für 40 Euro oder weniger ersteigert. Andererseits spart er gegenüber dem Apothekenabgabepreis, der in der Regel oberhalb von 20 Euro für eine 50er Packung liegt. Andererseits sind dies die gesetzlichversicherten Typ-II-Diabetiker, die sich auf Grund der vom Bundesministerium für Gesundheit am 17. März 2011 verabschiedeten und zum 1. Oktober 2011 in Kraft getretenen Verordnungseinschränkung die Blutzuckerteststreifen nun auf eigene Rechnung zu beschaffen haben. Letzteres setzt voraus, dass diese Diabetiker ein entsprechend ausgeprägtes Krankheitsbewusstsein aufweisen.
Diskussion
Ausgangspunkt für das beobachtete Phänomen ist ein Adhärenzproblem bei der Behandlung des Diabetes mellitus. Im Gegensatz zur Compliance wird unter der Adhärenz die gemeinsam vom Patienten und vom medizinischen Fachpersonal getragene Verantwortung für das Einhalten der Therapiepläne und damit auch des Therapieerfolges gesehen. (Rödel 2011) Hier greifen u. a. Beratungskonzepte, die an der Therapieadhärenz ansetzen. (Lange 2012) Abhilfe schaffen aber auch moderne telemedizinische Systeme, die hier am Beispiel des Diabetes mellitus beiden Beteiligten eine Unterstützung bei der Erreichung des Therapieerfolges bieten.
Auf Seiten der Patienten entlastet ein sogenanntes telediabetische Systeme von allen Dokumentationsaufgaben. Hierzu sind das Blutzuckermessgerät und der Insulinpen mit einer Speicher- und Sendefunktion auszustatten. Die gemessenen Blutzuckerwerte werden mit Datum und Uhrzeit gespeichert. Der Insulinpen speichert die applizierte Menge an Insulin ebenso mit Datum und Uhrzeit ab. Da das Blutzuckermessgerät die Eingabe der mit der nächsten Mahlzeit aufzunehmenden Broteinheiten ermöglicht, steht auch dieser Wert mit Datum und Uhrzeit zur Verfügung. Regelmäßig werden beide Speicher ausgelesen und die Werte sofort auf einem patientenbezogenen Daten-Portal zur weiteren Nutzung abgelegt.
Weiterhin kann auf Basis dieser Daten über eine Ampelfunktion dem Patienten direkt eine unmittelbare Rückkopplung zur Qualität seines Selbstmanagements gegeben werden. Die Ampel schaltet auf „Rot“, wenn ein gravierender und umgehend abzustellender Fehler im Selbstmanagement festgestellt wurde. Ein „Gelb“ steht für einen sich entwickelnden Fehler. Mit einer Information darüber in Verbindung mit einer klaren Empfehlung kann über Veränderungen im Selbstmanagement der Fehler abgestellt werden. Wenn zeitgleich der betreuende Arzt diese Ampel des Patienten auf seinem EDV-System in der Praxis verfügbar hat und nutzt, könnte ggf. die Rückkopplung aus dem telediabetischen System durch eine ärztliche ergänzt werden, was genau der ärztlichen Seite des Adhärenzansatzes entspricht. Die Entlastung des Diabetikers von der Dokumentation hat nicht nur einen Gewinn an Lebensqualität für den Diabetiker zur Folge. Besonders von Vorteil ist dies für die gesamte Behandlungssituation selbst. Der Arzt verfügt durch ein solches System erstmals über eine vollständige und fehlerfreie Dokumentation aller diabetesrelevanten Daten. So kann er zu einer gesicherten Therapieempfehlung gelangen, was bisher keineswegs der Fall ist.
Ein telediabetisches System kann dem betreuenden Arzt „auf Knopfdruck“ auch die aktuellen Verbrauchsdaten bezogen auf das Insulin und die Teststreifen bereitstellen. Wird unterstellt, dass zu jedem Stechen eine neue Lanzette genutzt wird, lässt sich von der Anzahl der gemessenen Blutzuckerwerte auch auf den Verbrauch an Lanzetten schließen, ebenso beim Einsatz der Kanülen. Aus den Daten ist weiterhin ablesbar, wann eine Insulinpatrone gewechselt wurde und wieviel Rest-Insulin noch in der entnommenen Patrone enthalten war. Darauf bspw. im Rahmen der nächsten Patientenschulung reagiert, hilft, die Menge des nicht genutzten Insulins zu reduzieren.
Fazit
Die von Privat auf ebay angebotenen Blutzuckerteststreifen sind Ausdruck eines typischen Adhärenzproblems bei der Versorgung von chronisch Kranken. Wenn schon der Diabetiker selbst nicht auf Therapietreue ausgerichtet ist, so sollte doch wenigstens das medizinische Fachpersonal Ansatzpunkte zur Unterstützung des Patienten zur Verfügung haben. Die bisher mit immensen Mängeln verbundenen, handschriftlichen Diabetes-Tagebücher haben diese Aufgabe nicht erfüllt. Eine mit einem telediabetischen System erstellte digitale Dokumentation kann diesem Auftrag schon eher gerecht werden. Zudem vermag es einen Beitrag zur Vermeidung der gesellschaftlichen Kosten der bisherigen Adhärenzprobleme zu leisten. <<
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