(Gar nicht so) Seltene Erkrankungen
http://doi.org/10.24945/MVF.02.15.1866-0533.1978
>> Circa 80 Prozent der Seltenen Erkrankungen (Orphan Diseases) sind genetisch bedingt. So sind auch 75 Prozent der weltweit mehr als 230 Millionen Betroffenen Kinder. Sie „sterben ohne Therapien durchschnittlich im Alter von 5 Jahren an den Folgen“ (orphanbiotec-foundation).
Insgesamt ist das Spektrum der etwa 7.000 bis 8.000 Seltenen Erkrankungen breit gefächert und umfasst vor allem spezielle Autoimmun- und Krebserkrankungen sowie Infektionskrankheiten. Die heterogene Gruppe aus komplexen Krankheitsbildern zeichnet sich durch einen hohen Schweregrad aus – mit überwiegend chronischem Verlauf bei eingeschränkter Lebenserwartung oder/und -qualität. Selten sind die Krankheiten heilbar, und zumeist sind sie systemisch ausgeprägt, betreffen also gleichzeitig mehrere Organe (NAMSE 2013).
Fehl- und Nichtdiagnose als Haupthindernisse
Seltene Erkrankungen sind in der Regel schlechter erforscht als häufiger vorkommende Krankheiten. Vor allem aber ist die Wahrscheinlichkeit des Erkennens einer Seltenen Erkrankung in der Praxis eines Allgemeinmediziners (die häufigste Erstkonsultation der daraufhin folgenden „Gesundheits-Odyssee“) sehr gering. Die ACHSE (Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen) e.V. schätzt, dass 40-50 Prozent der Betroffenen in Deutschland mindestens eine Fehldiagnose erhalten. Darin sind die Patienten, deren Krankheit nie oder nie richtig diagnostiziert wurde, nicht einmal eingerechnet. Somit wird die Dunkelziffer vermutlich noch deutlich höher liegen.
Das ist insofern dramatisch, als Fehl- und Nichtdiagnose die Haupthindernisse sind, um die Lebensqualität der Menschen mit Seltenen Erkrankungen zu verbessern (Graessner/Rieß 2013). Aber selbst wenn eine Seltene Erkrankung richtig diagnostiziert wurde (die ACHSE spricht hierbei von einem Zeitraum von durchschnittlich sieben Jahren), dann gibt es vielfach noch keine adäquate (medikamentöse) Therapie. Um diesen Rahmenbedingungen entsprechend begegnen zu können, braucht es eine verstärk-te Kooperation.
Mehr Kooperation erforderlich
Die Zusammenarbeit muss auf mehreren Ebenen gleichzeitig ansetzen: regional zwischen den unterschiedlichen Beteiligten im Gesundheitswesen, national zwischen den entsprechenden Fachzentren und international zwischen den unterschiedlichen Gesundheitssystemen. Letzteres bedeutet in Deutschland vor allem eine verstärkte Zusammenarbeit auf EU-Ebene. So waren die Empfehlungen des EU-Rats, national anerkannte Fachzentren zu bilden und nationale Aktionspläne zu erarbeiten, auch ein Auslöser für die Gründung des Nationalen Aktionsbündnisses für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE).
Das NAMSE wurde im Jahr 2010 von BMG, BMBF und ACHSE gegründet. Es hat zum Ziel, die Lebenssituation jedes einzelnen Menschen mit einer Seltenen Erkrankung zu verbessern – und zwar durch gemeinsames Handeln. Daher unterstützen weitere 25 starke Partner das Bündnis, darunter zwei weitere Bundesministerien, AWMF, BÄK, BVMed, DFG, DKG, G-BA, GKV-Spitzenverband, KBV, Orphanet-Deutschland, PKV und vfa bio.
In der 1. Phase bis 2013 wurden 52 Maßnahmenvorschläge erarbeitet. Diese konzentrierten sich auf die Handlungsfelder „Versorgung, Zentren, Netzwerke“, „Forschung“, „Diagnose(sicherung)“, „Register“, „Informationsmanagement“ und dem übergreifenden Thema der „Selbsthilfe und Patientenorientierung“ (NAMSE 2013).
In der 2. Phase sollen die Maßnahmen umgesetzt und begleitet werden. Hierfür sind noch geeignete Indikatoren als Evaluationsbasis zu entwickeln. Schließlich soll das NAMSE und seine Geschäftsstelle in eine nachhaltige, sich selbst tragende Struktur überführt werden. Momentan ist die Fortführung der Geschäftsstelle über den Finanzierungszeitraum des BMG hinaus (2010-2015) allerdings noch unklar.
Ein Beispiel zur Umsetzung einer der beschlossenen Maßnahmen ist die Kartierung von Versorgungseinrichtungen für Menschen mit Seltenen Erkrankungen, der so genannte „se-Atlas“. Zum diesjährigen Tag der Seltenen Erkrankungen am 28. Februar 2015 wurde die Website www.se-atlas.de gestartet. Sie soll sich als zentrales Informationsportal etablieren und einen Überblick über die Versorgungsmöglichkeiten für Menschen mit Seltenen Erkrankungen in Deutschland geben: Wo liegt welches (zertifizierte) Fachzentrum, welche Selbsthilfevereine gibt es, ...?
Orphan Drugs:
ein Geschäftsmodell?
Wenn es eine Therapie für eine Seltene Erkrankung gibt, dann ist häufig die Versorgung mit Arzneimitteln die einzige Behandlungsoption. Bis vor einigen Jahren gab es nur sehr wenige Orphan Drugs, sprich spezifisch für eine Seltene Erkrankung zugelassene Medikamente. Grund hierfür waren die besonderen Marktbedingungen, denn die üblichen Mechanismen greifen in diesem Teilmarkt nur begrenzt. Da den wenigen Patienten hohe F&E-Kosten gegenüberstehen, haben viele Arzneimittelhersteller aufgrund der mangelnden Wirtschaftlichkeit hier kein Geschäftsmodell für sich gesehen.
Mit dem Orphan Drug Act – einem US-amerikanischen Gesetz aus dem Jahre 1983 – sollte sich das ändern. Das Gesetz bietet Unternehmen Anreize zur Entwicklung von Orphan Drugs: durch Zulassungserleichterungen, finanzielle Förderung, Unterstützung der klinischen Forschung und eine Exklusivitätsklausel (sieben Jahre lang keine Zulassung vergleichbarer Präparate gegen die gleiche Krankheit). Im Jahr 2000 verabschiedete auch die Europäische Kommission einen entsprechenden Gesetzesakt, die „Verordnung (EG) Nr. 141/2000 über Arzneimittel für seltene Leiden“.
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doi: 10.24945/MVF.02.15.1866-0533.1978