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„Überwindung der Sektorengrenzen“

31.03.2016 14:00
Interview mit Dr.med. H.-J. Helming, Vorsitzender des Vorstandes KVBB und Lutz O. Freiberg, KVBB-Unternehmensbereichsleiter und Geschäftsführer der IGiB.

>> Warum braucht man ein Programm wie das KV RegioMed Zentrum?
Helming: Das KV RegioMed Programm Templin hat zum Ziel, ausgehend vom realen quantitativen und qualitativen Versorgungsbedarf der im Einzugsbereich zu versorgenden Population, zukunftsfähige Versorgungstrukturen zu schaffen, welche intersektoral, interdisziplinär-interkollegial und multiprofessionell umgesetzt werden. D.h., ausgehend von der Frage, welche Bevölkerung mit welchen gesundheitsrelevanten Merkmalen zukünftig in der Region lebt und welche Morbiditäten sowie soziodemografischen Aspekte damit verbunden sind, müssen regionalspezifische Versorgungsangebote geschaffen und dabei alle regionalen Akteure eingebunden werden. Personelle und infrastrukturelle Ressourcen müssen gebündelt und über ein abgestimmtes Schnittstellenmanagement eine effiziente und qualitativ hochwertige Versorgung sichergestellt werden. Damit wurde in Templin zum ersten Mal überhaupt betrachtet, was man für die in dieser Region wohnenden Bevölkerung an Versorgung braucht – ambulant wie stationär. Das hört sich so selbstverständlich an, ist aber bei der Versorgungs-, speziell der Krankenhausplanung bisher nirgendwo sonst der Fall.

Haben Sie damit die Sektorengrenzen wirklich überwunden?
Freiberg: Das KV RegioMed Zentrum steht für ein integriertes ambulant-stationäres Konzept, das in der Endkonsequenz – einer Überwindung der Sektorengrenzen und der Umsetzung des Grundsatzes so viel ambulant wie möglich, so viel stationär wie nötig – auch neuer Formen von Trägerschaften, Abrechnungssystemen und Leistungsbewertungen bedarf. Das genau unterscheidet die Zentrumsidee von dem einfachen Nebeneinanderstellen von Krankenhäusern, MVZ und Arztpraxen an einem Standort.

Wenn man annimmt, dass überall in Deutschland der gleiche Versorgungsanspruch existiert.
Helming: Diese Prämisse muss unser Handeln bestimmen. Früher konnte man vielleicht noch sagen, man wüsste es nicht besser – bestenfalls suchte man durch „Trial and Error“ den Erkenntnisgewinn. Aber durch die Methoden der modernen Versorgungsforschung kann man eine Region sehr genau nach Alter, Geschlecht, Morbidität und Mortalität betrachten, um so die tatsächliche und die zu erwartende Leistungsdichte zu beschreiben. Wenn man das tut und dann ganz deutlich erkennt, dass die Leistungsdichte, die man für die Bevölkerung der Bundesrepublik als ausreichend empfindet, beispielsweise in Templin in bestimmten Parametern davon weit divergiert, muss man einfach handeln. Genau für solche Entscheidungen kann die Versorgungsforschung aus vorhandenen Daten, wenn man sie denn korreliert, ganz konkrete Gestaltungsvorschläge ableiten.

Wie sind Sie denn vorgegangen?
Freiberg: Wir haben uns die Zahlen betrachtet, die uns eine Vorstudie von Agenon geliefert hat. In dieser Studie erkennt man ziemlich genau, in welchem Gesundheitszustand sich die in diesem Gebiet lebenden Menschen tatsächlich gerade befinden. Daraus können dann Prävalenzen abgeleitet werden, um zu beschreiben, wie sich die heute bereits etablierte Krankheitslast, also die real existierenden Erkrankungen in den nächsten Jahren entwickeln werden. Das ist schon eine neue Betrachtungsweise, denn bisher wurde der Versorgungsbedarf alleine und ausschließlich über die klassischen Leistungsdaten definiert.

Demnach ist es bisher eine rückwärtsgewandte Betrachtung. Denn die klassischen Leistungsdaten erzählen nur, dass eine Erkrankung behandelt worden ist und in der Summe wie oft.
Helming: Das war es dann aber auch schon. In der Region Brandenburg versuchen wir nun darum in Kooperation mit dem Zi beispielhaft einen neuen Ansatz, der aus der Versorgungsforschung heraus ganz neue Blickweisen eröffnet,vor allem zum Thema der ambulant-sensitiven Leistungen.

Also jener Erkankungen, die man nicht unbedingt stationär versorgen muss, weil man das auch ambulant machen könnte.
Freiberg: Aus heutiger medizinischer, aber auch ökonomischer und auch struktureller Sicht stellt sich die Frage immer mehr, ob bestimmte Erkankungen nicht besser ambulant behandelt werden können. Das gilt zum Beispiel für diagnostische Leistungen, die heute noch oft mit einem stationären Aufenthalt verbunden sind, die aber rein vom medizinisch-technischen Fortschritt her inzwischen auch ambulant erfolgen könnten – das wäre eine klassische ambulant-sensitive Leistung.

Warum interessieren Sie diese ambulant-sensitiven Leistungen?
Freiberg: Aus der simplen Erkenntnis heraus, dass in Brandenburg diese  Behandlungen oft gar nicht mehr wohnortnah stationär erfolgen können, weil schon heute die dafür nötige, zum Teil hoch spezialisierte Medizin in der Regel in den hier noch tätigen grundversorgenden Krankenhäusern gar nicht mehr stattfindet; einfach weil die dazu nötigen Voraussetzungen an Spezialisierung und an technischer Ausstattung fehlen.

Macht hier die tradierte Strukturgrenze noch Sinn?
Helming: Das ist zwar eine provokante Fragestellung, aber sie ist die Kernfrage, die auch der Ausgangspunkt meiner Strukturmigrations-Konzeption war. Wir müssen offen darüber reden, ob diese Struktur krankenhaus-ambulant, die von einer Wagenburgmentalität getragen wird, aber funktional ein Anachronismus ist, überhaupt noch adäquat ist; und wenn nicht, welche Struktur denn besser, zukunftssicherer und vor allem für die medizinische Lösung des Patientenproblems geeigneter wäre. Genau in diesem Kontext bewegen wir uns mit dem Strukturmigrationsprojekt Templin. Doch nicht nur hier, denn dieses Thema wollen wir gemeinsam mit dem Zi flächendeckend für ganz Brandenburg analysieren und dann diskutieren. Doch das wird ein ganz neues, eigenständiges Projekt werden.

Warum ausgerechnet Templin?
Freiberg: Templin hat ein paar sehr spezielle Eigenschaften, die für so ein komplexes Thema nahezu ideale Grundvoraussetzungen sind. Eine Eigenschaft ist rein regional: Templin liegt oberhalb des Berliner Autobahnrings mittendrin in der Schorfheide und wird rechts begrenzt durch die Autobahn nach Mecklenburg-Vorpommern und Polen. Wenn Sie versuchen, nach Templin zu kommen, werden Sie zwar merken, dass es rein räumlich gar nicht so weit entfernt von Berlin ist, aber sobald man die Autobahn verlässt, ist man auf dem Land und braucht für die letzten 30 bis 40 Kilometer eine gute Stunde. Das führt dazu, dass die Bevölkerung rings um Templin stark in ihrer Region verbleibt, zumindest was die Inanspruchnahme medizinischer Versorgung angeht. Das ist, wenn man über Versorgungsstrukturen spricht, ein Idealzustand. Denn fast alle Haus- und Fachärzte konzentrieren sich in Templin. Die zweite Voraussetzung ist, dass wir es in der Region mit Ärzten zu tun haben, die von sich aus ein starkes Interesse daran haben, sich auf die demographische Entwicklung einer zunehmend älteren und multimorbiden Bevölkerung einzustellen, die sich von sich aus engagieren, sich vernetzen und die sich damit auf die zukommenden Versorgungsherausforderungen einstellen wollen.

Die bereit sind, die Strukturengrenzen ein Stück weit einzureißen?
Helming: Genau. Es gab jedoch in Templin schon vor vielen Jahren ein Vorprojekt für ein ambulant-stationäres Netz, das leider irgendwann an der Finanzierung gescheitert ist. Das hat aber dazu geführt, dass die hier ansässigen Ärzte sich kennen und grundsätzlich schon ganz gut zusammen arbeiten.

Wie kommt denn der stationäre Part ins Spiel?
Helming: In Templin gibt es einen stationären Träger aus der Sana-Gruppe, der vor rund vier Jahren bereits die Auswirkungen des demografischen Wandels in der Region zu spüren bekommen hatte und eine Lösung suchte. Ich hatte eine Idee und daraus entwickelten wir ein Konzept. Manchmal müssen nur die richtigen Menschen aufeinander treffen. Und Sana war denn auch bereit, über die Veränderung seines Krankenhauses vom Leistungsprofil her zu reden, auch mit der Konsequenz des Vorzugs des ambulanten Bereichs.

Das klingt, gelinde gesagt, schwierig.
Freiberg: Wenn man den Gesamtkontext betrachtet, sicher. Denn es gibt quasi niemanden, der bezogen auf unser Projekt alleine entscheiden kann. Die ambulante Medizin kann nur für die ambulante Medizin sprechen. Der Krankenhausträger spricht auch für sich, doch planerisch hat das Land das Sagen und aus der Daseinsvorsorge heraus spricht auch die Kommune und der Landrat ein ganzes Stück mit, gerade was Erreichbarkeit und Zugang angeht. Und bezahlen müssen das Ganze die Krankenkassen und haben darum oft gegenläufige Interessen. Und obendrein mischt auch noch der G-BA über die Sicherstellungszuschläge mit. Erschwerend kommt aber noch dazu, dass es für so eine derartige  Profilmigration bislang keine Vorbilder gibt.

Das nennt man klassischen Interessenkonflikt.
Helming: Genau darum muss man alle zusammen an einen Tisch bekommen und sich auf ein möglichst pragmatisches Gesamtkonzept verständigen. Dann können alle in ihrem jeweiligen Bereich die entsprechenden Entscheidungen treffen, das Ministerium den Landeskrankenhausplan entsprechend gestalten. Danach erst ist es den Krankenhäusern möglich, ihre Investitions- und Personalplanungen entsprechend auszurichten, aber auch die ambulante Medizin kann dann investieren und sich ebenfalls auf die definierten Strukturherausforderungen einstellen.

So weit sind Sie schon?
Freiberg: Vom Commitment her ja. Das war für uns mit das das größte Aufbauprojekt der letzten Jahre.

Man sagt doch immer, dass es gerade in einer Region wie der Uckermark zu wenig Ärzte gibt.
Freiberg: Das ist eine weitergehende Baustelle, die man grundsätzlich in jeder ländlichen Region hat. Doch wird eine gewisse Reduzierung der Arztzahlen in einer derartigen Region auch ein Stück weit unerlässlich sein, wenn man die entsprechend starke rückläufige Bevölkerung betrachtet. Denn irgendwann wird die Morbiditäts- durch die Mortalitätsentwicklung eingeholt.
Helming: Und bis dahin müssen die Strukturen, die wir jetzt und mit Blick auf genau diese zu erwartende Entwicklung konstruieren und gangbar machen, so effizient und logistisch adaptiert sein, dass man auch mit etwas weniger Behandlungskapazität gleichwohl eine optimale Betreuung gewährleisten kann.

Wie sieht es bei der haus-/fachärztlichen Versorgung in Templin aus?
Freiberg: Dort hat der Generationsübergang an und für sich sehr gut funktioniert. Die Ärzte vor Ort befinden sich zum großen Teil in einem Altersdurchschnitt, der eine entsprechende Perspektive bietet. Das ist das Gute in Templin, denn diese Ärzte sind absolut motiviert, sich mit der demografischen Entwicklung ihrer Klientel auseinanderzusetzen. Noch haben wir den Gestaltungsfreiraum: Heute ist jeder vierte Arzt in Templin über 63, doch in nur 15 Jahren schon jeder Zweite.

Wissen die dort versorgenden Ärzte, was da auf sie zukommt?
Helming: Die Ärzte vor Ort werden sehr intensiv in das Projekt eingebunden und geben uns immer wieder wertvolle Anregungen und strukturelle Vorschläge, wie man das Projekt sinnvoll weiterentwickeln kann. Die, die mitmachen, kennen jede einzelne Zahl, jeden Detailschritt. Transparenz ist enorm wichtig. Jeder muss wissen, wohin die Reise geht. Aber was ebenso wichtig ist: Jeder muss sich mit seinen eigenen Interessen auch ein Stück weit wiederfinden.

Wie rolloutfähig ist denn ein solches Modellprojekt?
Helming: Das sind allenfalls relativierende Faktoren. Wir sind inzwischen so weit, dass wir dem zu Grunde liegenden Versorgungsforschungs-Modell zufolge für jede Region in der Lage sind, die nötige analytische Vorarbeit zu leisten. Wir können exakt sagen, welche Menschen in einer bestimmten Region leben, welche Erkrankungen sie haben, wie sich die in der nächsten Zeit entwickeln werden und welche Strukturmodelle für die ambulant-stationärer Versorgung sich daraus ableiten.  

Das ist aber quasi immer nur der erste Schritt.
Freiberg: Erst muss man eben wissen, wen man genau versorgen muss. Wenn man das erforscht hat, kann man darüber nachdenken, welche Versorgungsstrukturen sich daraus ergeben. Das kann eine stationäre Versorgung sein, wenn sie  wohnortnah unter qualitativen Aspekten möglich ist, dass können aber auch ambulant-stationäre Zentren sein. Das ist die Zukunft. Davon bin ich fest überzeugt. Und genau darum wollen wir den Beleg erbringen, dass das funktioniert.

Ab wann kann man denn sagen, dass es funktioniert?
Helming: Mit der Geriatrie haben wir es schon jetzt bewiesen. Dass wir das schaffen, hat uns vorher auch nicht jeder geglaubt. Doch heute ist unser Ansatz regelhaft fest in der Versorgung etabliert. In der Geriatrie zumindest redet keiner mehr über ambulant oder stationär. Und jetzt gehen wir einfach einen Schritt weiter und hoffen, das wir durch den Innovationsfonds unterstützt werden können.

Wie lange wird diese Umstrukturierungsphase dauern?

Freiberg: Wir rechnen mit einer Zeitschiene von etwa acht bis zehn Jahren. Danach wird es dieses klassische ambulante Krankenhaus in all seiner Widersprüchlichkeit und Sektorenbetrachtung zumindest in der Region nicht mehr geben.
Helming: Dafür aber eine neue Versorgungseinheit oder -struktur, welche für einen Krankenhausträger wirtschaftlich darstellbar, für die kooperierenden „Teamärzte“ interessante Tätigkeitsfelder bietet und für die Patienten eine hochverfügbare, qualitativ hochwertige sowie wohnortnahe Versorgung sicherstellt.

Wie könnten Sie daraus ein Innovationsfonds-Projekt machen?
Helming: Wir sind in der Vorbereitung genau dieser Fragestellung, denn wir werden uns als IGiB gemeinsam mit Sana als Projektträger bewerben. Darüber hinaus gibt es eine starke Gruppe von Unterstützern, unter anderem das „90a-Gremium“ in Brandenburg, das sich explizit zu diesem Projekt bekennt.
Freiberg: Die Voraussetzungen sind geschaffen, nun müssen wir handeln. Darum wäre es schön, wenn wir ein Stück weit auf entsprechende Finanzmittel aus dem Innovationsfonds hoffen könnten, um das Projekt schneller nach vorne zu bringen. Aber Hand aufs Herz: Wir sind von dem Projekt derart überzeugt, dass wir es auch ohne Unterstützung des Fonds machen werden, auch wenn es mit dem Innovationsfonds leichter und vor allem schneller zu schaffen ist. <<

Ausgabe 02 / 2016

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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