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Wenn Politik ohne Versorgungsforschung entscheidet

03.04.2017 14:00
Kommentar von Prof. Dr. med. Franz Porzsolt, Klinische Ökonomik und Versorgungsforschung an der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie am Universitätsklinikum Ulm

http://doi.org/10.24945/MVF.02.17.1866-0533.2011

>> Vor zwei Monaten musste das 23 Milllionen Euro-Projekt PREFERE beendet werden, obwohl es führende deutsche Wissenschaftler, eine der größten Förderorganisationen und zahlreiche Krankenversicherungen befürwortet haben. Externe Vorbehalte wurden ignoriert. Das Deutsche Ärzteblatt hat zwar am 3.2.2017 unter dem Titel „Keine Schuldzuweisungen“ die Fehler des Projekts zusammengefasst, damit sie künftig vermieden werden können, doch der Kardinalfehler solcher und vieler ähnlicher Projekte wurde nicht erwähnt: Die fehlende kritische Diskussion vor der politischen Entscheidung zum Ausschluss bestehender Interessenskonflikte.
Wenn es nicht gelingt, eine interessensneutrale Diskussion stattfinden zu lassen, bevor die gesundheitspolitischen Entscheidungen gefallen sind, werden wir genau das Gegenteil dessen erreichen, was der in diesem Zusammenhang besser entwickelte Rest der Welt anstrebt.
„The Lancet“ hat im Januar 2017 eine Artikelserie zum Thema „overuse“ (Überversorgung) in reichen und armen Ländern gestartet [1,2] und damit genau solche Projekte kritisiert, die in durchaus guter Absicht (aber ohne ausreichende Evidenz) Projekte planen, wie beispielsweise die „Darmspiegelung schon ab 50“.
Auf den ersten Blick und mit angewandter Lebenserfahrung, sprich Bauchevidenz, mag es ja durchaus logisch erscheinen, eine Darmspiegelung schon ab dem 50. Lebensjahr durchzuführen [3]. „Je früher, desto besser“ – das sagen sich nach bestem Wissen und Gewissen Politik und die um die Früherkennung bemühten Organisationen. Die Leistungserbringer sind aus verständlichen Gründen schnell zu begeistern.
Bleiben wir bei der Darmspiegelung: Der behauptete Rückgang der durch Früherkennung entdeckten Darmkrebserkrankungen ist mehr als fraglich. Der Grund: 98 Prozent derjenigen, die zur Früherkennung eingeladen werden, lehnen das Angebot ab! Dafür sind die Teilnehmer, die sich dazu bereit erklären, immer gesünder als jene, welche die Einladung ablehnen, was die Wissenschaft „healthy screenee bias“ nennt. Aufgrund beider Faktoren sind Auswertungen derartiger Frühererkennungsprojekte höchst zweifelshaft, weil die Daten nur auf Basis von rund 2 Prozent überwiegend gesunder Teilnehmer erhoben werden können [3]. Zudem ist unbekannt, bei welchem Teil der Patienten durch ein Früherkennungsprogramm das Fortschreiten zu einem Spätstadium und letztlich der Tod durch Darmkrebs verhindert werden kann.
Aus all diesen Gründen muss – bevor mit vorsorglichen Darmspiegelungen Geld verdient wird – analysiert werden, welcher Teil der Patienten mit und ohne Früherkennung Metastasen eines Dickdarmkarzinoms entwickelt.
Zum „healthy screenee bias“ haben Studenten unseres Kurses in „Klinischer Ökonomik“ eine publizierte Studie entdeckt, in der gezeigt wird, dass Gesunde, die eine flexible Screening-Sigmoidoskopie akzeptiert haben, nicht nur seltener an Darmkrebs sterben, sondern auch seltener an allen anderen Krebsarten versterben als Personen, die nicht am Darmkrebsscreening teilgenommen haben [4].
Es ist nicht einfach, den Erfolg der Früherkennung zu bewerten: Im Idealfall wird zwar bei allen Personen mit positivem Befund im Screeningprogramm eine diagnostische Abklärung vorgenommen, aber bei Teilnehmern mit negativem Befund kann außerhalb von Forschungsprogrammen nicht geklärt werden, ob es sich um ein richtig-negatives oder ein falsch-negatives Ergebnis handelt.
Auf Ebene der diagnostischen Abklärung ist die Unsicherheit sogar größer: Allen Teilnehmern mit positivem Biopsie-Ergebnis (richtig-positiv oder falsch-positiv) wird eine Therapie empfohlen und bei allen mit einem negativen Therapieergebnis (richtig-negativ oder falsch-negativ) wird auf eine Behandlungsempfehlung verzichtet. Wie hoch der Anteil der korrekten diagnostischen Befunde beziehungsweise der zweckmäßigen und zielführenden Therapieempfehlungen ist, bleibt bisher ungewiss.
Dabei gäbe es doch eine einfache Methode, mit der sich ein verlässlicher Näherungswert ermitteln lässt. Man müsste dazu nur sorgfältig dokumentieren, wer zur Brustkrebs- oder Darmkrebs-Früherkennung, wer an beiden Programmen und wer an keinem der beiden Programme teilgenommen hat. Zudem sollte es im Zeitalter der Digitalisierung kein Kunststück mehr sein, zu dokumentieren, welche positiven Hinweise auf das Vorliegen einer Erkrankung weitgehend zweifelsfrei vorgelegen haben.
Mit dieser Dokumentation werden nahezu alle Patienten erfasst, die an einem fortgeschrittenen (metastasiertem) Brustkrebs oder Darm-
krebs erkrankt sind. Diese Patienten repräsentieren ziemlich verlässlich die Gruppe jener, die an dieser Erkrankung versterben. Wenn diese objektivierten Befunde mit den Daten zur Teilnahme an einem Screening-Programm gekoppelt werden, lässt sich weitgehend verlässlich aussagen, welches Screening-Programm tatsächlich effizient ist. Wenn durch ein Mammographie-Screening die Rate der Todesfälle am Brustkrebs ebenso gesenkt wird, wie beim Darmkrebs, ist der Health-Screenee-Bias wahrscheinlicher als ein spezifischer Screening-Effekt.
Die Politik sollte auch kritische Stimmen beachten, die nicht aus namhaften Einrichtungen kommen, wenn die Äußerungen plausibel sind. Wenn jetzt ernsthaft erwogen wird, das Darmkrebs-Screening bereits ab dem 50. Lebensjahr durchzuführen, werden kritische Stimmen nach PREFERE zum zweiten Mal ignoriert. Das Risiko einer Fehlversorgung der Patienten ist anhand der bereits vorliegenden Daten nicht unerheblich.
Nicht zuletzt sollten wir Ärzte die für unsere Patienten nützlichen Leistungen selbst identifizieren, bevor es andere für uns tun. <<

 

Literatur
1. Berwick DM. The Lancet. 08 Jan.2017. DOI:http://dx.doi.org/10.1016/S0140-6736(16)32570-3
2. Brownlee S et al. The Lancet 08 Jan.2017.  DOI:http://dx.doi.org/10.1016/S0140-6736(16)32585-5
3. Brenner H. et al DÄB. 10 Feb.2017
4. Atkin WS et al. Lancet. 2010;375:1624-1633. doi: 10.1016/S0140-6736(10)60551-X.

Zitationshinweis: doi:10.24945/MVF.02.17.1866-0533.2011

Ausgabe 02 / 2017

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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