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Versorgung auf dem Prüfstand: Eine empirische Analyse der Versorgungsqualität von Parkinson-Patienten

03.04.2017 10:20
Die Versorgungsforschung hat in der letzten Dekade an Bedeutung gewonnen, weil zunehmend klar wird, dass die Mehrzahl der wissenschaftlich begründeten Entscheidungen in der Gesundheitsversorgung auf Daten beruhen, die unter den Idealbedingungen einer experimentellen Studie durchgeführt wurden. Diese Idealbedingungen ermöglichen den Nachweis der ‚efficacy‘, was bedeutet, dass ein erwarteter Effekt sehr wahrscheinlich durch die Intervention bewirkt wurde, die als Ursache dieses Effekts vermutet wird. Unter diesen idealen Bedingungen lässt sich aber nicht prüfen, ob der als efficacy nachgewiesene Effekt auch unter Alltagsbedingungen induziert werden kann (effectiveness), wenn die natürlich auftretenden Störfaktoren (confounder) wie z.B. Komorbidität oder Therapien wegen Begleiterkrankungen, nicht ausgeschlossen werden können. Die Unterschiede der Methoden zum Nachweis von efficacy und effectiveness wurden beschrieben (Porzsolt et al. 2015). Um verlässliche Versorgungsentscheidungen treffen zu können, sind aber Informationen zu Effekten erforderlich, die unter Alltagsbedingungen auftreten. Lancet hat das bedeutende Problem der Überversorgung, das uns in der nächsten Dekade begleiten wird (Berwick 2017; Brownlee et al. 2017) aufgegriffen. Dieses Problem kann ohne Darstellung der Versorgungsrealität (unter Alltagsbedingungen) weder quantifiziert noch gelöst werden.

http://doi.org/10.24945/MVF.02.17.1866-0533.2003

Abstract

Im vorliegenden Beitrag haben wir durch eine Gruppendiskussion mit Parkinson Patienten (n=20) und deren Angehörigen (n=10) eine empirische Analyse zur Versorgungsqualität im deutschen Gesundheitssystem durchgeführt. Eine Reihe belastender aber vermeidbarer Probleme konnte identifiziert werden z.B. der häufige Wechsel von wirkstoffgleichen Arzneimitteln, der mit Einstellungsproblemen und Verwechslungen einhergeht, die unzureichende Teilbarkeit von Tabletten und die deutlichen Informations- und Kommunikationsprobleme bei fachübergreifender Versorgung.     Die Ergebnisse bestätigen die Eignung dieses Verfahrens zur Erhebung bedeutender, krankheitsspezifischer Informationen zu bewährten und zu verbesserungswürdigen Versorgungsaspekten. Die Methode ist einfach umsetzbar und eignet sich für die Bewertung von komplexen Strategien, bei welchen aus methodischen Gründen weder die Wirkung unter Idealbedingungen (efficacy) noch deren Wirksamkeit unter Alltagsbedingungen (effectiveness) in vergleichenden Untersuchungen bestätigt werden kann.

Healthcare put to test. An empirical analysis of healthcare quality of
patients with Parkinson’s disease

In this project we used a group discussion with 20 patients suffering from Parkinson’s disease and 10 of their relatives to complete an empirical analysis of healthcare quality in the German healthcare system. Several irksome but avoidable problems could be identified such as the frequent changes of medication with the same chemical agent that are associated with problems of drug adjustment and mistakes of agents, the limited possibility to split tablets, and the obvious limitations of information and communication in multidisciplinary care.
The results confirm the appropriateness of the tool to assess important and disease-specific aspects of useful care as well as those that need to be improved. The tool is simple to implement and can be used for appraisal of complex strategies in which, due to methodical reasons, neither the efficacy under ideal study conditions nor the effectiveness under real world conditions can be assessed in a comparative analysis.

Keywords
Healthcare research, quality of care, method, empirical analysis, Parkinson’s disease

Prof. Dr. med. Franz Porzsolt, Rauph Aliew

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Zitationshinweis : Porzsolt, F., Aliew, R.: "Versorgung auf dem Prüfstand: Eine  empirische Analyse der Versorgungsqualität von Parkinson-Patienten", in "Monitor Versorgungsforschung" (MVF) 02/17, S. 52-57; doi: 10.24945/MVF.02.17.1866-0533.2003

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Versorgung auf dem Prüfstand: Eine empirische Analyse der Versorgungsqualität von Parkinson-Patienten

Die Versorgungsforschung hat in der letzten Dekade an Bedeutung gewonnen, weil zunehmend klar wird, dass die Mehrzahl der wissenschaftlich begründeten Entscheidungen in der Gesundheitsversorgung auf Daten beruhen, die unter den Idealbedingungen einer experimentellen Studie durchgeführt wurden. Diese Idealbedingungen ermöglichen den Nachweis der ‚efficacy‘, was bedeutet, dass ein erwarteter Effekt sehr wahrscheinlich durch die Intervention bewirkt wurde, die als Ursache dieses Effekts vermutet wird. Unter diesen idealen Bedingungen lässt sich aber nicht prüfen, ob der als efficacy nachgewiesene Effekt auch unter Alltagsbedingungen induziert werden kann (effectiveness), wenn die natürlich auftretenden Störfaktoren (confounder) wie z.B. Komorbidität oder Therapien wegen Begleiterkrankungen, nicht ausgeschlossen werden können. Die Unterschiede der Methoden zum Nachweis von efficacy und effectiveness wurden beschrieben (Porzsolt et al. 2015). Um verlässliche Versorgungsentscheidungen treffen zu können, sind aber Informationen zu Effekten erforderlich, die unter Alltagsbedingungen auftreten. Lancet hat das bedeutende Problem der Überversorgung, das uns in der nächsten Dekade begleiten wird (Berwick 2017; Brownlee et al. 2017) aufgegriffen. Dieses Problem kann ohne Darstellung der Versorgungsrealität (unter Alltagsbedingungen) weder quantifiziert noch gelöst werden.

>> Die Versorgungsrealität kann zum einen auf der Ebene einzelner Interventionen, z.B. einer  Mono-Therapie, aber auch auf der Ebene von komplexen Versorgungsstrategien, z.B. eines operativen Eingriffs, der aus zahlreichen einzelnen Interventionen besteht, bewertet werden. Auf der ersten Ebene kann zwischen efficacy und effectiveness differenziert werden. Auf der zweiten Ebene sind vergleichende Bewertungen weder der efficacy noch der effectivness möglich, weil es nicht möglich ist, verschiedene Strategien zu randomisieren oder zu stratifizieren. Die Randomisation scheitert an der praktischen Umsetzbarkeit verschiedener Strategien an derselben Institution; eine Stratifikation von Strategien ist wegen der vielfachen Unterschiede unrealistisch. Ohne eines der beiden Hilfsmittel lässt sich aber mit den bisher verfügbaren Methoden keine vergleichende Analyse durchführen. Deshalb ist die Bewertung der Versorgungsrealität auf der zweiten Ebene meist auf eine Beschreibung von Vorteilen und Mängeln aus der Perspektive des Beurteilers begrenzt.
Das vorliegende Projekt betrifft die Bewertung auf der zweiten Ebene. Es wird eine Methode vorgestellt, mit der die Alltagstauglichkeit einer Versorgungsstrategie auf den Prüfstand gestellt wird, indem bewährte und nachzubessernde Aspekte der Versorgung von den betroffenen Patienten mit Morbus Parkinson und deren Angehörigen berichtet und mögliche Lösungen erwogen werden. Die Krankheitsspezifität der Aussagen lässt sich prüfen.

Methode

Unter dem Titel „Versorgung auf dem Prüfstand“ haben wir Betroffene (Patienten mit Morbus Parkinson) und deren Angehörige zu einer Diskussionsrunde eingeladen, um diesen Personen die  Möglichkeit zu bieten, Aspekte der Versorgung zu benennen, die sich aus der Sicht dieser Befragten bewährt haben oder nachgebessert werden sollten. Für die mögliche Nachbesserung wurden Vorschläge diskutiert. Die zweistündige Veranstaltung fand auf dem Vöhlin-Schloss in Illertissen statt. Die auf 30 Personen begrenzte Teilnehmerzahl (20 Patienten, 10 Angehörige) kamen aus der Region oder wurden über regionale Selbsthilfegruppen eingeladen.

Vier Teile der Veranstaltung
Der erste Teil der Veranstaltung wurde von einem Internisten mit dem Forschungsschwerpunkt „Nutzen von Gesundheitsleistung und Versorgungsforschung“ eingeführt. Er hat die Moderation gemeinsam mit einer Pflegedienstdirektorin eines Universitätsklinikums übernommen. Als Experte für das diskutierte Krankheitsbild hat ein Facharzt für Neurologie das Impulsreferat zu den Besonderheiten des Krankheitsbilds übernommen. Weitere Mitglieder des Teams waren eine Betriebswirtin, eine Krankenschwester, eine Sekretärin und ein Medizinstudent.
Im zweiten Teil wurden die 30 Teilnehmer nach dem Impulsreferat in vier Gruppen aufgeteilt, die jeweils einem Moderator zugewiesen wurden. Aufgabe des Moderators war, die von den Teilnehmern genannten bewährten oder verbesserungswürdigen Versorgungs-aspekte mit der Gruppe zu diskutieren und den Konsens auf einer Flipchart einer vorläufigen Kategorie zuzuordnen.
Die Gruppendiskussion ist ein Meinungsaustausch mehrerer Teilnehmer und Verdichtung eines Konsensus durch die diskutierten Interpretationen (Lamnek 2005). Das Gruppendiskussionsverfahren ist der individuellen Befragung überlegen (Gelbrich 2007; Flick 2009; Lamnek/Krell 2010; Hurkas et al. 2000), weil im Gegensatz zum Einzelinterview individuelle Meinungen detailliert dargestellt und ergänzt werden können (Gelbrich 2007;  Lamnek/Krell 2010; Lamnek 2005).  
Nach dieser Sammelphase der genannten Aspekte wurden die Teilnehmer im dritten Teil der Veranstaltung aufgefordert, ihre Erfahrungen im Rahmen einer Pause untereinander auszutauschen und Lösungsmöglichkeiten zu erwägen. Während dieser Diskussion unter den Teilnehmern, wurden die dokumentierten Aufzeichnungen der vier Gruppen von den Mitglieder des Teams in fünf Kategorien zusammengefasst: Arzneimittel, Medizinische Versorgung, Politik und makroökonomische Organisation, Pflege, Rehabilitation.
Im vierten Teil der Veranstaltung wurden die in Kategorien zusammengefassten Ergebnisse im Plenum vorgestellt und Lösungsmöglichkeiten mit den Teilnehmern diskutiert. Die Ergebnisse der gesamten Veranstaltung wurden von einem der Autoren (RA) in einem Bericht zusammengefasst und im Kontext der aktuellen wissenschaftlichen Literatur dargestellt.

Inhalte der fünf Kategorien (Morbus Parkinson)
Die Kategorie Arzneimittel beinhaltet Aussagen zu Arzneimittel (Wirkung, Nebenwirkungen, Unverträglichkeit, Arzneimittelwechselwirkung, Generika, visuelle Eigenschaften der Tabletten, Arzneimittel-Packung, Dosierung, AM-Umstellung) und zum individuell empfundenen Nutzen der Arzneimitteltherapie, sowie Aussagen zum Herstellungsverfahren, zur Pharmaindustrie und zu den Apotheken. Die Kategorie Medizinische Versorgung beinhaltet Aussagen zur ärztlichen Diagnostik und Behandlung im ambulanten und stationären Sektor, zur Einschätzung der Information, des Fachwissens, der Kommunikation, der Kompetenz und zur allgemeinen ärztlichen Tätigkeit aus Sicht der Patienten und Angehörigen sowie zu Defiziten und Problemen der medizinischen Versorgung.
Die Kategorie Politik und makroökonomische Organisation beinhaltet Aussagen zu den Krankenkassen und zu den Rahmenbedingungen der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung, sowie zu Problemen, die durch die Politik und deren nachgeordnete Institutionen zu lösen sind.
Die Kategorie der Pflege reflektiert Meinungen über Defizite bzw. Probleme bezüglich der Leistungserbringung im Bereich der pflegerischen Versorgung sowie Aussagen zur allgemeinen pflegerischen Tätigkeit, zu Kommunikation und Kompetenz des Pflegepersonals.
Die Kategorie der Rehabilitation beinhaltet Aussagen über die rehabilitative Behandlung, Meinungen zu Defiziten und Problemen in Bezug auf Leistungserbringung und Rehabilitationsmaßnahmen.

Datenerhebung und Auswertung
Unmittelbar vor Beginn der Veranstaltung wurden die Teilnehmer gebeten, anonyme Angaben zu machen zum Status als Patient oder Angehöriger, Geschlecht und Alter, Zeitpunkt der Diagnosestellung, und zum Stadium der Erkrankung nach Hoehn und Yahr. Diese quantitativen Daten sind hier nicht berichtet, weil die Fallzahl (n = 20) zu gering war, um die nachfolgend dargestellten qualitativen Ergebnisse anhand der quantitativen Ergebnisse verschiedenen Subgruppen zuzuordnen.
Zur Analyse von  Gruppenmeinungen  haben wir die systematisierte und strukturierte Inhaltanalyse nach Mayring ausgewählt (Berger-Grabner 2013; Lamnek/Krell 2010; Mayring 2010; Rosenthal 2012).

Krankheitsspezifität der erhobenen Daten
Um Aussagen zur Krankheitsspezifität der Nennungen der Teilnehmer machen zu können, haben wir die Ergebnisse dieses Projekts mit den Ergebnissen verglichen, die nach exakt dem gleichen Verfahren am gleichen Ort zu den Themen „Probleme der Senioren“, „Depression“, „Krebs“ und „Herzinsuffizienz“ durchgeführt wurden. Die detaillierten Ergebnisse dieser Nachfolgeprojekte sind zwar nicht berichtet, wurden aber verwendet, um krankheitsspezifische Nennungen bei Morbus Parkinson von Nennungen zu unterscheiden, die auch bei anderen gesundheitlichen Beeinträchtigungen erhoben wurden (Tab. 1).
Ergebnisse
Die Nennungen der Teilnehmer umfassen bewährte und nachzubessernde Aspekte der Versorgung. Dazu wurden die Ergebnisse der Diskussionen in den kleinen Gruppen (n = 7) und im Plenum (n = 30) zusammengefasst und in fünf Kategorien dargestellt. Die für Morbus Parkinson spezifischen Nennungen wurden durch Vergleiche mit den Nennungen aus analogen Projekten zu vier anderen Gesundheitsproblemen identifiziert. Für mögliche Lösungen berichten wir hier nur die für Morbus Parkinson spezifischen Vorschläge.

Kategorie Arzneimittel (AM)
Diese Kategorie beinhaltet 25 Nennungen zu den drei Themen Generika, Arzneimittelnebenwirkungen und Studien.
10 der 20 Patienten berichteten eine Umstellung während der Behandlung auf ein anderes AM bzw. Generikum. Alle 10 Patienten waren mit der Umstellung nicht einverstanden und  waren unzufrieden. Als Gründe für die Unzufriedenheit wurden arzneimittelbezogene Probleme wie motorische Komplikationen in Form von abnormen, unwillkürlichen bzw. schmerzhaften Bewegungen oder patientenbezogene Probleme in Form von Unsicherheit, Unzufriedenheit, Mangel an Vertrauen oder Probleme bezüglich der Unterschiede im Aussehen der neuen AM, Teilbarkeit und deren Form angeführt.
Wenn eine Umstellung auf Generika erfolgte, wurden „…mehr Nebenwirkungen“, „schlechtere Wirksamkeit, v.a. ist dies nach der Umstellung von Original-Medikament auf ein Generikum spürbar“ und „nicht immer eine effiziente Anpassung an das Krankheitsstadium“, beklagt. Ein Parkinson-Patient berichtet zudem die Unverträglichkeit eines Generikums unmittelbar nach der Umstellung.
Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die mangelnde Teilbarkeit von Tabletten. Eine nicht teilbare große Tablette erschwert das Schlucken und die Einhaltung der angestrebten Dosierung, weil nicht alle Formen der Tabletten in den Apotheken vorrätig sind.
Es wird bemängelt, dass das Aussehen von Generika vom Originalpräparat stark abweichen kann. Die Veränderung der Packung bzw. Tablettenform sowie Tablettenfarbe führt bei Patienten zu einer  Verunsicherung, sowie zu Verwechslungen und Einnahmefehlern.
Die fragliche Wirksamkeit der Generika und sichtbaren Unterschiede der Tabletten führen bei Patienten zu Angstgefühlen und zum Verzicht auf die Einnahme der Tabletten: „Es entsteht häufig Verwirrung und Verunsicherung, Angstgefühle sowie Überlegung über einen Verzicht auf weitere Einnahme von verschriebenen Arzneimitteln, insbesondere in der Arzneimittelumstellungsphase. Deshalb frage ich mich, ob ich unwirksame Medikamente einnehmen sollte“, berichten Patienten, die auf Generika umgestellt wurden.
Der als unnötig empfundene Wechsel des AM erfolgt nicht nur im ambulanten Sektor, sondern findet auch an Schnittstellen zwischen ambulantem und stationärem Sektor. Bei einer Krankenhausaufnahme berichten die Patienten, dass die mitgebrachten AM nach Aussagen des Pflegepersonals nicht weiter eingenommen werden dürfen bzw. wird es ohne Rücksprache zwischen Patient und dem behandelten Arzt umgestellt bzw. abgesetzt.
Ein weiterer Arzneimittelwechsel erfolgt wiederum nach dem Krankenhausaufenthalt durch Hausärzte. Zudem werden in Apotheken ohne Rücksprache mit dem behandelten Arzt unterschiedliche AM angeboten. Die Gründe für einen Wechsel werden häufig nicht genannt und zudem werden die Patienten über die Umstellung durch Hausärzte nicht informiert. Daraus entsteht bei vielen Patienten Aufklärungsbedarf.
Zudem äußerten die Teilnehmer ihre Verunsicherung im Kontext mit Forschungsstudien. So seien die AM oft nur an jüngeren, männlichen Probanden getestet, sodass bei älteren Patienten andere erwünschte und unerwünschte AM-Wirkungen angenommen werden.

Kategorie Medizinische Versorgung

Mit 46 Nennungen erhielten wir zu dieser Kategorie die meisten Informationen. In der größten Subkategorie „Diagnose und Behandlung“ (Abb. 1) beschwerten sich die Patienten über die langfristige und ineffiziente Diagnostik. Die Herausforderung besteht in der Erkennung der anfänglichen Symptome, die vom Arzt oft fehlinterpretiert werden. Um die Diagnose abzuklären, unternehmen die Befragten zahlreiche Arztbesuche (meistens Allgemeinärzte, Psychiater, HNO-Ärzte, Orthopäden, usw.). Diagnostische Tests werden bei fast jedem Arztwechsel wiederholt. Die wechselseitige Information über bereits durchgeführte Untersuchungen ist meist lückenhaft und die  unterschiedliche Diagnostiktiefe verschiedener Ärzte erweckt bei den Parkinson-Patienten den Eindruck eines fehlenden Standards. Es wurde auch berichtet, dass bei einer Verdachtsdiagnose die Überweisung an einen Neurologen zu Bestätigung der Diagnose erst erfolgte, nachdem der Patient selbst die Initiative ergriffen hatte. Patienten werden wegen Fehldiagnosen der Nicht-Neurologen ineffizient therapiert. Dennoch fände keine Prüfung der Diagnose statt. Mehrere Patienten bestätigen, dass die Phase der fraglich korrekten Diagnose und Therapie und die Zunahme der Krankheitssymptome durchschnittlich über 2-3 Jahre anhalten.
Darüber hinaus beklagen die Patienten eine unzureichende arzneimittelbezogene Betreuung durch Ärzte. Die durch AM bedingten Nebenwirkungen bzw. Wechselwirkungen werden durch den Arzt nicht oder zu spät erkannt. Viele Parkinson-Patienten haben den Eindruck, dass sie selbst gefordert sind, den Zusammenhang zwischen Beschwerden und AM-Nebenwirkungen zu erkennen. Dem von den Patienten geäußerten Hinweis auf eine unzureichende Wirkung der medikamentösen Einstellung z.B. wegen Zunahme der Beschwerden, wird häufig nicht nachgegangen.
In der Subkategorie Information und Aufklärung beklagt mehr als die Hälfe der Patienten die mangelnde Beratung über die Ursachen der Krankheit, den Krankheitsverlauf, die Prognose, die Behandlungsmöglichkeiten, die Rehabilitationsangebote und den Nutzen der Rehabilitationsmaßnahmen. Es bestehen Informationsdefizite zur Notwendigkeit der zeitgerechten Einnahme der AM. Mangelnde Beratung wird zum Zeitpunkt der Mitteilung der Diagnose beklagt, weil sich jeder zweite Patient in einem „Schockzustand“ befände. Wegen des wahrgenommenen Zeitdrucks, unter dem die Ärzte stehen, besteht für die Parkinson-Patienten keine Möglichkeit, Fragen zu stellen; die kurzen ärztlichen Gespräche seien meistens nicht informativ und ineffizient.
Als Folge der unzureichenden Beratung fühlen sich die Patienten beim Umgang mit ihrer Krankheit allein gelassen. Das Krankheitswissen stützt sich somit mehr auf Informationen aus dem Internet, Bekannten sowie Verwandten. Diese Klagen über mangelnde Information und Kommunikation betreffen in gleicher Weise auch den stationären Sektor.
In der Subkategorie Arzt-Patient Verhältnis beklagten viele Teilnehmer ihre Unzufriedenheit bezüglich der hierarchischen und autoritären Beziehung zwischen Ärzten und Patienten. Dabei werden die Probleme der Patienten oft nicht wahrgenommen (fehlende Akzeptanz und Empathie) und Fragen der Patienten werden häufig nicht beantwortet. Außerdem werden die Patienten in eine Entscheidungsfindung kaum einbezogen. Sie wird einerseits durch fehlende Bedenkenzeit für die Mitbestimmungen beeinflusst und durch die als rücksichtslos empfundene Verwendung der medizinischen Fachausdrücke und den Eindruck einer autoritären Beziehung verstärkt.
Die Parkinson-Patienten weisen in der Subkategorie Wartezeit darauf hin, dass ein Termin beim Neurologen bei der hausärztlichen Überweisung nach 12-13 Wochen zu erhalten ist. Ein zeitnaher Termin und die ggf. notwendige Umstellung der Behandlung ist besonders in ländlichen Regionen oder am Quartalsende eine Hürde für die Parkinson-Patienten.
In der Subkategorie Interdisziplinäre Arbeit wird die fehlende Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen den Akteuren beklagt. Das betrifft die Absetzung oder Umstellung von AM beim Wechsel des Versorgungssektors und die Kommunikation zwischen verschiedenen Fachärzten.

Kategorie Politik und makroökonomische Organisation
Die Kategorie Politik und makroökonomische Organisation umfasst 15 Nennungen in den beiden Subkategorien Zugang und Rahmenbedienungen.
In der Subkategorie Zugang bezieht sich der Kritikpunkt auf die fehlende flächendeckende Versorgung im deutschen Gesundheitswesen (n = 10). Den Betroffenen fehlt zum einen ein zentraler Ansprechpartner bzw. eine kontinuierliche Anlaufstelle vor Ort, zum anderen eine kontinuierliche Betreuung ab Diagnosestellung. Die Betroffenen beklagen eine unzureichende Information über den Umgang mit der Diagnose und Krankheit sowie zuverlässige Informationen zu klinischen (z.B. Rehabilitationsmaßnahmen, Krankheitskenntnisse), sozialen (z.B. soziale Leistungen) und finanziellen (z.B. finanzielle Absicherung) Themen, die letztlich eine erhebliche emotionale Belastung bedingten.
Informationsbedarf bestünde insbesondere im fortgeschrittenen Stadium durch Zunahme des Bedarfs an Hilfsmitteln, Informationen über Rehabilitationsmaßnahmen (z.B. Ergotherapie und Logopädie) bzw. andere Behandlungsalternativen. Weiterhin fehlt den Parkinson-Patienten die Bedarfseinschätzung der Rehabilitationsmaßnahmen und ein unregelmäßiges Symptommanagement. Die Patienten fühlen sich wegen der großen Anzahl der AM überfordert und tendieren zu Einnahmefehlern. So berichteten drei Parkinson-Patienten, sie haben bei Dyskinesien die Dosis der L-Dopa Therapie verringert, anstatt sie zu erhöhen. Die Problematik der nicht am Ort befindlichen Spezialisten betrifft insbesondere die Patienten mit Mobilitätseinschränkungen und kognitive Einschränkungen in fortgeschrittenen Stadien der Krankheit bzw. alleinlebende Patienten. Dieser Sachverhalt wird durch fehlende Telefonkontaktstellen und Notdiensten am Wochenende bzw. Feiertagen maximiert. Somit fühlen sich über drei Viertel der Patienten auf dem Land allein gelassen.
In der Subkategorie Rahmenbedingungen beklagen sich die GKV-Patienten über ihre Vernachlässigung gegenüber PKV-Patienten. So sind aus Sicht der GKV-Patienten PKV-Patienten bei der Terminvergabe bevorzugt, und wegen längerer Wartezeit in der Praxis benachteiligt.  Außerdem sind die PKV-Patienten im Gegensatz zu GKV-Patienten mit dem Ausmaß der Gesundheitsleistungen zufriedener. „Als Privatversicherter hat man das Gefühl, dass man mehr Leistungen als ein Kassenpatient bekommt“, sagt ein PKV-Patient. Ebenfalls äußern die PKV-Patienten, im Gegensatz zu GKV-Patienten, ihre allgemeine Zufriedenheit in Bezug auf eine Arzt-Patient Gesprächsdauer und ärztliche Beratungen. An unserer Studie haben zwei PKV-Patienten teilgenommen.

Kategorie Pflege
Die Hauptkategorie Pflegerische Versorgung unterteilt sich in die Subkategorien Leistungsniveau und Kommunikation.
Hier bildet die Subkategorie Leistungsniveau die größte Lücke in der pflegerischen Versorgung. Innerhalb dieser Subkategorie äußern die Befragten Unzufriedenheit hinsichtlich der AM-Verwaltung durch das Pflegepersonal. So geben die Befragten an, dass das Pflegepersonal den zeitlich exakt einzuhaltenden Therapieplan bei Morbus Parkinson nicht kennt und deshalb nicht berücksichtigt: „Die verzögerte Gabe der Medikamente löst motorische Bewegungsstörungen aus“, berichten die Betroffenen. Vier Patienten beklagten dieses Problem bei einem Krankenhausaufenthalt.
Es wurde auch beklagt, dass die zeitgerechte Einnahme der AM vom Pflegepersonal nicht überprüft wird, falls der Patient vergisst die AM rechtzeitig einzunehmen.  
In der Subkategorie Kommunikation beklagen die Patienten die fehlende Fähigkeit des Pflegepersonals mit den Parkinson-Patienten umzugehen. Hier wird mangelnder Respekt und mangelndes Verständnis für die Bedürfnisse von Parkinson-Patienten hervorgehoben.

Kategorie Rehabilitation
Die rehabilitative Versorgung schließt die Subkategorien Leis-tungsniveau und Leistungsdichte ein. Es wurde beklagt, dass die Anzahl der Verordnung von Krankengymnastik und Logopädie entweder nur auf Nachfrage erhöht oder von den Ärzten nicht thematisiert wird. Bevorzugt würden AM verordnet. Reha-Maßnahmen werden zudem häufig von den Krankenkassen abgelehnt. Eine Bedarfsermittlung für Rehabilitation erfolgt im Laufe der Krankheit nicht.
Die Dauer der Rehabilitation sei aus Sicht der Patienten zu kurz, um nützlich zu sein. Zudem kritisieren die Patienten, dass das Rehabilitationspersonal über wenige krankheitsspezifische Kenntnisse und entsprechende Erfahrung verfügten. Diese äußert sich in einer unpassenden Gestaltung der Rehabilitationsprogramme.
In der Subkategorie Leistungsdichte fehlen ambulante Rehabilitationsangebote vor Ort. Demgemäß fehlen Nachsorgemaßnahmen bzw. die ambulante Rehabilitation nach der kurzen stationären Rehabilitation von 2-3 Wochen. Insbesondere leiden darunter nicht-mobile Patienten und Patienten mit Gedächtnisstörungen. „Ich habe die Übungen, die ich zu Hause regelmäßig machen sollte, nach der Entlassung mit der Zeit vergessen“, berichten einige Patienten.

Spezifität der Nennungen für Morbus Parkinson
Durch den Vergleich der Nennungen im Parkinson-Projekt mit den Nennungen in den analog durchgeführten Projekten zu vier anderen Gesundheitsproblemen, konnte die Krankheitsspezifität der Aussagen geprüft werden.
Als krankheitsspezifisch wurden in der Kategorie AM von uns die Probleme eingestuft, die im Rahmen der Umstellungen von Originalpräparaten auf Generika oder von einem Generikum auf ein anderes Generikum berichtet wurden. Diese Probleme betrafen die unzureichende Kontrolle von Krankheitssymptomen und das erhöhte Risiko von Verwechslungen nach Wechsel des Herstellers. Die fehlende Teilbarkeit, die Schwierigkeit, große Tabletten zu schlucken (Schluckstörungen) und die Einhaltung der zeitabhängigen Einnahme der AM wurden ebenfalls als krankheitsspezifische Probleme bewertet. Mehrfach wurde beklagt, dass  kostengünstigere Generika weniger wirksam seien als die Originale, weshalb die Umstellungen der AM den Patienten häufig nicht plausibel erschienen. Das „routinemäßige“ Absetzen einer ausgewogenen Therapie beim Wechsel der sektoralen Versorgung scheint eines der bedeutendsten Probleme zu sein, weil die Unkenntnis der Parkinsonkrankheit, der Pharmakologie und des Umgangs mit unbekannten Gesundheitsproblemen sich gegenseitig potenzieren können. Auch die Einladung von Parkinson-Patienten zur Teilnahme an klinischen Studien stellt erhöhte Anforderungen an die Kommunikation mit den Patienten. Die Patienten müssen den Eindruck gewinnen, dass der einladende Arzt umfassend über alle Risiken informiert ist, welchen die Patienten bei Zustimmung zur Studie ausgesetzt sind und im Zweifelsfall auftretende Probleme für den Patienten lösen kann.
In der Kategorie Medizinische Versorgung stellt die oft langwierige Diagnosestellung eines der großen Probleme dar. Die Vermeidung der Fehldiagnosen, die mit einer unzureichenden Kontrolle der Symptome assoziiert ist, und die Gewährung des ärztlichen Betreuungsbedarfs, der bei Morbus Parkinson offensichtlich besteht, wären ein erstrebenswerter Fortschritt.
Probleme, die in anderen Kategorien genannt wurden, waren nicht unbedeutend, aber nicht für Parkinson spezifisch, so dass sie auch bei anderen Erkrankungen genannt wurden.


Lösungsvorschläge zur Problemlösung
Naheliegende Lösungsvorschläge sollten sich realisieren lassen zur Teilbarkeit von Tabletten und zur einheitlichen Farb- und/oder Formgebung von identischen Wirkstoffen. Alle Patienten mit Morbus Parkinson sollten einen Ausweis mit Warnsignal bekommen, der auf die Risiken eines Wechsels der Medikation und des exakten Zeitplans hinweist und den Behandlern anderer Fachgruppen vorgelegt werden kann. Diese Ausweise sind bei der Deutschen Parkinson Vereinigung und bei Pharmaunternehmen bereits erhältlich. Dieser Ausweis sollte auch die Kontaktdaten der Ärzte beinhalten, von welchen im Zweifelsfall Rückfragen beantwortet werden können. Dieser Ausweis könnte auch vorgelegt werden, wenn das Personal anderer Fachrichtungen mit den Risiken der Parkinson Erkrankung und deren Management nicht vertraut zu sein scheint. Die Gespräche zur Durchführung klinischer Studien an Parkinson Patienten sollten nur von Ärzten geführt werden, die über die erforderliche klinische Erfahrung bei diesem Krankheitsbild verfügen und diesen Eindruck den Patienten auch vermitteln können.
Ein nicht einfach zu lösendes Problem betrifft die Intensität des ärztlichen Betreuungsbedarfs dieser Patienten: Die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung bietet hilfreiche Optionen an, die auf ihre Effizienz geprüft werden können.

Diskussion

Das hier vorgestellte Projekt beschreibt eine Methode, mit der vorteilhafte Aspekte aber auch Defizite bei der Versorgung von Patienten aus den Perspektiven der Patienten und ihrer Angehörigen dargestellt werden können. Diese Informationen sind hilfreich bei der Optimierung von Strukturen und Prozessen, weil sie weniger die erwarteten als vielmehr die tatsächlich auftretenden Versorgungseffekte reflektieren.
Durch die Anwendung dieser Methode an verschiedenen Patientengruppen lassen sich krankheitsspezifische von unspezifischen Aspekten identifizieren. Die Identifizierung dieser krankheitsspezifischen Versorgungsaspekte ist für eine optimale Gestaltung der Versorgung hilfreich. Die Gruppenbefragung ist methodisch dem Einzelinterview bezüglich der Verlässlichkeit der Aussagen überlegen (Flick 2009; Gelbrich 2007; Lamnek/Krell 2010; Hurkas et al. 2000).
Die empirische Analyse eignet sich zur Beschreibung der Ergebnisse (outcomes) von komplexen Versorgungsstrukturen, z.B. eines digitalisierten Operationssaals oder einer klinischen Versorgungsstrategie, bei welchen der Nachweis der efficacy und effectiveness nicht möglich ist.
Die bisher üblichen Verfahren ermöglichen bei komplexen Interventionen in den meisten Fällen keine verlässlichen Vergleiche, weil eine zufällige oder stratifizierte Zuordnung der Patienten zu verschiedenen  komplexen Interventionen kaum umsetzbar ist. Eine Klinik wird nur selten Operationen unter digitalisierten oder konventionellen Operationsbedingungen anbieten können. Unterschiedliche Versorgungsstrategien, z.B. operative oder konservative Therapie derselben Erkrankung, werden an vielen Kliniken zwar in verschiedenen Abteilungen angeboten, sind aber nur in Ausnahmefällen randomisiert anwendbar.
Diese Einschränkung stellt letztlich keinen wesentlichen Nachteil der empirischen Analyse dar, weil letztlich die Entscheidung, eine Gesundheitsleistung solidarisch zu finanzieren, nicht anhand evidenzbasierter oder empirischer Daten, sondern anhand subjektiver Wertvorstellungen getroffen werden (Gray 2004). Empirische Daten eignen sich, um die eigenen Wertvorstellungen zum Ausdruck zu bringen und um die Wertvorstellungen der Entscheidungsträger zu beeinflussen.
Die Ergebnisse unseres Projekts bestätigen die Machbarkeit der empirischen Erhebung. Der Umfang des Projekts ist für repräsentative Aussagen aber nicht ausreichend. Die neuen Methoden der Telematik im Gesundheitssystem, die es ermöglichen große Datenmengen zu erhalten bieten durch die Auswertung nach dem Prinzip der Schwarmintelligenz (Prelec et al. 2017) neue Chancen, des Erkenntnisgewinns. <<

Ausgabe 02 / 2017

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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