Ein Einstieg in die Versorgungsstruktur der Zukunft
http://doi.org/10.24945/MVF.02.17.1866-0533.2009
>> Für die Gesundheitspolitik der kommenden Legislaturperiode ist die Notfallversorgung der maßgebliche Berührungspunkt zwischen der vertragsärztlichen Versorgung und der stationären Versorgung. Hier besteht nicht nur der größte Handlungsbedarf. An dieser Stelle wird auch über die künftigen Versorgungsstrukturen in Deutschland entschieden. Politik muss jetzt kluge Entscheidungen treffen. Notwendig sind
a) der Ausbau wirklich ambulanter Versorgungsstrukturen,
b) die Konzentration der Krankenhausambulanzen insbesondere in den Ballungsräumen und
c) eine damit verbundene Bereinigung verzichtbarer stationärer Versorgungskapazitäten.
Warum besteht dringender Handlungsbedarf? Nicht nur weil Krankenhäuser auf eine bessere Vergütung der ambulant in Notfallambulanzen behandelten Patienten drängen. Das eigentliche Problem ist die stetig steigende Direktinanspruchnahme der Ambulanzen durch Versicherte. Dieses Phänomen kann nicht allein auf Defizite der vertragsärztlichen Versorgung zurückgeführt werden. Ein Blick in die internationale Literatur zeigt: Das Problem besteht in allen Industrieländern; überall werden Maßnahmen zur Senkung der Direktinanspruchnahme von Krankenhäusern ergriffen.1 Australien versucht es mit humorvollen Filmen zum Titel „Keep Emergencies for Emergencies“ und Selbst-Ersteinschätzung per Internet. In Schweden ist der neu gebaute Standort des renommierten Karolinska Krankenhauses für Patienten zu Fuß gar nicht mehr erreichbar. Notfallambulanzen sollen nicht durch Bagatellfälle „verstopft“ werden. Außerdem erweisen sich die Notfallambulanzen als Weg zur Belegung eigentlich verzichtbarer stationärer Krankenhausstrukturen und verhindern damit einen notwendigen Strukturwandel.
Trotz demografischer Alterung der Bevölkerung gehen in Deutschland die Krankenhausfälle aufgrund ärztlicher Einweisungen seit Jahren kontinuierlich zurück. Dies ist Ausdruck des medizinischen Fortschritts, durch den die Möglichkeiten ambulanter Behandlung kontinuierlich steigen. Gemäß DRG-Statistik lag die Fallzahl 2015 (8,9 Mio.) rund 5% niedriger als 2009 (9,4 Mio.). Die Fälle mit Aufnahmekennzeichen Notfall sind im gleichen Zeitraum um 27% gestiegen und tragen zu einem Anstieg aller Krankenhausfälle um 9% bei. Im gleichen Zeitraum sank der Anteil der Krankenhausfälle mit ärztlicher Einweisung von 55% auf 48%. Besonders hoch ist die Direktinanspruchnahme standardisiert nach Alter und Geschlecht in den Ballungsräumen, also dort, wo auch eine gute vertragsärztliche Versorgungsstruktur existiert. Es sind vor allem die jüngeren Versicherten, die zu einer Direktinanspruchnahme neigen. Insofern unterschiedet sich auch das Diagnosenspektrum der ambulant in Krankenhausambulanzen behandelten Patienten vom dem des vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst. Im ersteren Fall überwiegen Infektionen, Verletzungen, Schmerzen, im zweiten chronische Krankheiten. Besonders stark (14%) stieg die Direktinanspruchnahme für die ambulante Behandlung im Jahr 2013 -– nach dem Wegfall der Praxisgebühr. Dies alles deutet auf eine veränderte Anspruchshaltung hin, für die Befragungen der Patienten in Notaufnahmen weitere Belege liefern.2 Erwartet wird eine schnelle, interdisziplinäre Behandlung zu jeder Uhrzeit, nach Möglichkeit an einem Ort. Die Werbung vieler Krankenhäuser für ihre Notfallambulanzen greift dies auf und fällt offenbar auf fruchtbaren Boden.
Aber: Soll diese Entwicklung politisch noch gefördert werden? Wie IGES dargestellt hat, weisen gerade die Ballungsräume bei weit fortgeschrittener Substitution von Krankenhausbehandlungen durch ärztliche Behandlungen die höchsten Anteile grundsätzlich vermeidbarer Krankenhausfälle nach Aufnahme über die Notaufnahmen auf.3 Die Aufnahmehäufigkeiten werden letztlich durch die verfügbare Bettendichte erklärt. Schon 2012 riet der Sachverständigenrat Gesundheit deshalb, alle Maßnahmen zur Reduzierung der vermeidbarer Krankenhausaufnahmen zu ergreifen. Er schätzte das Potenzial dafür auf rund 40% aller Fälle und sah in der notwendigen Strukturanpassung die notwendige Effizienzreserve, um die demografische Entwicklung für die Beitragszahler verträglicher zu gestalten.
In der kommenden Legislaturperiode beginnt die Ruhestandswelle der Baby-Boomer. Höchste Zeit also für den notwendigen Strukturwandel. Hierbei ist zu beachten, dass die Auslastung der Krankenhausambulanzen – trotz der steigenden Inanspruchnahme – immer noch vergleichsweise gering ist. Die bundesweiten Abrechnungsdaten für die in Notfallambulanzen ambulant behandelten Fälle in 2015 zeigen eine mittlere Auslastung von 0,8 Patienten pro Haus und Stunde. Eine aktuelle Auswertung zum dritten Quartal 2016 in Hessen (vgl. Tab.) offenbart, dass die Ambulanzen in ländlichen Räumen unter diesem Mittelwert liegen. Aber selbst in den Großstädten – während der Praxisöffnungszeiten – erreichen die Ambulanzen im Schnitt nur eine Auslastung von 1,6 Patienten pro Stunde. Das bedeutet, dass nur zu den Spitzenzeiten, wenn auch Praxen geöffnet haben, im Schnitt etwa 4 Patienten pro Stunde ambulant behandelt werden. Alle diese Ambulanzen offen zu halten, erzwingt nicht nur enorme Vorhaltekosten, wie das Gutachten der DGINA aus 2015 dargelegt. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft fordert auf dieser Basis eine Deckung der Vorhaltekosten, wobei vernachlässigt wird, dass die Krankenhäuser dafür bereits mit jedem Krankenhausfall eine pauschale Abgeltung erhalten. Prof. Günter Neubauer hat im Dezember 2016 nachgewiesen, dass die bisherigen Vergütungssätze vor diesem Hintergrund bereits ausreichen würden.4
Das eigentliche Problem ist die geringe mittlere Auslastung. Sie erhöht den finanziellen Druck Patienten aufzunehmen, denn mit der stationären Behandlung kann leicht das 30 bis 50-fache einer ambulanten Behandlung verdient werden. Sie erschwert auch die Vorschaltung von Portalpraxen zur Behandlung der einfacheren Fälle. Eine gut ausgestattete Portalpraxis ist ökonomisch erst bei einer Auslastung ab ca. 5 Patienten pro Stunde sinnvoll. Gerade in den Ballungsräumen, wo derzeit 30 und mehr Krankenhäuser binnen 30 Minuten Fahrzeit existieren, wäre eine entsprechende Konzentration der Anlaufstellen problemlos möglich. Ein Beispiel ist das Unfallkrankenhaus Berlin. Dort wurden nach Abrechnungsdaten der KV Berlin im dritten Quartal 2016 im Mittel 6 Patienten pro Stunde in der Ambulanz behandelt, rund 3 Patienten pro Stunde in der neu eingerichteten Portalpraxis. Zuzüglich der Vergütungen für Diagnostik kommt das Krankenhaus damit auf den Umsatz einer mittleren Haus- oder Facharztpraxis. Die gemeinsam behandelten Patientenzahlen sind aber insbesondere bei Ausbau der Portalpraxis noch steigerungsfähig. Auch die Notwendigkeit einer zutreffenden schnellen Ersteinschätzung durch nicht-ärztliches Personal erfordert Übung und Routine und spricht für eine Konzentration der Notfallambulanzen. Damit würde die Qualität der Notfallversorgung insgesamt deutlich gesteigert.5 Dass dies notwendig ist, zeigt eine Analyse von Prof. Busse zur Sterblichkeit bei Herzinfarkten in Berlin.6
Wie könnte eine Lösung aussehen? Die Kassenärztlichen Vereinigungen etablieren eine telefonische Ersteinschätzung, die rund um die Uhr erreichbar ist und die Patienten an den richtigen Behandlungsort delegiert. Bereitschaftspraxen werden – auch zu den Praxisöffnungszeiten – an den Standorten zentraler Notfallambulanzen eingerichtet und übernehmen dort rund 50% der Patienten gemäß Ersteinschätzung. Die Krankenkassen werden verpflichtet, die prospektiven Mengenvereinbarungen je Krankenhaus danach auszurichten, welche alternativen ambulanten und stationären Versorgungsangebote vor Ort existieren, und wo erforderliche Mindestmengen erbracht werden. Stationäre Kapazitäten, die nach diesem Strukturwandel erforderlich sind, werden binnen 5 Jahren abgebaut. In ländlichen Regionen würden kleine Krankenhausstandorte durch ambulante Versorgungszentren ergänzt. Insgesamt würde die Zahl der Krankenhäuser etwa halbiert werden können. Folgt man dem jüngsten Krankenhaus-Report der AOK, wäre dies mit Blick auf die Personalsituation und die Versorgungsqualität kein Fehler. <<
Literatur
1. Van den Heede K, van den Voorde C (2016) Interventions to reduce emergency department utilisation: A review of reviews. Health Policy 120; 12: 1337–1349
2. Schmiedhofer, M et al (2016) Patient motives behind low-acuity visits to the emergency department in Germany. BMJ Open. 2016 Nov 16;6(11)
3. Albrecht M et al (2016) Ambulantes Potenzial in der stationären Notfallversorgung; IGES Berlin
4. Neubauer G (2016) Kritische Analyse des „Gutachten zur ambulanten Notfallversorgung im Krankenhaus-Fallkostenkalkulation und Strukturanalyse“; IfG München
5. Geissler A et al (2017) Umgestaltung der Notfallversorgung. In: Klauber J et al (Hg.) Krankenhaus-Report 2017, Stuttgart: 41-59
6. Busse R (2015) Wie sollte die Notfallversorgung in Berlin und Brandenburg aussehen? https://www.mig.tu-berlin.de/fileadmin/a38331600/2015.lectures/Potsdam_2015.11.11.bw-Notfallversorgung2030.pdf
Titationshinweis: doi:10.24945/MVF.02.17.1866-0533.2009