Neue Antidiabetika: Zusatznutzen für die Versorgung?
http://doi.org/10.24945/MVF.01.17.1866-0533.1994
>> In Deutschland leiden etwa 7 Prozent der erwachsenen Bevölkerung unter Diabetes mellitus. Die Prävalenz liegt bei Personen bis 59 Jahren noch deutlich unter diesem Wert und steigt mit zunehmendem Alter an: In der Gruppe der 70 bis 79-Jährigen ist mehr als jeder fünfte betroffen (vgl. Ergebnisse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland 2013). Bei der chronischen Stoffwechselerkrankung kommt es infolge eines Insulinmangels zu erhöhten Blutzuckerkonzentrationen. Beim Typ-1-Diabetes, der überwiegend im Kindes- und Jugendalter auftritt, liegt ein absoluter Insulinmangel vor. Diese Form der Erkrankung wird durch eine regelmäßige Insulingabe behandelt. Zum Typ-2-Diabetes zählen Stoffwechselerkrankungen, die aufgrund von Störungen der Insulinsekretion oder -wirkung zu einem relativen Mangel des Hormons führen.
Die aktuelle S3-Leitlinie zur Therapie des Typ-2-Diabetes sieht als Basistherapie Ernährungsschulungen, Steigerung der körperlichen Aktivität sowie die Verringerung weiterer Risikofaktoren wie beispielsweise Tabakkonsum vor. Kann der Blutzuckerspiegel durch diese Maßnahmen nicht ausreichend gesenkt werden, erfolgt eine medikamentöse Behandlung, die ebenfalls eine Insulintherapie einschließen kann.
Diabetes-Versorgung in der GKV
Die Pharmakotherapie des Diabetes mellitus ist abhängig von Art und Schwere der Erkrankung und wird vom Arzt individuell auf jeden Patienten abgestimmt. Für den Typ-2-Diabetes stehen neben der Insulintherapie unter anderem folgende orale oder subkutane Antidiabetika als Behandlungsoptionen zur Verfügung: Das Standardtherapeutikum Metformin steigert die Insulinempfindlichkeit der Zellen, sodass mehr Zucker aus dem Blut aufgenommen werden kann. Wie Abbildung 1 zeigt, entfallen 30,1 Prozent aller GKV-Verordnungen für Antidiabetika auf diesen Wirkstoff. Zwei Drittel der Metformin-Patienten kontrollieren ihren Blutzuckerspiegel ausschließlich mit diesem Antidiabetikum. Falls Metformin aufgrund einer Unverträglichkeit oder Kontraindikation nicht verordnet werden kann oder es nicht ausreicht, die Erkrankung mithilfe des Biguanid-Antidiabetikums zu behandeln, sieht die S3-Leitlinie eine Therapie mit Insulinen und/oder anderen Antidiabetika vor. Die Insuline haben dabei mit 41,1 Prozent der Verordnungen in diesem Markt eine hohe Relevanz im Versorgungsalltag. An dritter Stelle stehen mit 14,2 Prozent DPP-IV-Hemmer, die über eine direkte Wirkung auf die Betazellen der Bauchspeicheldrüse Insulin freisetzen (vgl. Diabetesinformationsdienst München, Marktanteile nach regio-MA, INSIGHT Health). Es handelt sich bei den verschiedenen Wirkstoffklassen zur Diabetestherapie in der Regel nicht um Alternativen, vielmehr ergänzen sie sich in der Behandlung. So bekommen 14,7 Prozent der GKV-Patienten, die im MAT 11 2016 Metformin erhalten, auch eine Insulin-Verordnung und bei 11,7 Prozent wird die Metformin-Therapie mit einem DPP-IV-Hemmer ergänzt (Quelle: Patient INSIGHTS, INSIGHT Health).
Zusatznutzen
neuer Antidiabetika
Seit der Einführung der Nutzenbewertung nach § 35a SGB V in 2011 wurden 30 der 229 Bewertungsverfahren für Wirkstoffe zur Diabetes-Therapie abgeschlossen (Stand 03. Januar 2017). Somit entfiel jede 8. G-BA-Nutzenbewertung auf ein Antidiabetikum und es wurden 11 innovative Wirkstoffe sowie 7 Wirkstoffkombinationen auf dem deutschen Markt zugelassen (vgl. Abbildung 2). Das beste Ergebnis verzeichnet zurzeit Empagliflozin: Im September 2016 wird dem SGLT-2-Hemmer in der Neubewertung ein beträchtlicher Zusatznutzen für vier Patientengruppen zugesprochen. Dem DPP-IV-Hemmer Sitagliptin sowie den GLP-1-Agonisten Albiglutid und Dulaglutid attestiert der G-BA einen geringen Zusatznutzen, während alle anderen Wirkstoffe und Kombinationen ohne Zusatznutzen aus dem Bewertungsverfahren gehen. Infolge haben einige der Hersteller einen Opt-out gewählt, sodass Linagliptin, Canagliflozin (+ Metformin) sowie die Kombination aus Empagliflozin und Metformin nicht länger auf dem deutschen Markt verfügbar sind.
Marktdynamik der neuen
Antidiabetika
Mit 17,8 Prozent entfällt im MAT 11 2016 jede 6. GKV-Verordnung für Antidiabetika auf die innovativen Therapeutika mit Nutzenbewertung. Mit 7 von 10 Verordnungen in dieser Gruppe wird die Therapie mit Sitagliptin sowie dessen Kombinationspräparat mit Metformin besonders häufig gewählt. Nach Abschluss der Neubewertung im Dezember 2016 attestierte der G-BA wiederholt einen geringen Zusatznutzen für das Monopräparat, während die Kombination mit Metformin in der Neubewertung für keine Patientengruppe einen Zusatznutzen erhielt. Damit fand scheinbar der geringe Zusatznutzen von Sitagliptin - zeitweise das beste Ergebnis bei neuen Antidiabetika - bei der ärztlichen Verordnung Berücksichtigung. Ob der mit beträchtlichem Zusatznutzen bewertete SGLT-2-Hemmer Empagliflozin bei der Verordnungsentscheidung zukünftig ähnlich berücksichtigt wird und damit sein Marktwachstum ausbauen kann, bleibt zu beobachten.
Es überrascht nicht, dass der Preis für die neuen Wirkstoffe deutlich über dem Niveau der generischen Standardtherapie liegt. Während der Apothekenverkaufspreis für das generische Metformin im November 2016 bei 0,24 Euro pro DDD (definierter Tagestherapiedosis) liegt, sind die patentgeschützten SGLT-2- und DPP-VI-Hemmer mit 1,30 Euro und 1,58 Euro pro DDD deutlich teurer. GLP-1-Agonisten kosten mit 3,34 Euro je DDD fast 14-mal so viel wie die Therapie mit Metformin (Quelle: regioMA, INSIGHT Health). Wie Abbildung 1 zeigt, unterscheiden sich dementsprechend die Anteile der GKV-Verordnungen deutlich von den zugehörigen Umsatzanteilen. Dabei weist besonders das Standardpräparat Metformin mit 1,9 Prozent einen sehr geringen Umsatzanteil auf, während auf alle neuen Antidiabetika mit Nutzenbewertung 31,7 Prozent der Umsätze entfallen (Umsatz nach ApU, Quelle: ODV, INSIGHT Health).
Wechselt die Betrachtung vom GKV- zum PKV-Markt, haben die Antidiabetika mit Nutzenbewertung deutlich stärkere Verordnungsanteile: Hier entfällt fast jede vierte Verordnung auf die neuen Präparate. Außerdem fällt auf, dass der Anteil an Insulinverordnungen bei Privatversicherten 26,8 Prozent unter dem GKV-Wert liegt. Stattdessen werden anteilig 6,9 Prozent mehr Metformin und 19,1 Prozent mehr DPP-IV-Hemmer verordnet. Über ein PVK-Rezept abgerechnet werden anteilig auch deutlich häufiger SGLT-2-Hemmer und GLP-1-Agonisten (Quelle: ODV, INSIGHT Health).
Ausblick
Neben medikamentösen Innovationen sorgen auch neue technische Möglichkeiten für Fortschritt in der Diabetes-Behandlung. So ermöglicht beispielsweise ein Versorgungsvertrag der AOK Nordost insulinpflichtigen Patienten ein digitales Diabetes Management: Gemessene Blutzuckerdaten und injizierte Insulineinheiten können unmittelbar in ein elektronisches Tagebuch übertragen werden und Patienten haben darüber hinaus die Möglichkeit, einen Arzt für den Zugriff auf ihre Datenbasis zu autorisieren. Neben der Implementierung von Projekten dieser Art in den Versorgungsalltag, wird versucht, die Entwicklung der Erkrankung in Deutschland und den aktuellen Versorgungsstand besser zu verstehen: Im Auftrag des Bundesministerium für Gesundheit erstellt das Robert Koch-Institut bis Ende 2019 eine epidemiologische Surveillance des Diabetes mellitus. Bereits verfügbare Daten werden zu einer umfassenden Gesundheitsberichterstattung zusammengeführt, um eine evidenzbasierte Beratung der Gesundheitspolitik zu ermöglichen. Erfasst und analysiert werden Kernindikatoren in vier Handlungsfeldern: Diabetes-Risiko reduzieren, Früherkennung und Behandlung verbessern, Komplikationen reduzieren und Krankheitslast und Kosten senken. Trotz der Vielzahl neuer Versorgungsprojekte und bestehender Versorgungsverträge steht die Pharmakotherapie des Diabetes mellitus für nahezu alle Patienten im Mittelpunkt der Behandlung. Aus diesem Grund zählen Patienten und Ärzte wohl auch weiter auf innovative Wirkstoffe, deren individuelle Ansatzpunkte das Spektrum bestehender Therapieoptionen erweitern. <<
Autorinnen:
Jana Heiler und Kathrin Pieloth*
Zitationshinweis: doi:10.24945/MVF.01.17.1866-0533.1994