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Diagnosen und Therapien psychogener Essstörungen in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern zwischen 2010 und 2016

06.12.2017 10:20
Unter psychogenen Essstörungen werden verschiedene Arten von Essstörungen subsummiert, die sich in ihren Symptomen unterscheiden. Zu den psychogenen Essstörungen zählen die Anorexia nervosa (AN), auch als „Magersucht“ bezeichnet. Neben der Bulimia nervosa (BN), auch „Bulimie“ oder „Ess-Brech-Sucht“, und der Binge-Eating-Störung (BES, auch „Esssucht“) gehört die AN zu den am meisten beforschten Formen von Essstörungen. Charakteristisch für psychogene Essstörungen sind – je nach Art der Essstörung – unterschiedliche Symptome (DGPM/DKPM 2010). Das Chronifizierungsrisiko bei Essstörungen ist hoch. Betroffene haben in der Regel mehrere Jahre mit der Erkrankung zu kämpfen, benötigen mehrere Behandlungsanläufe und die Symptomatik bleibt auch nach erfolgreicher Therapie teilweise weiter bestehen. Zudem wird davon ausgegangen, dass die meisten Betroffenen nicht im Gesundheitssystem auffallen und sich von denen, die es tun, wiederum nur ein Bruchteil in Behandlung begibt (Hoek 2006; DGPM/DKPM 2010; Smink 2016). Zudem gehen Essstörungen mit zahlreichen körperlichen Folgeerscheinungen einher. Das Risiko, chronische Schäden davonzutragen, ist dabei umso höher, je früher die Krankheit ausbricht (Holtkamp/Herpertz-Dahlmann 2005). Außerdem sind Sterbefälle aufgrund einer Essstörung häufig auf die körperlichen Folgeerscheinungen zurückzuführen. Insgesamt ist die Mortalität bei Essstörungen deutlich erhöht: bei Bulimie um den Faktor 1,9, bei Anorexie sogar um den Faktor 5,9 (Smink 2016).

http://doi.org/10.24945/MVF.02.18.1866-0533.2074

Abstract

Psychogene Essstörungen haben für Betroffene schwerwiegende Konsequenzen: Körperliche Folgeerkrankungen, eine erhöhte Mortalitätsrate sowie psychische Komorbiditäten kennzeichnen diese Erkrankungen. Ferner ist bei Essstörungen das generelle Funktionsniveau eingeschränkt, was sich unter anderem negativ auf die schulische und berufliche Laufbahn auswirken kann. Substanzielle gesellschaftliche Kosten entstehen infolge notwendiger Behandlungen und durch Produktivitätseinbußen. Auf Grundlage der anonymisierten Forschungsdatenbasis mit rund 750.000 Versicherten der AOK Nordost im Alter zwischen 6 und 54 Jahren wurde die Entwicklung diagnostizierter psychogener Essstörungen sowie deren Behandlung zwischen den Jahren 2010 und 2016 untersucht. Die Ergebnisse offenbaren eine starke Zunahme von Versicherten mit einer Essstörung, deutliche regionale Unterschiede sowie ein Stadt-Land-Gefälle hinsichtlich der diagnostizierten Essstörungen. Die Prävalenzrate liegt zwischen 1,1% in Berlin und 0,6% in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Zugleich ist der Anteil derer, die sich nach einer erstmals diagnostizierten Essstörung binnen dreier Jahre in Behandlung begeben mit 9% der Betroffenen sehr gering.

Development of diagnoses as well as therapies of eating disorders in northeastern Germany between 2010 and 2016
Eating disorders such as anorexia nervosa, bulimia nervosa and binge-eating disorder have severe implications for the affected persons. Diseases resulting from eating disorders, increased mortality rates as well as psychic co-morbidities are amongst them. Analysis of data of a major regional German statutory health insurance in Northeastern Germany indicates a substantial growth of eating disorder diagnoses between 2010 and 2016. The prevalence rate for people aged 6 to 54 years has grown up to 1.1% in Berlin, whereas it is 0.6% in the federal states of Brandenburg and Mecklenburg-West Pomerania. The analysis reveals a noticeable difference between urban and rural areas. Psychotherapy is seen as the only appropriate treatment in case of eating disorders. Nonetheless, only 9% of the patients with a newly diagnosed eating disorder have started an adequate therapy within three years beginning from diagnosis.

Keywords
AOK Nordost, GeWINO, care research, eating disorder, anorexia nervosa, bulimia nervosa, binge eating, psychotherapy

Dr. Jan Breitkreuz - Prof. Dr.-Ing. Thomas P. Zahn

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Zitationshinweis: Breitkreuz, J., Zahn, T.: „Diagnosen und Therapien psychogener Essstörungen in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern zwischen 2010 und 2016“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ 02/18, S. 52-56, doi: 10.24945/MVF.0218.1866-0533.2074

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Plain-Text:

Diagnosen und Therapien psychogener Essstörungen - Erhebung in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern zwischen 2010 und 2016

Unter psychogenen Essstörungen werden verschiedene Arten von Essstörungen subsummiert, die sich in ihren Symptomen unterscheiden. Zu den psychogenen Essstörungen zählen die Anorexia nervosa (AN), auch als „Magersucht“ bezeichnet. Neben der Bulimia nervosa (BN), auch „Bulimie“ oder „Ess-Brech-Sucht“, und der Binge-Eating-Störung (BES, auch „Esssucht“) gehört die AN zu den am meisten beforschten Formen von Essstörungen. Charakteristisch für psychogene Essstörungen sind – je nach Art der Essstörung – unterschiedliche Symptome (DGPM/DKPM 2010). Das Chronifizierungsrisiko bei Essstörungen ist hoch. Betroffene haben in der Regel mehrere Jahre mit der Erkrankung zu kämpfen, benötigen mehrere Behandlungsanläufe und die Symptomatik bleibt auch nach erfolgreicher Therapie teilweise weiter bestehen. Zudem wird davon ausgegangen, dass die meisten Betroffenen nicht im Gesundheitssystem auffallen und sich von denen, die es tun, wiederum nur ein Bruchteil in Behandlung begibt (Hoek 2006; DGPM/DKPM 2010; Smink 2016). Zudem gehen Essstörungen mit zahlreichen körperlichen Folgeerscheinungen einher. Das Risiko, chronische Schäden davonzutragen, ist dabei umso höher, je früher die Krankheit ausbricht (Holtkamp/Herpertz-Dahlmann 2005). Außerdem sind Sterbefälle aufgrund einer Essstörung häufig auf die körperlichen Folgeerscheinungen zurückzuführen. Insgesamt ist die Mortalität bei Essstörungen deutlich erhöht: bei Bulimie um den Faktor 1,9, bei Anorexie sogar um den Faktor 5,9 (Smink 2016).

>> Grundlage der Analysen ist die anonymisierte Forschungsdatenbasis mit rund 1,75 Millionen Versicherten der AOK Nordost. Die vorgestellten Ergebnisse erfassen die Entwicklung zwischen den Jahren 2010 und 2016. Alle Versicherten der AOK Nordost im Alter von 6 bis 54 Jahren, die innerhalb des betrachteten Jahres vollständig versichert waren und in den drei Bundesländern Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern lebten, wurden in die Analyse einbezogen. Im Jahr 2010 umfasst die Studienpopulation circa 722.000 Versicherte. Bis zum Jahr 2016 stieg sie auf circa 746.000 Versicherte an (vgl. Tab. 1). Als essgestört gelten alle Personen, bei denen im Analysejahr mindestens eine gesicherte ambulante oder eine stationäre Haupt- oder Nebendiagnose mit einem ICD-Code des Typs F50.x (F50.- Essstörungen) abgerechnet wurde.
Für die vorliegende Untersuchung wurden Subkategorien wie Anorexie und Bulimie nicht separat analysiert, sondern die ICD-10-Gruppe der Essstörungen als eine Kategorie betrachtet. Denn im Jahr 2016 machten Anorexie und Bulimie (inklusive der atypischen Formen) unter den Versicherten der AOK Nordost im Jahr 2016 nur einen kleinen Teil der Essstörungsdiagnosen aus: 15% unter den Minderjährigen und 28% unter den Erwachsenen. Über 60% (Erwachsene) beziehungsweise über 80% (Kinder und Jugendliche) der Diagnosen fielen dagegen in die unspezifischen Subkategorien „nicht näher bezeichnete Essstörungen“ sowie „Sonstige Essstörungen“. Dabei handelt es sich um ein für die klinische Praxis typisches Bild (Fairburn/Bohn 2005). Die große Zahl unspezifischer Diagnosen kommt zum einen dadurch zustande, dass die erste Anlaufstelle für die Betroffenen in der Regel Haus- oder Kinderärzte sind, die keine spezifischere Diagnostik durchführen. Zum anderen kommt es im Alltag nicht selten vor, dass nicht alle Diagnosekriterien erfüllt sind (Fairburn/Bohn 2005). Trotzdem liegt auch bei diesen Betroffenen eine klinisch relevante Störung des Essverhaltens vor, welche mit ähnlich schwerwiegenden körperlichen, seelischen und sozialen Beeinträchtigungen wie die „klassischen“ Diagnosen einhergehen kann (Herpertz-Dahlmann et al. 2008; Swanson et al. 2011). Ließe man sie in der Prävalenzbetrachtung außen vor, würde die epidemiologische Bedeutung von Essstörungen deutlich unterschätzt.
Essstörungen – Status Quo und
Entwicklungstendenzen
Im Jahr 2010 wurde in der Region Nordost bei 3.498 (0,48%) der 6- bis 54-jährigen Versicherten eine psychogene Essstörung diagnostiziert. Nur 6 Jahre später, im Jahr 2016, waren es bereits 6.133 (0,82%) Betroffene (vgl. Abb. 1). Das entspricht einer Zunahme von 71%. Es bestehen allerdings z.T. deutliche Unterschiede zwischen den Altersgruppen und Geschlechtern.

Prävalenzen nach Alter und Geschlecht
Wie Abbildung 2 zeigt, wurde 2016 unter Versicherten der AOK Nordost bei Frauen deutlich häufiger eine Essstörungsdiagnose gestellt. Insgesamt betrug die Prävalenz bei ihnen 1,32%, gegenüber 0,37% bei den Männern – unter weiblichen Versicherten wurde also mehr als dreimal so häufig eine klinische bedeutsame Essproblematik ärztlich dokumentiert, wie unter männlichen Versicherten. In Abbildung 2 sind zudem geschlechtsspezifische Veränderungen über die Altersklassen sichtbar. Ab dem 13. Lebensjahr stieg die Prävalenz bei den Frauen zunächst deutlich an, ist zwischen dem 18. und 34. Lebensjahr am höchsten und fällt anschließend wieder ab. Unter den Männern geht der Anteil der Essstörungsdiagnosen zwischen dem 13. und dem 34. Lebensjahr dagegen zurück und steigt danach wieder an. Allerdings liegt der Anteil diagnostizierter Essstörungen in allen Altersgruppen – mit Ausnahme der 6- bis 12-Jährigen – bei den Frauen deutlich über dem der Männer.
Im Gegensatz zu dem in der Literatur berichteten Erkrankungsgipfel zwischen circa 15 und 25 Jahren (Holtkamp/Herpertz-Dahlmann 2005; de Zwaan 2002) liegt dieser unter den unter AOK Nordost-Versicherten bei den Frauen damit circa zehn Jahre höher. Möglicherweise trifft in der Altersgruppe der 30- bis 34-Jährigen eine immer noch ausgeprägte Symptomatik auf eine höhere Krankheitseinsicht und Bereitschaft, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Denkbar ist auch, dass die körperlichen Langzeitfolgen von Essstörungen ab diesem Alter verstärkt spürbar werden, sodass Betroffene letztendlich zum Arzt gehen müssen.
Auffällig bei beiden Geschlechtern sind zudem die immer noch substantiellen Prävalenzen im mittleren Erwachsenenalter (vgl. Abbildung 2). In diesen Altersgruppen finden sich auch die stärksten Prävalenzzunahmen, wenn man die Veränderung in den letzten 6 Jahren betrachtet (vgl. Abbildung 3): Bei den 35- bis 54-Jährigen stieg der Anteil diagnostizierter Essstörungen zwischen 2010 und 2016 um 0,37% bis 0,50%. Dies entspricht einer Zunahme um den Faktor zwei bis drei. Unter den klassischen Risikoaltersgruppen der 13- bis 17-Jährigen und 18- bis 24-Jährigen betrug der Anstieg dagegen nur 0,31% beziehungsweise 0,35%.
Unter den Versicherten der AOK Nordost sind Essstörungen also nicht (mehr) nur ein Thema junger Menschen. Es könnte sich hierbei zum Teil um chronische Fälle handeln, die aufgrund einer gestiegenen Sensibilität und gesunkenen Stigmatisierung beim Thema Essstörungen in den vergangenen Jahrzehnten nun auch in höheren Altersgruppen ärztlich diagnostiziert werden. Dies würde eindrucksvoll zeigen, wie wichtig eine frühe Erkennung und Intervention sind.

Prävalenzen nach Region und Gemeindetyp
Routinedaten ermöglichen es, Prävalenzen aufgeschlüsselt nach regionaler Herkunft der Versicherten auszuwerten. Die so ermittelten regionalen Unterschiede können anschließend dazu genutzt werden, gezielt die Versorgungssituation in besonders stark betroffenen Regionen zu verbessern. Um eine Vergleichbarkeit der Regionen und Analysejahre herzustellen, wurden die Analysegruppen jeweils auf die Standardbevölkerung Deutschlands des Jahres 2011 im Alter zwischen 6 und 54 Jahren (Destatis 2014) direkt alters- und geschlechtsstandardisiert.
Wie Abbildung 4 veranschaulicht, lagen Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern sowohl 2010 als auch 2016 hinsichtlich der diagnostizierten Essstörungen etwa gleichauf. In Brandenburg stiegen diese im betrachteten Zeitraum von 0,40% auf 0,61%, in Mecklenburg-Vorpommern von 0,43% auf 0,59%. Bereits im Jahr 2010 lag die Prävalenz in Berlin (0,61%) circa um den Faktor 1,5 höher als in den anderen beiden Bundesländern. Zum Jahr 2016 stieg der Anteil in der Bundeshauptstadt um 0,5 Prozentpunkte auf 1,10% - damit liegt die Prävalenzrate in Berlin aktuell auf fast doppelt so hohem Niveau wie in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern.
Berlin nimmt damit eine Sonderstellung im Raum Nordost ein. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang zwischen dem Grad der Verstädterung und der Anzahl diagnostizierter Essstörungen, denn als einziges der drei betrachteten Bundesländer ist Berlin komplett städtisch. Um diesen Faktor näher zu untersuchen, wurden die Gemeinden in der Region Nordost auf Grundlage der Eurostat-Gemeindetypen daher weiter in ländliche, halbstädtische und städtische Gemeinden unterteilt und für die Analysejahre 2010 und 2016 gegenübergestellt (vgl. Abb. 5).
Tatsächlich zeigen sich, insbesondere für das Jahr 2016, tendenziell geringere Prävalenzen, je ländlicher die betrachtete Region (vgl. Abb. 5). Im halbstädtischen Raum ist die Wahrscheinlichkeit einer Essstörung gegenüber ländlichen Gebieten um den Faktor 1,3 erhöht, in städtischen sogar um den Faktor 2,1. Das höhere Risiko in städtischen Gemeinden ergibt sich nicht unwesentlich durch die hohe Prävalenz von Essstörungsdiagnosen in Berlin (vgl. Abb. 4) und dessen hohen Anteil an der städtischen Bevölkerung. Betrachtet man nur Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, ist das Risiko im städtischen gegenüber dem ländlichen Raum allerdings immer noch um den Faktor 1,5 höher.
Ein Stadt-Land-Gefälle zeigt sich auch auf Ebene der Berliner Stadtbezirke, kreisfreien Städte und Kreisregionen (vgl. Abbildung 6). Neben den Stadtbezirken Berlins gehören die Städte Schwerin, Cottbus, Rostock, Frankfurt (Oder) sowie Potsdam zu jenen Gebieten mit den höchsten Prävalenzraten (0,72% bis 0,92%). Die einzige nicht rein städtische Region, die ebenfalls in diesem Bereich lag, war der Landkreis Oberhavel (0,85%). Es folgen die Landkreise Barnim (0,70%), Dahme-Spreewald (0,70%) und Elbe-Elster (0,69%). Unter den Landkreisen gehören sie zu jenen Regionen mit den höchsten Prävalenzen, wobei drei dieser vier Landkreise wiederum direkt an Berlin grenzen und im berlinnahen Bereich räumlich mit der Stadt verflochten sind. So gesehen verwundet es nicht, dass die Landkreise mit den höchsten Prävalenzen fast ausnahmslos berlinnah sind.

Inanspruchnahme von Behandlungen
Die Bereitschaft, sich in Therapie zu begeben, ist eine große Hürde für Betroffene einer Essstörung. Der Beginn einer Behandlung bedeutet für sie, sich das eigene problematische Verhalten selbst einzugestehen, es vor anderen offenzulegen und sich mit den dahinterliegenden Gründen auseinanderzusetzen. Untersuchungen zeigen, dass jüngere Patienten eine höhere Chance auf Heilung beziehungsweise Besserung der Symptomatik aufweisen, eine lange andauernde Erkrankung dagegen zu einer schlechteren Prognose führt (Steinhausen 2002). Es ist also wichtig, Betroffene möglichst früh zu therapieren. Als Verfahren der ersten Wahl empfehlen die S3-Leitlinien sowohl im ambulanten als auch stationären Setting eine Behandlung im Rahmen der Richtlinienpsychotherapien (kognitive Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und analytische Psychotherapie) sowie, bei Kindern und Jugendlichen, das Einbeziehen der Familie. Im stationären Bereich sollten weitere Komponenten angeboten werden, wie Ernährungs-, Körper- und Ergotherapie.
Um die Therapiebereitschaft bei diagnostizierter Essstörung unter Versicherten der AOK Nordost zu erheben, wurden hier zunächst inzidente gesicherte ambulante sowie stationäre Haupt- oder Nebendiagnosen mit einem ICD-Code des Typs F50.x (F50.- Essstörungen) aus den Jahren 2012 bis 2014 identifiziert. Als inzident wurde eine Diagnose klassifiziert, wenn der/die Versicherte in einem Zeitraum von acht Quartalen vor dem Quartal der Diagnosevergabe keine andere ambulante beziehungsweise stationäre Haupt- oder Nebendiagnose des Bereichs Essstörungen erhalten hatte.
Anschließend wurde, ausgehend vom Quartal der Erstdiagnose, für einen Folgezeitraum von zwölf Quartalen (inklusive des Quartals der Erstdiagnose) ermittelt, ob eine Behandlung in Anspruch genommen wurde. Behandlungen wurden im ambulanten Bereich über die Gebührenordnungspositionen (GOPs) und im stationären Bereich über die Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) operationalisiert und mussten jeweils mit einer Essstörungsdiagnose assoziiert sein. Zudem wurden in der Analyse nur Versicherte berücksichtigt, die während der betrachteten 20 Quartale (acht Quartale vor sowie zwölf Quartale mit beziehungsweise nach Erstdiagnose) ununterbrochen bei der AOK Nordost versichert gewesen waren.
Die in der Literatur beschriebene niedrige Behandlungsquote (Hoek 2006) bei einer Essstörungsproblematik bestätigt sich auch unter Versicherten der AOK Nordost: Nur bei jeder elften der zwischen  2012 und 2014 vergebenen Erstdiagnosen wurde in einem Folgezeitraum von drei Jahren auch eine Behandlung abgerechnet. Dabei sinkt der Anteil derer, die sich in Behandlung begeben mit der verstrichenen Zeit seit der Erstdiagnose (vgl. Abbildung 7). Diese Analyse berücksichtigt für den ambulanten Bereich nur die antragspflichtigen Richtlinien-Psychotherapien, bei denen eine therapeutische Einheit (Einzel- oder Gruppentherapie) 50 Minuten umfasst. Werden auch nicht antragspflichtige psychotherapeutische Behandlungsleistungen einbezogen, lässt sich jeder sechste Betroffene behandeln. Angesichts des hohen Chronifizierungsrisikos und der Langzeitfolgen, welche mit einer Essstörung einhergehen, ist die niedrige Behandlungsquote besorgniserregend. Sie macht deutlich, wie wichtig die Suche nach Ansätzen zur Steigerung einer – möglichst frühen – Therapiebereitschaft ist und wie lange Wartezeiten auf Therapieplätze vermieden werden können.
Schlussfolgerungen und Maßnahmen
Die Prävalenz von psychogenen Essstörungen nahm unter Versicherten der AOK Nordost im Alter zwischen 6 und 54 Jahren zu – zwischen 2010 und 2016 stieg sie allein um 71%. Gleichzeitig begeben sich nur wenige Patienten in Behandlung. Zwar ist bisher wenig darüber bekannt, wie hoch die Spontanremissionsrate bei Essstörungen ist. Bei Betroffenen jedoch, die eine Therapie beginnen, dauert die Erkrankung in der Regel mehrere Jahre und ist von zahlreichen Rückschlägen gekennzeichnet (DGPM/DKPM 2010). Betroffene ohne Behandlung fallen möglicherweise erst Jahre später angesichts der Langzeitfolgen der Essstörung im Gesundheitssystem auf – das wäre eine denkbare Erklärung dafür, dass sich 2016 auch jenseits der „klassischen“ Risikoaltersgruppen noch substantielle Prävalenzraten fanden. Essstörungen gehen sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft mit deutlichen negativen Konsequenzen einher. Angesichts des Aufwärtstrends in den Fallzahlen wird diese Belastung in Zukunft wahrscheinlich noch steigen, es besteht daher dringender Handlungsbedarf.
Um zu verhindern, dass anfängliche Symptome sich zu einer manifesten Essstörung ausbilden oder gar chronisch werden, müssen gefährdete Personen zum einen frühzeitig erkannt werden. Zum anderen ist anschließend eine rasche Intervention notwendig. Die AOK Nordost hat sich beider Punkte angenommen und gemeinsam mit Experten wie dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, der Beratungsstelle Dick & Dünn und dem Startup Jourvie (Startup mit gleichnamiger App zur Unterstützung der Behandlung von Essstörungen ) als erste gesetzliche Krankenversicherung ein Versorgungsprogramm zur Früherkennung und Frühbehandlung von psychogenen Essstörungen im Kindes- und Jugendalter (7-17 Jahre) konzipiert. Dieses wird seit Januar 2018 vorerst in der Region Berlin umgesetzt. <<

Symptome bei Essstörungen

• Untergewicht bei AN, gemessen mittels des Body-Mass-Index bei Erwachsenen bzw. altersabhängigen Perzentilkurven bei Kindern. BES kann mit Übergewicht assoziiert sein.
• Von Gewicht und Figur geprägte Gedanken und Gefühle: Wieviel und was darf gegessen werden? Diese Gedanken beeinflussen das Handeln, Essanfälle oder  kompensatorisches Verhalten („Purging“) sind die Folge.
• Einschränkungen der Kalorienzufuhr
• Essanfälle, bei denen die Betroffenen die Kontrolle darüber verlieren, was und wieviel sie essen (BN und BES)
• Kompensatorisches (Purging-)Verhalten umfasst Maßnahmen, die dazu dienen, sich aufgenommener Kalorien oder Flüssigkeit möglichst rasch wieder zu entledigen. Dazu zählt selbstinduziertes Erbrechen ebenso wie exzessives Sporttreiben, der Missbrauch von Schilddrüsenhormonen zur Erhöhung des Grundumsatzes, Laxantien oder Diuretika. Auch das sogenannte Insulin-Purging, bei dem Patienten mit einem Typ-I-Diabetes mellitus sich bewusst kein Insulin spritzen, um die Glukoseaufnahme aus der Nahrung zu verhindern, gilt als kompensatorisches Verhalten.

ICD-Code des Typs F50.x

ICD-Codes des Typs F50.x (F50.- Essstörungen) schließen die folgenden ICD-10-Codes ein:
• F50.0 Anorexia nervosa
• F50.1 Atypische Anorexia nervosa
• F50.2 Bulimia nervosa
• F50.3 Atypische Bulimia nervosa
• F50.4 Essattacken bei anderen psychischen Störungen
• F50.5 Erbrechen bei anderen psychischen Störungen
• F50.8 Sonstige Essstörungen
• F50.9 Essstörungen, nicht näher bezeichnet

Ausgabe 02 / 2018

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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